Plädoyer für Science-fiction
Schon der Begriff macht Schwierigkeiten: Science-fiction läßt sich nicht leicht definieren. Die populäre Vorstellung versteht darunter eine Literatur, die sich mit den Verhältnissen in einer imaginären Welt beschäftigt.
Diese Welt kann in den verschiedenartigsten Formen geschildert werden. Sie kann ein Traumland sein, in dem andere Naturgesetze gelten, Magie möglich oder das Übernatürliche natürlich ist. Sie kann auch als eine Welt des Phantastischen verstanden werden, und manche Leute jedenfalls sind der Auffassung, daß die »Science-fiction-Literatur dieses Phantastische im Sinne willkürlich ausschweifender Phantasien beschwört.
Natürlich gibt es das. Aber die Literatur dieser Art wird dem Begriff von Science-fiction, wie ich ihn verstehen und rechtfertigen will, nicht gerecht. Der Ausflug in Phantasiewelten mag unterhaltsam sein, er ist kaum jemals mehr. Und wenn ich die Bedeutung der Unterhaltung auch nicht leugnen möchte, so wird ihn doch niemand auf die Welt des Phantastischen beschränken wollen. Dagegen ist es gerade meine These. daß die Science-fiction-Literatur einen Sinn und aufklärerischen Wert besitzt, den keine andere Literatur gegenwärtig für sich reklamieren kann.
Dazu bedarf es sorgfältiger Unterscheidungen. Selbst ein Zukunftsroman ist noch nicht schlechthin Sciencefiction. Älteren Autoren hat ein in die Zukunft verlagerter Standort nicht selten dazu gedient, die bestehende Welt und ihre Ordnung kritisch oder satirisch zu beschreiben. Auf ähnliche Weise gab Voltaire in »Micromégas« die Torheiten seiner Zeit mit den Augen eines erstaunten Lebewesens von außerhalb der Erde dem Gespött preis, desgleichen holten Mores »Utopia. Swifts »Gullivers Reisen« oder Montesquieus »Lettres persanes« ihre beträchtliche Wirkung aus einer Fiktion: Sie verglichen die Gesellschaft ihrer Zeit mit imaginären Gesellschaften in abgelegenen oder erfundenen Winkeln des Planeten.
Eine solche Literatur kann große Bedeutung entwickeln, aber im Gegensatz zur Science-fictión im engeren Sinne zielt sie auf die gegenwärtige, nicht auf die zukünftige Gesellschaft. Auch kann sie keineswegs geltend machen, neuartig und allen anderen Literaturformen unvergleichbar zu sein.
Zweifellos kann auch die Sciencefiction, die sich für die Zukunft an sich interessiert und vorgestellte künftige Verhältnisse nicht nur als Mittel zur Bloßstellung der Gegenwart verwendet, primär von der Absicht getragen sein, das Publikum durch nichts weiter zu unterhalten, als daß alle Tassen zu tanzen beginnen. Sie übernimmt Rezeptur und Funktion des einstigen Abenteuerromans, Kapitän Ahab in Galaxien. Karl May im Kosmos. Als Sciencefiction im strengen Sinne zählt sie nicht. Abenteuer, Spannung, Happy-Ends gibt es auch anderswo, nichts daran gehört nur und allein dieser Literatur.
Aber man muß die Abgrenzung noch ein Stück weitertreiben: Als Sciencefiction wird nicht selten auch ausgegeben, was tatsächlich nur ein mehr oder minder schlecht getarnter wissenschaftlicher Vortrag ist. Die Abenteuer des einen Helden können dazu dienen, Kenntnisse über das Sonnensystem zu vermitteln, ein anderer kann, auf winzige Maße geschrumpft, mit einer Art U-Boot in den Blutstrom eindringen oder gar mit der Welt der Atome verschmelzen -- immer sind sie lediglich Spannungsvehikel, um biologische oder physikalische Tatbestände zu erläutern: Auch dies hat Mühe, sich als Sciencefiction zu behaupten, viel eher handelt es sich um Sachbücher im Unterhaltungsstil, Karl May diesmal am Pult von Albert Einstein oder Professor Oberth.
Was aber, wird man fragen, bleibt noch, wenn all dies ausscheidet? Vielleicht kann ein Blick zurück weiterhelfen.
