BRECHT-NACHLASS Plädoyer für Sowjetpanzer
Das Feuer sowjetischer Panzer auf die ungarischen Aufständischen hat bei einigen bis dahin mit den Kommunisten sympathisierenden Intellektuellen und Künstlern eine Art Götterdämmerung ausgelöst. Auch diejenigen, die lange Zeit der Sowjet-Union wenigstens in der Theorie einen Hang zu sozialer Fortschrittlichkeit zubilligten, wurden durch das sowjetische Vorgehen in Ungarn darüber aufgeklärt, daß die internationale Linke der Intellektuellen in keiner Großmacht einen Verbündeten besitzt.
Um in dieser Situation wenigstens einen prominenten Mann vorweisen zu können, der die sowjetische Politik in Ungarn rechtfertigt, sind die sowjetzonalen Parteiideologen auf einen Ausweg besonderer Art verfallen. Sie haben sich für ihre Zwecke einen Mann ausersehen, der sich gegen diese Auslegung nicht zur Wehr setzen kann, weil er bereits tot ist: Bertolt Brecht.
Ende November wurde in Chemnitz, gegenwärtig Karl-Marx-Stadt geheißen, ein von Brecht nachgelassenes Schauspiel, »Die Tage der Kommune«, uraufgeführt. »Es konnte nicht ausbleiben«, kommentierte der Theaterkritiker des SED-Parteiblatts »Neues Deutschland«, »daß ... Aspekte aktueller Anwendbarkeit in den Vordergrund rückten ... Durch die Beschäftigung mit dem Stück sind alle Beteiligten zu besonders gründlicher Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Ungarn veranlaßt worden.«
Der kommunistische Theaterkritiker glaubt: »Mehr als viele andere sind sie (die Zuschauer) befähigt worden, den Nebel der Vorurteile und Verfälschungen zu durchstoßen, Pseudo-Analogien zu durchschauen, echte Analogien zu erkennen und der Wahrheitsfindung nutzbar zu machen, 'Aufstand' nicht gleich Aufstand zu setzen ...«
Brecht hatte ursprünglich ein Schauspiel des - bei einem Luftangriff auf Berlin im Jahre 1943 abgeschossenen - norwegischen Dichters Nordahl Grieg, »Die Niederlage«, für eine Aufführung in seinem »Berliner Ensemble« bearbeiten wollen. Aus dieser Bearbeitung wurde ein Manuskript, das Brecht als »Gegenentwurf« auffaßte - ein Entwurf für »Die Tage der Kommune«. Dieser Entwurf ist bisher niemals gedruckt worden.
Das in Chemnitz uraufgeführte Schauspiel handelt vom Kampf und von der Niederlage der Pariser Aufständischen, der sogenannten Kommunarden, im Frühjahr 1871. Nach dem für die Deutschen siegreichen Feldzug gegen die Franzosen in den Jahren 1870/71 war am 18. März
1871 in Paris ein Aufstand der Nationalgarde und der Arbeiter gegen die konservative Nationalversammlung ausgebrochen. Die Aufständischen (die Kommunarden) wählten einen Gemeinderat (die Kommune), steckten öffentliche Gebäude in Brand und ließen zahllose Geiseln erschießen, darunter einen Erzbischof. In blutigen Kämpfen schlugen Regierungstruppen unter dem Marschall MacMahon den Aufstand nieder.
In der Sowjet-Union ist später der 18. März, der Tag, an dem der Aufstand losbrach, zum Staatsfeiertag erhoben worden. Lenin, der in dem Arbeiteraufstand den Musterfall einer sozialen Revolution sah, folgerte in seinen theoretischen Schriften, die Kommune sei unter anderem daran gescheitert, daß sie damals die Bourgeoisie nicht energisch genug niederhielt.
Diese These Lenins wird nun von Brechts Schauspiel erläutert. Langwierige Sitzungen der Kommunarden, bei denen es um allgemeine Freiheitstheorien und zum Beispiel auch um freie Wahlen geht, sollen die Unzulänglichkeit der Aufständischen ausweisen.
