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Artikel 63 / 96

Pfadfinder der Moderne

aus DER SPIEGEL 6/1991

»Dichter sind Vagabundenseelen, verwandt mit Leierkastenmännern, wurzellose Landstreicher ohne Paß«, sagte dieser geniale Eigenbrötler, und in jugendlicher Unrast bis ins Greisenalter hinein, nur den Gesetzen des ihm eigenen Naturells gehorchend, ist er durchs Leben gewandert, empor zu höchstem Ruhm und hinab in die tiefste Schmach.

Knut Hamsun, Norwegens wilder Sohn, Nobelpreisträger von 1920: Als einer der ganz Großen der Weltliteratur, als moderner Homer, als Jahrhundertautor, einzigartig im Reichtum seiner Schaffenskraft, wurde er vor zwei Generationen noch bewundert und verehrt. Als Vaterlandsverräter, der Hitlers Höllenreich verherrlicht und dessen Untergang beklagt hatte, stand er nach dem Zweiten Weltkrieg vor Gericht, ein störrischer alter Mann, geächtet bis ans Ende seiner Tage und übers Grab hinaus.

Denn wirksam ist Hamsuns Verdammnis noch heute, vier Jahrzehnte nach seinem Tod, und fast schon vergessen in ihrem herben Charme, ihrer epischen Wucht und lyrischen Empfindsamkeit, der Synthese von edler Einfalt und äußerstem Raffinement sind seine Werke, einst so überschwenglich gepriesen von Zeitgenossen wie Thomas Mann und Maxim Gorki, Andre Gide und Ernest Hemingway, so unschätzbar in ihrem stilbildenden Einfluß auf die Erzählkunst des 20. Jahrhunderts.

Der erste Romancier im Aufbruch zur Moderne war er gewesen, der den Mysterien der Seele im jungen Zeitalter des dampfgetriebenen Fortschritts nachspürte, der die Menschenkinder dieser von Gott verlassenen neuen Welt entlarvte als wankelmütige Geschöpfe der vielen Eigenschaften, der abstrusen Charakterzüge und divergierenden Antriebskräfte, »gespalten und zusammengesetzt, nicht gut und nicht böse, sondern beides, nuanciert, wechselhaft in ihrem Wesen und ihren Handlungen«.

Und unsteten Geistes, wetterwendisch und widersprüchlich wie die vielen Gestalten seiner Romane, all die Einzelgänger, Außenseiter, Sonderlinge und Schwärmer, die Querköpfe, Scharlatane und verkrachten Existenzen, die Getriebenen, Verwirrten, Zerrissenen und Verlorenen in der Wirrsal der Leidenschaften, war auch ihr Schöpfer - der englische Autor Robert Ferguson dokumentiert es ausführlich in einer jetzt auf deutsch erschienenen Biographie, die das »mehrfache Paradoxon«, das »Rätsel« des großen literarischen Pfadfinders und politischen Irrläufers Knut Hamsun neu zu deuten versucht*.

Es ist die Geschichte vom armen Schneidersohn Knud Pedersen, geboren 1859 im südnorwegischen Gudbrandsdal, den es forttrieb aus dem Elend seiner Kindheit und Jugend. Im hohen Norden der Mitternachtssonne, am Küstenstrich von Hamsund, das Meer und die Bergketten der Lofot-Inseln vor Augen, war er herangewachsen unter der Obhut und Fuchtel eines reichen Onkels, »der mich hungern ließ und mich tyrannisierte« mit »viel Arbeit, vielen Prügeln«. Als Gehilfe in Krämerläden, Hausierer, Schusterlehrling und »Kiesaufseher« beim Straßenbau hat er sich durch die frühen Jahre gequält.

Doch Knud Pedersen, von mangelhafter Schulbildung, war ein zäher und harter, ein außerordentlich ehrgeiziger und großspurig selbstbewußter Kerl, besessen allein von einer Idee: Schriftsteller wollte er werden, berühmt wie sein glühend verehrter Landsmann Björnstjerne Björnson, nur fanden leider die Gedichte und Erzählungen des jungen Poeten kaum Beachtung. Zwecks Förderung seiner Literatenkarriere erschnorrte er sich von einem der mächtigen Kaufherren des Nordlands 1600 Kronen, die ihm auch nicht viel weiterhalfen in der Drangsal des verkannten Genies.