Wie eigentlich durchweg alles, gab es auch in der Antike schon eine Literatur, die der Science-fiction zu gleichen scheint: Erzählungen vom versunkenen Atlantis oder Lucius Apuleius' Reise zum Mond. Doch war auch das eine vollständig erdachte Welt. Die Autoren kannten naturgemäß die erst viele hundert Jahre später entdeckten wissenschaftlichen Gesetze nicht, die das Universum und die Welt bestimmen. D as aber ist die erste Voraussetzung
wirklicher Science-fiction. Ihre Ansätze liegen infolgedessen auch erst im frühen 17. Jahrhundert. Damals schrieb der deutsche Astronom Johannes Kepler einen Reisebericht vom Mond, der erstmals korrekte Daten zugrunde legte und das Nachbargestirn nicht als eine andere Erde darstellte.
Ebenso wichtig war, daß die Zukunft als Kategorie der menschlichen Phantasie begriffen wurde. Bis ins späte 18. Jahrhundert war sie ohne wirkliche Bedeutung geblieben. Wenn Menschen sich die Zukunft ausmalten, konnten sie sich, wie seit Jahrhunderten schon, nicht viel mehr als neue Könige, neue Eroberungen oder Katastrophen vorstellen, aber das Leben wurde von alledem nicht grundlegend beeinflußt. Jeden Sommer blühte der Klee, jeden Winter schneite der Schnee, die Menschen lebten damit Generation für Generation, und eine Geschichte vom Leben in der Zukunft war kaum sinnvoll: Die Zukunft würde sein, wie die Vergangenheit gewesen war.
Erst das 18. Jahrhundert machte alles radikal anders. Die Welt, ihre Gestalt, ihr Bewußtsein von sich selbst veränderten sich von Grund auf. Es ist hier nicht der Ort, die Ursachen dieser wahren und wirklichsten Revolution aller Geschichte zu beschreiben. Aber entscheidend war die Erkenntnis, daß der Mensch die Entwicklung steuern, die Gesellschaft nach einem Entwurf organisieren, die Verhältnisse intellektuell konstruieren könne: Solange die Sonne am Firmament steht, war das, wie Hegel in berühmten Sätzen schrieb, in der Tat nicht gesehen worden.
Aber zugleich mit dem Gefühl, daß die Welt für ihn machbar sei, begann der Mensch auch, Veränderungen zu erwarten. Eine Art Neugier wurde damit geboren, die wissen wollte, wie das Leben der Zukunft in der gemachten, fortgeschrittenen Gesellschaft aussehen würde. Zum erstenmal begriffen die Menschen, daß für die kommenden Generationen alles anders sein, daß im Sommer nun nicht mehr immer nur der Klee blühen, im Winter nicht mehr immer nur der Schnee schneien würde. Und sie erkannten auch, daß sie es nie erleben würden. Das war der Ursprung der echten Science-fiction.
Der erste Autor, der sich damit einen Namen machte, war Jules Verne. Ihm folgten bald Schriftsteller in England. Deutschland, Rußland, in den Vereinigten Staaten. Doch wurden ihre Veröffentlichungen zunächst kaum ernst genommen, sie erschienen sporadisch und besaßen nicht den Rang einer eigenen Gattung.
Bezeichnenderweise begann der Auf stieg der Science-fiction in den USA, die den Optimismus des Machenkönnens am frühesten und unbefangensten entwickelt hatten. Anfang 1926 gründete Hugo Gernsback die erste Zeitschrift. die sich ausschließlich der Sciencefiction widmete. Andere Magazine ähnlicher Art folgten bald und bildeten Autoren heran, die sich freilich zunächst noch vorwiegend auf die Beschreibung erregender technischer Erfindungen beschränkten.
Das war, nimmt man es genau, noch immer ein sekundärer Gesichtspunkt. Die Atombombe beispielsweise ist als Erfindung ein gewaltiges Ereignis. Weit gewaltiger aber ist das Problem, das sie dem Menschen stellt. Fernsehen und Düsenantrieb sind interessante Einrichtungen; verglichen jedoch mit den Veränderungen, die sie »bewirkt haben, ist ihre Erfindung ein eher unbedeutender Vorgang.
