Overkill der guten Absichten
Thomas Gottschalk, Leicht-Redner der deutschen Fernsehunterhaltung, mischte sich in die Politik ein. In seiner vormitternächtlichen TV-Show »Gottschalk live« empfahl er, die Deutschen sollten statt der Lichterketten mal was anderes machen: »Hamburger Matrosen saufen für Asylbewerber.«
In einem anderen Medium fuhr Deutschlands umstrittenste Witwe ähnlich ketzerisches Wortgeschütz auf: Brigitte Seebacher-Brandt bezichtigte die Kerzenhalter-Gemeinschaft einer bedenkenlosen Emotionsduselei: »In der Gefühlskette, die mit der der Lichter einhergeht«, schrieb Seebacher-Brandt in der Frankfurter Allgemeinen, »ist das nazi-deutsche Erbe lebendige Gegenwart und das erste Glied, an dem alle weiteren hängen.«
Das war zwar bösartig. Denn die Organisatoren der Lichterketten in München und Hamburg, die in der Adventszeit Hunderttausende gegen Ausländerhaß auf die Straße brachten, hatten sehr wohl auf die Feuer-Symbolik der Nazi-Fackelzüge hingewiesen und um Verzicht auf alles großformatig Lodernde gebeten.
Doch die Attacken der neokonservativen Witwe und des Witzemachers artikulieren ein Unbehagen, das inzwischen viele bedächtigere Zeitgenossen plagt: Führt die Inflation von Goodwill-Veranstaltungen gegen Fremdenhaß und Neonazismus letztlich zur Diskreditierung der lobenswerten Absichten?
Wie viele Lichterketten, »Rock gegen Rechts«-Konzerte und »Aufruf zur Toleranz«-Galas verträgt der Mensch, bevor er abstumpft gegen all die hochmoralischen Grußbotschaften und wohlmeinenden Parolen?
Und schließlich: Was hat das Engagement der Künstler und Intellektuellen noch mit deren eigener Arbeit zu tun?
Die Veranstaltungsdichte belegt, daß die Welle des guten Willens noch ziemlich ungebrochen übers Land schwappt, Prominente vorneweg: *___Am Samstag vorletzter Woche demonstrierten in Wien 200 ____000 Menschen mit einem »Lichtermeer« aus Kerzen und ____anderen Leuchtkörpern gegen das fremdenfeindliche ____"Ausländer-Volksbegehren« des Nationalisten Jörg ____Haider. Allen voran ging ____der wirrköpfige Berufs-Pyromane Andre Heller und folgte ____auf dem Heldenplatz seiner Neigung zum schwülstigen ____Superlativ: »Wir erleben die größte friedliche ____Demonstration der Zweiten Republik.« *___Am Montag vergangener Woche spielte, im Rahmen einer ____Aktion »Kultur gegen Gewalt«, das Roma-Ensemble des ____"Pralipe Theaters« im Münchner Prinzregententheater. So ____konnte auch August Everding, der umtriebige Intendant ____am Hof des bayerischen Ministerpräsidenten, endlich ____politisch korrekte Flagge zeigen. Im Anschluß an das ____"Bluthochzeit«-Gastspiel zwängte sich Everding zwischen ____Regisseur und »Pralipe«-Chef auf die Bühne. *___Am Dienstag traten in der Frankfurter Festhalle ____Sportler und Musiker »mit Hand und Fuß gegen ____Fremdenhaß« an. Vor 8000 Zuschauern warfen ____Leichtathletik-Champs wie Heike Henkel und Carlo ____Thränhardt mit Basketbällen um sich, Katarina Witt ____kostümierte sich als Eishockey-Torfrau, und die ____Kölsch-Rocker von BAP dröhnten dazu.
Deren Vorsänger Wolfgang Niedecken allerdings äußerte laute Zweifel am Sinn des wohltätigen Schaulaufens: »Mit diesen Goodwill-Geschichten muß langsam Schluß sein«, forderte er in Anspielung auf die Bonner Asylgesetze: »Wir halten doch bloß als Alibi für die Politiker her.«
Ungehört blieb Niedeckens Satz in Hamburg, wo vergangenes Wochenende zu einer Antirassismus-Gala ins Thalia Theater geladen war. Neben profilierten Polit-Kämpfern des internationalen Kunstbetriebs wie Vanessa Redgrave, Günter Graß und Kris Kristofferson hatten sich auch bislang nicht politisch in Erscheinung getretene Stars wie der Filmschönling Richard Gere und der Wiener Nobelmime Helmut Lohner zur Friedensfeier bei Gesang und Gedicht-Rezitation angesagt. Motto des Abends: »Wir wollen nicht vergessen.«
An Bedeutung zu verlieren droht in diesem Overkill der guten Absichten, was Anlaß zum flächendeckenden Aktionismus war. So paßt es offenbar nicht mehr ins Medienbild vom neuen, freundlichen Deutschland, daß die Mordbrennereien der Rechtsradikalen keineswegs gestoppt sind.
In Duisburg ging am Dienstag vergangener Woche eine Asylbewerber-Unterkunft in Flammen auf, fünf Hausbewohner mußten verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden. Zeitungen und TV-Nachrichten war das nur noch eine kurze Meldung wert: Daß es sich um Brandstiftung handle, sei zwar offensichtlich; _(* Oben: Eiskunstläuferin Katarina Witt, ) _(Popgruppe Münchner Freiheit; unten: ) _(Rockkonzert in Frankfurt. ) doch für das Vorliegen einer politisch motivierten Straftat, so die Polizei, gebe es keine Hinweise.
Insgesamt, das scheinen offizielle Statistiken zu belegen, ist die Zahl ausländerfeindlicher Straftaten zurückgegangen, seit die lange schweigende Mehrheit sich artikuliert. Ob allerdings schon Grund zur Entwarnung besteht, ist fraglich.
