BÜCHER Orlog In Südwest
Im Herbst 1904, acht Monate nach Ausbruch des Herero-Aufstands in Deutsch-Südwest, erhoben sich unter ihren Führern Hendrik Witboi und Jakob Morenga auch die Hottentotten wider die Oberherrlichkeit der Majestät im fernen Berlin. Sie hatten genug vom Regiment der Zivilisatoren, die ihnen mit der Nilpferdpeitsche Zucht und Ordnung einbleuten und zugleich das Land raubten.
Drei Jahre dauerte der legendäre Orlog unserer Groß- und Urgroßväter von der Schutztruppe gegen die »Kaffern«, dann waren Zehntausende samt Weibern und Kindern massakriert, die Überlebenden in die Wüste vertrieben, in Konzentrationslagern zusammengepfercht, zur Zwangsarbeit ausgehoben, und es herrschte wieder Ruhe an Kaiser Wilhelms »Platz an der Sonne«.
Kolonialgeschichte auf deutsch -- in einem Roman. gemischt aus Dokumenten und Fiktion, ruft der Münchner Autor Uwe Timm, 38. sie über Jahrzehnte des Vergessens hinweg in Erinnerung zurück und mit ihr die Frage, die sich kopfschüttelnd schon mancher Afrika-Historiker gestellt hat: Was, zum Teufel, hatten wir bloß in diesem Erdteil zu suchen?
Auch Timms trister Held Gottschalk, Veterinär bei der Schutztruppe. weiß das bald nicht mehr. Als Freiwilliger und mit schönsten Farmer-Träumen ist er nach Südwest gekommen, doch im Vernichtungskrieg gegen das »braune Gesindel«, diese fremden Wesen, deren »Friedfertigkeit« und »urkommunistische Formen ihres Zusammenlebens« er schätzenlernt, vergeht ihm rasch die ganze europäische Kolonisten-Euphorie.
Er flippt aus, er »verkaffert«; und als Trost und Verheißung an nächtlichen Lagerfeuern bleibt ihm einzig das Buch, das in seiner Satteltasche steckt -- es ist nachweislich 1904 in deutscher Übersetzung erschienen, ein Werk des russischen Anarchisten Kropotkin mit dem Titel »Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung«.
So reitet Gottschalk voll Erbarmen mit den geschundenen Kindern Afrikas durchs koloniale Panorama, ein Sonderling und viel zu früh geborener Entwicklungshelfer in imperialistischer Ära, dem nur eines vorzuwerfen ist: Er sieht in seiner anachronistischen Allüre einfach zu sehr nach einem Timmschen Dummy aus.
Aber Timm, der 1974 in einem »Heißen Sommer«-Roman die Jahre der großen Studentenunruhe beschwor, ist nun einmal ein besonders origineller Autor des lang vernachlässigten historischen Genres, das er in seinem »Morenga« wiederentdeckt hat. Vom alten »Ben Hur«- und »Quo vadis?«-Trick beispielsweise, durch den sich einst begeisterte Leser-Generationen in die Tiefe der Zeiten zurücktransportiert fühlten, hält er wenig, er wahrt eine höchst befremdliche Distanz.
Mit klagendem Pazifisten-Auge blickt er über ein Dreivierteljahrhundert hinweg in eine Vergangenheit, deren hybrider Geist ihm hoffentlich ewig fremd bleiben wird; mit dem zornigen Blick des in Unschuld Nachgeborenen fixiert er Geschichte, die sich ihm nur noch in Fragmenten, schemenhaft huschenden Gestalten und halbverwehten Spuren offenbart.
Dennoch, was immer sich auch gegen dieses Schwarz-Weiß-Epos von guten Hottentotten und böser Hunnen-Brut vorbringen läßt -- es gibt in ihm immerhin einige Kapitel, in denen sich Timm, fern vom Zorn und Eifer aller übrigen Rekonstruktions-Pusselei, unvermittelt als ironischer, sarkastischer Chronist entpuppt, etwa wenn er von den Pioniertagen verrückter Missionare und Branntweinhändler erzählt.
Und damit empfiehlt sich »Morenga« denn doch als lesenswertes Buch.