Erst wo in der Literatur der pure technologische Knalleffekt vergessen und der Blick davon weg auf den Menschen und die Gesellschaft gerichtet wird, beginnt das Reich der wirklichen Science-fiction: Wie wird die Welt aussehen, wenn sich die Menschheit weiterhin unkontrolliert vermehrt und etwa das Zehnfache ihrer jetzigen Zahl erreicht? Wie wird das Leben aussehen. das auf dem Mond entstehen wird, und werden diese Lebewesen höher entwickelt sein als die Menschen? Was wird geschehen, wenn Roboter mit menschenähnlicher Intelligenz gebaut oder die Menschen Unsterblichkeit erlangen werden?
Die außerordentliche Bedeutung solcher Fragen wird an einigen Beispielen anschaulich. Als Folge des medizinischen Fortschritts wurde, wie jedermann weiß, die Sterblichkeitsziffer drastisch verringert. Das führte zu jener unerhörten Bevölkerungsexplosion, deren tödliche Gefahren uns heute »erst bewußt werden. Hätten die gelehrten Vorkämpfer des medizinischen Fortschritts dieses Problem vorausgeahnt, wären sie vielleicht zu der Erkenntnis gelangt, daß die Verminderung der Sterblichkeitsziffer gleichzeitige Bemühungen zur Verminderung der Geburtenziffer verlangt. Und hätten die Chemiker und Techniker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wenn ihnen die Tür zur Zukunft ein Spalt weit geöffnet worden wäre, nicht vielleicht begonnen, die Gefahren der Umweltverschmutzung zu bedenken?
Vermutlich nicht. Wenn noch immer, bis heute, in einer von Veränderung dröhnenden Welt, glauben die Menschen, das Leben werde weitergehen wie bisher. Selbst diejenigen, die an seiner Veränderung praktisch mitarbeiten, sind in alten Vorstellungsautomatismen befangen und glauben »nicht an die verwandelte Realität von morgen.
Außer natürlich die Science-fiction-Autoren. Denn ihre Aufgabe ist es, diese Veränderungen zu untersuchen. Als H. G. Wells »The Shape of Things to Gome« schrieb, sagte er den Zweiten Weltkrieg genauer voraus als zahlreiche Militärs. Und es gibt eine Fülle von Beispielen ähnlicher Art aus jenen Magazinen, die ernsthafte Intellektuelle zuweilen nur als geeignet für Kinder oder etwas abseitig orientierte Enthusiasten ansehen.
Im Jahre 1940 etwa interessierten die Intellektuellen der Welt Probleme wie die relativen Werte des Faschismus, des Kommunismus und der Demokratie. Rassenfragen und Patriotismus. Angesichts der Tatsache, daß der Zweite Weltkrieg mitten im Gange war, kann das kaum wundernehmen.
Wovon aber redeten die Sciencefiction-Autoren? Der Amerikaner Robert A. Heinlein schrieb damals, unter dem Pseudonym Anson Mac Donald, eine Geschichte, die er »Solution Unsatisfactory« (Lösung unbefriedigend) nannte. Darin ging er davon aus, daß die USA ein riesiges wissenschaftliches Projekt zur Entwicklung einer Kernwaffe erarbeiten könnten, durch die der Zweite Weltkrieg entschieden wurde. Er fuhr dann fort, nachdenkliche Betrachtungen über das Atompatt anzustellen, in das die Welt geraten müsse.
John W. Campbell jr. wiederum, der Herausgeber von »Astounding Science fiction«, geriet .1944 in die Fänge der Spionageabwehr, weil eine von ihm veröffentlichte Erzählung so verblüffend detailliert den Bau einer Atombombe beschrieb, daß der Geheimdienst einen Verrat jenes »Manhattan-Projekts« vermutete, das zur gleichen Zeit in Los Alamos entwickelt wurde. Gleichzeitig versicherte Campbell in den Leitartikeln seines Magazins immer wieder, daß die Streitfragen des Krieges in gewissem Sinne trivial seien. Die Kernenergie, so führte er aus, werde die Welt so sehr verändern, daß sich die erbitterten weltanschaulichen Gegensätze der Zeit als unbedeutend erweisen würden.
Ähnlich war es mit dem Problem der Übervölkerung. Im Sommer 1952 erschien in »Galaxy« eine dreiteilige Serie von Frederik Pohl und Cyril Kornbluth mit dem Titel »Gravy Planet« (etwa: Der Überdruck-Planet), in der eine immens übervölkerte Welt unter jedem denkbaren Aspekt beschrieben wurde. Vier Jahre später veröffentlichte Fredenk Pohl die Geschichte »Census Takers« (Volkszähler), die mit beißender Ironie eine Zeit beschrieb, in der die Hauptaufgabe der Volkszähler darin bestand, eweils eine Person aus einer bestimmten, von ihnen gezählten Anzahl von Menschen zu erschießen, um die Bevölkerungszahl unter Kontrolle zu halten.