Während noch im entlegensten Kaff der bundesdeutschen Provinz Kerzen entzündet werden gegen den Fremdenhaß, während jeder Dorfdisco-Betreiber zum »Rock gegen Rechts« lädt, wiegt sich die Gesellschaft plötzlich in einer trügerischen, neugewonnenen Sicherheit. Die Feinde der Demokratie und gestiefelten »Deutschland«-Brüller sind, so scheint es, vorerst zum Schweigen gebracht.
Keine Frage, die ersten Lichterketten haben gewichtige Zeichen gesetzt: gegen Gewalt von Neonazis und Passivität vieler Politiker, gegen das quälende Schweigen von Kanzler Kohl und die lange Reaktionszeit des Rechtsstaates.
Es waren die Großdemonstrationen in München und Hamburg, die Regierende, Polizei und Justiz zum Handeln trieben. Erst danach wurde die schon bezweifelte Meinung wieder mehrheitsfähig, daß sich deutsche Geschichte nicht wiederhole.
Doch was bedeuten Umfrageergebnisse, die Schönhubers Republikanern neuerdings im Fall einer Bundestagswahl nur mehr knapp über vier Prozent geben, statt, wie noch vor wenigen Wochen, doppelt soviel? Auch die stillschweigende Sympathie der Bürger für rechtsradikale Ausschreitungen, so sagen die Demoskopen, habe stark abgenommen.
Könnte es nicht sein, daß die kollektive Rassisten-Ächtung durch Lichterketten und Solidaritätsadressen die Sympathisanten der Rechten zu einem bloß vorübergehenden Abtauchen bewogen hat? Ob und wie lange die relative Ruhe hält, darüber sorgen sich nun auch Künstler, die zunächst bereitwillig bei Aktionen der Goodwill-Organisatoren mitmachten.
Zum Beispiel Deutschlands derzeit populärster Rocker Marius Müller-Westernhagen: Der trat im Dezember beim Frankfurter Benefiz-Festival »Heute die! Morgen du!« vor 200 000 Zuschauern und Fernsehkameras aus aller Welt auf. Jetzt denkt er um: »Ich glaube nicht, daß es richtig ist, ständig weitere Aktionen zu machen.«
Besser sei es, mit einer spektakulären Großveranstaltung ein Zeichen zu setzen, »danach muß Ruhe sein. So, wie das jetzt passiert, läuft das aufs gleiche hinaus wie bei der Friedensbewegung. Bald kann keiner mehr Kerzen sehen oder Rockmusiker Toleranz predigen hören«. Vor allem aber fürchtet Müller-Westernhagen, daß die »Inflation solcher Spektakel am Ende die Glaubwürdigkeit mindert und so das Anliegen in Mißkredit bringt«.
In welch skurrilen Demonstrations-Einfällen sich der Wille zum Engagement mitunter manifestiert, war schon im Herbst 1992 zu erleben, als deutsche Dichter zu Leseabenden in diversen Asylbewerberheimen antraten. Die Heimbewohner, oft der deutschen Sprache unkundig, reagierten ratlos oder blieben den Vorlesungen einfach fern.
Beim Frankfurter Rockkonzert dann artikulierten Pop-Fuzzis wie die bayerische »Münchner Freiheit« nicht bloß musikalisches, sondern auch sprachliches Unvermögen, ihrem guten Willen Ausdruck zu verleihen: »Ich steh'' auf Licht!« lautete der Kernsatz ihrer Schlager-Botschaft - Minimalismus im Pop-Protest gegen Rechts.
Mittlerweile sind die Aufrufe von Kunstschaffenden gegen Gewalt und Fremdenhaß kaum mehr zu zählen: Neben Industrie und Politik, Fußballvereinen, Supermarktketten und Kirchen haben sich längst Kinderbuchautoren und Akademien, Buchverleger und Filmproduzenten, Schauspielensembles und Pop-Bands, Maler und Galeristen zu Wort gemeldet.
Alle versenden Botschaften und wissen gar nicht, an wen: Die ersten Lichterketten transportierten noch das Signal, daß die Mehrheit der Deutschen eben nicht klammheimlich applaudiert, wenn Steine fliegen und Ausländer brennen. Ihre Adressaten waren rechte Extremisten.
Nun aber richten sich die wohlmeinenden Appelle nur noch an jene, die selber schon immer wohlmeinend waren. Das gute Gewissen führt ein Selbstgespräch.
Daß das modische »Zeichen setzen« mit Lesebuch und Gitarre, mit Kerzen und Schweigemärschen eintönig und allmählich ermüdend wirkt, daß die Demonstranten über der Rechtschaffenheit ihres Protests die Formulierung eigener politischer Forderungen vergessen, ärgert mittlerweile auch Sympathisanten. »Begräbnisrituale des politischen Protests« nennt die taz derlei Aktionismus, und wie viele andere Skeptiker fordert sie eine Denkpause vor dem nächsten Lichterreigen.
Die aber ist nicht in Sicht: Am vergangenen Samstag sollte mit Lichterprozessionen überall im Land an den 60. Jahrestag der nationalsozialistischen »Machtergreifung« erinnert werden. Motto: »Eine Spur der Erinnerung«.
Und in Leipzig will die Deutschrock-Elite demnächst noch einmal demonstrieren. Die Losung von Frankfurt »Heute die! Morgen du!« klingt dann nur noch wie ein Wanderzirkus-Slogan: Heute hier, morgen dort.
* Oben: Eiskunstläuferin Katarina Witt, Popgruppe Münchner Freiheit;unten: Rockkonzert in Frankfurt.