In mehreren Episoden wird vorgeführt, wie unentschlossen, allzu zartfühlend und überkorrekt die Revolutionäre des Jahres 1871 vorgegangen sind. Sie können sich nicht dazu überwinden, Schubladen aufzubrechen, in denen die für sie wichtigen Akten verschlossen sind, sie lassen sogar den Geldschrank eines reaktionären Bankdirektors unberührt. Kostbare Zeit, die dem Kampf gegen die Kapitalisten verlorengeht, wird an die Beratung humanitärer Manifeste verschwendet.
Noch schlechter aber als die humanitätsduseligen Revolutionäre schneiden alle diejenigen ab, die nicht zur Arbeiterklasse gehören. Aufgetakelt wie eine Witzblattkarikatur erscheint in kriegerischer Aufmachung, die Zigarre in der Hand, Bismarck auf der Bühne und verspricht dem Minister Favre, französische Kriegsgefangene zur Unterdrückung des Aufstandes freizulassen. Die Bismarck-Karikatur war sogar den Ost-Kritikern zu töricht. Wenn man den Gegner derart verkleinere, argumentierten sie, verkleinere man auch die eigene Sache.
Der in den Osten übergesiedelte Schriftsteller Arnolt Bronnen las als Quintessenz aus dem Stück heraus, Brecht habe der Nachwelt als Vermächtnis den Ratschlag geben wollen: »Gebt nicht aus der Hand, was ihr errungen habt!« Das ist jedenfalls die These, die das Eingreifen der Sowjetpanzer im »konterrevolutionären« Ungarn rechtfertigen soll. Das Stück zielt auf die Alternative: Entweder du machst dir die Hände blutig, oder sie werden dir abgehackt; zerschmettere oder du wirst zerschmettert. Dem Referenten der Zeitschrift »Freie Welt«, die vom Zentralvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft herausgegeben wird, schien
es nach all dem, daß Brecht hier »das ideologisch reifste und reichste aller seiner Dramen« geschaffen habe.
Immerhin war manchen anderen ostdeutschen und den wenigen westdeutschen Kritikern, die zur Premiere nach Chemnitz gekommen waren, recht deutlich aufgefallen, wie wenig Ähnlichkeit Dramaturgie und Diktion des Schauspiels »Die Tage der Kommune« mit den übrigen Schauspielen Brechts haben. Der Mannheimer Kritiker Werner Gilles resümierte: »Der Dramatiker Brecht ist in diesem epischen Revolutionskommentar nur außerordentlich selten zu Wort gekommen.« Sogar der Ostberliner Kritiker Herbert Ihering erläuterte über den »Berliner Rundfunk": »Die Tage der
Kommune sind kein Stück im Sinne der Meisterwerke von Brecht ... Ich glaube nicht, daß Brecht wenn er noch gelebt hätte, mit dieser Aufführung zufrieden gewesen wäre.«
In der »Berliner Zeitung« (Ost) hatte Arnolt Bronnen referiert: »Das Publikum, künstlerisch wenig angesprochen, erwachte erst zum Schluß politisch und spendete dann stürmischen Beifall.« Der Rezensent der »Stuttgarter Nachrichten« hat später in seinem Blatt geschildert, auf welche Weise dieses politische Erwachen des Publikums bewirkt worden war: »Bei der vorangegangenen öffentlichen Generalprobe sollen Zuschauer mit heftigem Türenschlagen vorzeitig den Saal verlassen haben. Bei der eigentlichen Uraufführung ging das Publikum zur Pause schweigend aus dem Saal. Nach Schluß der Aufführung richteten sich grelle, seitwärts der Bühne befindliche Scheinwerfer auf den Zuschauerraum, und während die Türen verschlossen blieben, begann ein allgemeines Händeklatschen.«
Brecht-Premiere in Chemnitz: Ungarische Aspekte