Welcher Soziologe hat -- nicht heute, sondern vor 20 Jahren -- die ungeheure Gefahr des Bevölkerungswachstums gesehen? Welcher Regierungsbeamte hat -- nicht heute, sondern vor 20 Jahren -- klar erkannt, daß es kein soziales Problem gibt, das nicht durch uferlos wachsende Bevölkerungsvermehrung ständig verschlimmert würde? Welcher Philosoph hat -- nicht heute, sondern vor 20 Jahren -- darauf hingewiesen, daß bei weiterem Bevölkerungswachstum unter keinen denkbaren Umständen Hoffnung auf ein menschenwürdiges Dasein besteht?
Es wird nun nicht mehr verblüffen.
wenn ich darauf verweise, daß es fast ausschließlich Science-fiction-Autoren waren, die diese Gefahren erkannt, beschrieben und beschrieen haben.
Betrachtet man ihre Veröffentlichungen unter diesem Aspekt, so ist es amüsant festzustellen, daß viele meinen. nachdem die Astronauten auf dem Mond gelandet sind, habe die Wissenschaft die Science-fiction eingeholt. Denn nicht die Science-fiction-Bagatelle der Mondlandung, selber ist bedeutungsvoll, sondern die gesellschaftliche Wirkung der Raumfahrt.
In diesem Zusammenhang gebe ich der Versuchung nach, von mir selber und meinen Anfängen als Sciencefiction-Autor zu sprechen.
Im Juli 1939 erschien unter dem Titel »Trends« eine Geschichte von mir, die ich als Jugendlicher geschrieben hatte, Sie handelte von den ersten Mondflügen, die ich in die Jahre zwischen 1973 und 1978 verlegt hatte. (Ich hatte den Auftrieb unterschätzt, den die Raumfahrt durch die deutsche Raketenforschung im Zweiten Weltkrieg erfahren würde.) Meine Prophezeiungen über die Einzelheiten des Unternehmens waren lächerlich falsch, aber sie waren nicht der Kern der Geschichte.
Was die Erzählung wollte und ausmachte, war die Schilderung des sozialen Hintergrunds: Ich beschrieb Entstehung und Ausbruch eines hartnäckigen Widerstands gegen die Idee der Raumfahrt.
Und das war eine neuartige Vision: die Geschichte von Raketenstürmern. Viele Jahre später sagte man mir, daß in all der umfangreichen Raumfahrtliteratur hier zum erstenmal die Möglichkeit eines Widerstands gegen dieses ehrgeizigste Forschungsvorhaben der Geschichte beschrieben worden war. 1939 aber gab es nicht einen Techniker, nicht einen Industriellen, der auch nur, die Möglichkeit der Weltraumforschung, ihrer Risiken und Ausgaben ernsthaft in Betracht gezogen hätte -- einige wenige ausgenommen, wie Willy Ley oder Wernher von Braun, die wohl nicht zufällig auch begeisterte Sciencefiction-Leser waren.
Daß die aufklärerische Bedeutung der Science-fiction bis heute nur von wenigen erkannt wird, hat mit den kindischen Darstellungen zu tun, die unter diesem Etikett unentwegt angeboten werden. Die Comic strips beispielsweise handeln von spärlich bekleideten Mädchen vor mechanischen Geräten, versessen auf mechanischen Sex. Filme stellen riesige Ungeheuer in endloser Reihe dar, die endlos Tokio zerstören. Mary Wollstonecraft Shelleys alter »Frankenstein« erscheint in neuen Auflagen -- das alles wird für Science-fiction gehalten. Auch was im Fernsehen unter dieser Flagge segelt, ist meist nichts anderes als eine Art futuristischer »Gulliver« oder die stumpfsinnige Darstellung psychedelischer Paradiese.
So geht die Ernsthaftigkeit der Sache und ihre Bedeutung in Trivialitäten unter. Doch soll man sich so leicht nicht irreführen lassen. Mit Gags und Sex hat Science-fiction nichts zu tun. Sie ist auch keine Literatur für Kinder, sondern eine für Erwachsene -- in diesem und in jenem Sinne.