Zweimal in seinen zwanziger Jahren ist er dem Hungerleiderdasein in der Heimat entflohen, um wie so viele norwegische Auswanderer in Amerika nach dem Glück zu jagen. Zweimal zwei Jahre lang schlug er sich drüben durch dick und dünn: Handlanger, Laufbursche und Farmarbeiter, Straßenbahnschaffner in Chicago und Famulus in einer Unitariergemeinde in Minneapolis. Abgestoßen vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, kehrte er 1888 endgültig zurück in die Alte Welt und verfaßte eine sarkastische Studie über das »Geistesleben des modernen Amerika«.

»Ein vollendeter Bluffer« sei er gewesen, »sowohl in dem, was er sagte, als auch in dem, was er schrieb«. So beurteilte ein Zeitgenosse den exzentrischen Bohemien, »der sich unaufhörlich selbst anpries« und in hemmungslosem Geltungsdrang sein Publikum provozierte mit wüsten Ketzereien. »Was er haßt«, erläuterte ein Kritiker, »ist Autorität in jeglicher Form - die anerkannte Wahrheit, die spießbürgerliche Schicklichkeit, den akademischen Doktrinarismus und das Urteil der Masse.«

Gegen die Heiligen der Literatur zog er vom Leder, gegen Shakespeare, Goethe, Schiller, Leo Tolstoi und Victor Hugo, gegen die erstarrten alten Männer, die sich ständig wiederholten, die Moralapostel des Romans und des Theaters, den illustren Landsmann Henrik Ibsen vor allem, dem er nachsagte, daß er in seinen Dramen keine wirklichen Menschen darstelle, nur Konzepte und Ideen. Denn für Hamsun bedeutete Dichtung nur eines: radikale Individualität, und in drei frühen Meisterwerken hat er ihr mit unerhörtem Elan Ausdruck verliehen.

Es waren, lange vor Joyce und vor Kafka, Romane der subjektiven Existenzerfahrung in der neuen Ära der Zivilisationsneurosen. »Hunger«, publiziert 1890, hieß der erste, in dem ein anonymer Held von seiner Misere erzählt. Ein brotloser Schriftsteller ist es, der sich, ähnlich wie Hamsun in seinen schlimmsten Zeiten, in Norwegens Hauptstadt Kristiania, dem heutigen Oslo, verzweifelt ans Leben klammert, bettelnd, zerlumpt, ohne Bleibe, ein psychosomatisches Wrack zwischen Pennern, heimgesucht von Delirien, dem Wahnsinn und dem Tode nah.

Und wahnhaft überspannte, exzentrische, paranoide Kreaturen im Zwiespalt der Gefühle sind auch die Gestalten danach. In Hamsuns »Mysterien« irritiert ein geheimnisvoller Fremdling die braven Bürger eines Hafennests mit Flegeleien gegen alle Konventionen, bis er sich verstörten Gemüts von der Mole ins Meer stürzt. Ungebärdig vor Eifersucht und Trotz, hadert im Roman »Pan«, 1894 erschienen, der naturschwärmerische Leutnant Glahn mit seiner hoffnungslosen Liebe zur reichen Kaufmannstochter Edvarda, die ihm die Weidmannseinsamkeit in den Wäldern des Nordens vergällt hat.

Mit einem »Schneesturm von unbändiger Kraft« verglich der verehrte Björnson die erzählerische Bravour des jungen Kollegen, der nun endlich die lang ersehnte Anerkennung fand, weit über die Sprachgrenzen Skandinaviens hinaus. Deutschlands Leser vor allem verfielen rasch dem »unendlich liebenswerten Zauber der Hamsunschen Kunst« (Thomas Mann), seinen innigen Beschwörungen nordischer Urlandschaften, dem Schmelz seiner wehmütigen Liebesgeschichten. Aus Deutschland, wo ein Mäzen namens Albert Langen einen Verlag eigens für Hamsuns Werke begründete, flossen ihm fortan die höchsten Tantiemen zu. Er hat es dem »großartigen Land« über Gebühr gedankt, bis zum bitteren Ende.

Als »starrsinniger und unverwechselbarer Mensch« wurde er von einem seiner Landsleute charakterisiert, »stolz und hart«, »seinem Wort treu, rechtschaffen bis zur Pedanterie«. Ein fröhlicher Anarchist und Bruder Leichtfuß am Spieltisch und unter Zechkumpanen war er außerdem dazu (wie ein anderer Zeitgenosse meinte), ein Mann von enormer Ausstrahlungskraft, »der für alle Frauen eine Gefahr darstellt«, was er allerdings, laut Ferguson, kaum auszunutzen verstand, denn »in intimen Beziehungen war er ungeschickt«.

Auch im Umgang mit Zunftgenossen zeigte er wenig Neigung zu engerem Verkehr. Selbst mit dem über alle Maßen geschätzten Schweden August Strindberg, dem er sich derart wahlverwandt fühlte, daß er ihm dessen struppigen Schnurrbart abguckte, kam es nie zur erhofften Freundschaft - die beiden Genies, auch an Querköpfigkeit einander sehr ähnlich, waren schnell zerstritten. Einen wahren Vertrauten hat Hamsun zeitlebens nicht gehabt.

Gespalten im Inneren seines Wesens, so überliefert der Biograph, blieb er sich selber stets »sein schlimmster Feind, der leidenschaftliche Störer seines eigenen Friedens«, der rast- und ziellose Wanderer ohne feste Heimstatt und familiäre Geborgenheit, der in Hotels und Pensionen seine wunderbaren Romane schrieb. Und er war schon in den Fünfzigern, als er sich endlich, nach einer ersten kurzen Unglücksehe, mit seiner zweiten Frau Marie, um 23 Jahre jünger als er, niederließ zu seßhaftem Dasein.

Zum einfachen Leben auf eigener Scholle drängte es diesen Urahn der Grün-Alternativen, der schaudernd die Zeichen der Zeit erkannte: den Niedergang des Handwerks und den Aufstieg der Fabriken, die Flucht vom Land in die Stadt und das Anwachsen der Arbeiterheere - das ganze Unheil einer degenerierten Gesellschaft, in der sogar, wie er grimmig bemerkte, die Frauen aufbegehrten mit ihrem Feldgeschrei nach Emanzipation. »Der Mensch«, klagte Hamsun, »hat sich der Natur entfremdet und dadurch die Grundbedingung für eine organische, ganzheitliche Lebensweise in sich zerstört.«

Doch die Rückkehr zu den Ursprüngen erwies sich als gar nicht so einfach. Der Hof, den er sich in den nordländischen Gefilden seiner Kindheit gekauft hatte, brachte nur Schulden. Später, nachdem er mit Frau Marie und den vier Kindern an die Südküste übergesiedelt war, betrieb er dann eine mustergültige Landwirtschaft - eine kostspielige Liebhaberei, finanziert aus den Erträgen seiner literarischen Arbeit.

Weltberühmt war der Dichter und Bauer auf Gut Nörholm. Ein Bestsellerautor war aus dem einstigen Avantgardisten geworden, nach dem Sturm und Drang der frühen Werke offenbarte sich ein Meister der Volkstümlichkeit, der ironische, humorvolle, schier unerschöpflich erfindungsreiche Erzähler weitgesponnener Fabeln aus dem herrlichen Land der Fjorde und Fjells, der einsamen Gehöfte, der Grübler und Phantasten, der Tippelbrüder und Handelspatriarchen. Und unermüdlich schrieb er dabei an gegen den Fluch des Fortschritts, den kapitalistischen Ungeist der Epoche, die seelenlose Zivilisation der Städte.

Zurück zur Natur! Im Roman »Segen der Erde«, 1917 veröffentlicht, hat Hamsun vom Heil des urwüchsigen Lebens seiner Träume erzählt: der Scholle verbunden, angepaßt dem Zyklus der Jahreszeiten, unveränderlich über die Generationen hinweg. Der schwedischen Dichterin Selma Lagerlöf schien es ein »unabweisbares Zeugnis«, gerichtet an Reich und Arm, daß die schwere Mühsal, die hartnäckige Arbeit das einzige ist, was seit ewigen Zeiten dem Menschen das Herz leichtgemacht hat und den Körper frisch. Die Bauern-Saga trug ihm die Ehre des Nobelpreises ein, danach den Leumund eines vorzeitigen Blut-und-Boden-Barden.

Er war bereits jenseits der 70, ein störrischer Einsiedler, geschlagen mit zunehmender Schwerhörigkeit, als seinem geliebten »germanischen Deutschland« der »große Terrorist« erwuchs, den er sich schon vor der Jahrhundertwende in einem seiner wenigen Theaterstücke ausgemalt hatte. »Ich glaube«, so philosophierte damals Hamsuns aufsässiger Bühnenheld, »an den geborenen Herrn, den Despoten von Natur, den Machtmenschen, der keineswegs gewählt wird, sondern sich selber zum Anführer der Horde auf dieser Erde aufwirft.«

Dem leibhaftigen Führer und seinen Horden hat dann der Alte von Nörholm durch Frieden und Krieg unbeirrbar die Treue gehalten. In Hitlers Despotenreich, wo mythenumwabert die Jugend marschierte zum Ruhm der nordischen Rasse, sah er blauäugig die Kraft, an der endlich die korrupte Welt genesen sollte - und zum Teufel mit dem perfiden britischen Empire, diesen arroganten Engländern, die er sein Leben lang von ganzem Herzen verabscheute im schroffen Widerspruch zu seinen traditionell anglophilen Landsleuten.

»Norweger! Werft die Gewehre fort und geht wieder nach Hause. Die Deutschen kämpfen für uns alle und brechen jetzt Englands Tyrannei über uns und alle Neutralen«, forderte Hamsun in einem Aufruf, als 1940 die Wehrmacht das Land besetzte. An die norwegischen Seeleute auf alliierten Schiffen richtete er über Kurzwellensender den Appell zur Desertion. In Zeitungsartikeln rief er zum Kampf gegen den Bolschewismus und das Amerika Franklin Roosevelts, des »Juden im jüdischen Solde«.

Allerdings auch als nationalsozialistischer Bundesgenosse von hohem Propagandawert blieb er, was er immer gewesen war: ein unbequemer Gesell. Sogar der große Diktator bekam es zu spüren während jener Teestunde auf dem Obersalzberg anno 1943, als sein fast tauber Gast lauthals und unter Tränen Beschwerde führte über das Schreckensensregiment des Statthalters Josef Terboven und dessen Erschießungskommandos in Norwegen - »wir ertragen das nicht mehr!« Nie, erinnerte sich der damalige Reichspressechef Otto Dietrich, habe er erlebt, daß jemand dem Führer derart in die Parade fuhr wie Knut Hamsun. Dennoch fanden von da an keine Geiselhinrichtungen in Norwegen mehr statt.

Zwei Jahre später, nach Hitlers Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei und exakt einen Tag vor Kriegsende, würdigte Hamsun den »Krieger für die Menschheit« in einem wahnwitzigen Nekrolog: »Er war eine reformatorische Gestalt von höchstem Rang, und es war sein historisches Schicksal, in einer Zeit der beispiellosen Roheit wirken zu müssen, die ihn schließlich gefällt hat.« Dann, inzwischen 86, doch ungebrochen auch nach zwei Schlaganfällen, erwartete er das Strafgericht der Nation.

In seinem letzten Buch »Auf überwachsenen Pfaden« hat er von seinem Ungemach im befreiten Land erzählt, den Aufenthalten im Krankenhaus und im Altersheim, den 119 Tagen in der psychiatrischen Klinik von Oslo, wo ein ihm zutiefst verhaßter Dr. Langfeldt seinen Geisteszustand untersuchte. Daß er ein Landesverräter gewesen sein sollte, sah er nicht ein: »Ich fühlte es nicht so, ich erkannte es nicht so, und ich erkenne es auch heute nicht so. Ich habe Frieden mit mir selbst, ich habe das allerbeste Gewissen.« Ein Schöffengericht verurteilte den Kollaborateur zu einem Sühnegeld von 425 000 Kronen, es wurde in der Berufung auf 325 000 Kronen reduziert.

Finanziell am Ende, von aller Welt verfemt, hauste Hamsun in der Einsiedelei von Nörholm. Lang zerrüttet war die Ehe mit Frau Marie, und er verweigerte ihr das gemeinsame Heim, nachdem sie die drei Jahre Haft verbüßt hatte, zur Strafe für ihre aktive Mitgliedschaft in der norwegischen Nazipartei des Vidkun Quisling.

Aber schließlich, mit 91, rief er sie doch zurück. »Du bist lange weggewesen, Marie«, sagte er zu ihr. »Ich habe in all der Zeit, in der du weg warst, niemand anderen gehabt, mit dem ich reden konnte, als Gott.« Sie pflegte ihn durch die letzten zwei Jahre seines Lebens. In einer Februarnacht 1952 ist er altersschwach entschlafen.

Auf die Journalistenfrage, was für ihn das Schlimmste sei, das er sich vorstellen könne, hatte der Greis kurz zuvor noch geantwortet: »Zu sterben! Ich würde nicht im Traum daran denken, es zu tun, wenn ich es nicht müßte.«

* Robert Ferguson: »Knut Hamsun. Leben gegen den Strom«. Aus dem Englischen von Götz Burghardt. List-Verlag, München; 640 Seiten; 54 Mark.

Gunar Ortlepp

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