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FERNSEHEN Plausch mit Rosa

Der WDR testet ein für Deutschland neues Programm-Genre -- die Talk-Show. Talkmaster: Dietmar Schönherr.
aus DER SPIEGEL 38/1973

Fernsehzuschauer an Rhein und Ruhr waren »einfach begeistert«. In über 1000 Briefen priesen sie »diesen Lichtblick im deutschen Show-Angebot« und forderten: »Wir hätten gerne mehr davon.«

Das Volksbegehren hatte Erfolg. Am kommenden Sonntag, um 20.45 Uhr, startet das dritte WDR-Programm eine neue Runde der enthusiastisch begrüßten Sendereihe »Je später der Abend ...« Im Zwei-Wochen-Rhythmus wird der österreichische Entertainer Dietmar Schönherr wieder Gäste zu einer zwanglosen Sprech-Stunde ins Kölner Studio einladen -- zur »Talk-Show«.

»Es soll hier ganz gemütlich sein« -- so hatte Gastgeber Schönherr in vier Plaudersendungen, die im Frühjahr live ausgestrahlt worden waren, jeweils drei prominente Besucher empfangen. Um heimelige, gesellige Stimmung bemüht, sprach der Hausherr (Abendgage: 7000 Mark) seine Gäste mit Vornamen an und ermunterte sie mit freundlichen, aber gezielten Fragen, Auskünfte zur Person zu geben, um sie möglichst bis an die Grenze des seelischen Striptease zu entblättern« (WDR-Redakteur Hans-Joachim Hüttenrauch).

Nicht alle Partner mochten sich -- für ein Honorar von 500 Mark -- so weit entblößen. SPD-Mann Conrad Ahlers, der unglückselige Karl Schiller und Dramatiker Rolf Hochhuth gaben sich eher zugeknöpft. Auch Luise Ullrich, der patenten Serien-Oma aus »Acht Stunden sind kein Tag«. fielen auf kesse Schönherr-Fragen ("Luise, wie stehen Sie zum Sex?") nur lahme Repliken ein.

So richtig auf den Putz haute der Stückeschreiber Franz Xaver Kroetz ("ich bin vor allem ein bayrischer Kommunist"). der sich mit dem Münchner Strafverteidiger Rolf Bossi hitzige Wortgefechte lieferte, kräftig auf Kirche und Kapitalismus schimpfte und schreibfaule, schöngeistige Kollegen »Musenficker« schalt. Leben in Schönherrs Schwatzbude brachte auch der Sachbuchautor Volker-Elis Pilgrim, der alle Anwesenden schmatzend abküßte -auch den spröden Dichter Hochhuth.

Diese für deutsche TV-Abonnenten ganz neue Mixtur aus munterem smalltalk« deftiger Diskussion, Slapstick-Einlagen und Blödelei ist im amerikanischen Fernsehen längst ein bewährtes, klassisches Genre. Seit die Programmgesellschaft NBC 1950 Possen dieser Art einführte, schätzen vor allem Intellektuelle die Talk-Shows als »letzte Refugien von Witz und Urbanität in der Wüste der TV-Spätprogramme« ("Time").

Die Talk-Show ist in der Tat die unterhaltsamste Form von Exhibitionismus. Und die Kunst des Talkmasters besteht allein darin, den Gaststars aus Politik, Kultur, Sport und Show-Business mit Charme und List die Zunge zu lösen. Das Publikum, so erklärte der amerikanische Talk-Show-Moderator Jack Paar, »ist fasziniert, wenn sich in meiner Show Leute mit guten Manieren und ausgezeichnetem Verstand selbst das Grab graben«.

Paar, der neben Hollywood-Diven und Taschendieben auch den Filmschimpansen Kokomo zu Gast hatte, half dabei freilich immer kräftig mit und konnte sogar Talk-Profis wie Elsa Maxwell der Lächerlichkeit preisgeben -- er entlockte der damals 78jährigen Klatsch-Greisin das Bekenntnis-», Ich möchte so gern ein Baby haben.«

Von US-Vorbildern wie Paar, Dick Cavett und Johnny Carson haben die Kölner »Talk-Show«-Pioniere manches gelernt. Sie ließen sich aus Amerika ein »ganzes Paket mit Lehrmaterial« schicken und stimmten das WDR-111-Publikum mit Cavett-Shows auf die Programm-Neuheit ein.

Im Unterschied zu den Amerikanern will der WDR jedoch nicht nur Prominente zum Studio-Plausch einladen. Auf keinen Fall soll die Sendung zu »einer Klatschspalte der Großen, zur Dietmar-Maxwell-Show« (WDR-Redakteur Wolfgang Korruhn), absinken -- schon gar nicht zu einem Reklameforum der Unterhaltungsindustrie. »Gelegentlich«, sagt Talk-Show-Redakteur Hüttenrauch, »klopft mal ein Verlag bei uns an und preist seine Stars an. Dann müssen wir auf der Hut sein.«

Daß auch unprominente Bürger -- beispielsweise Polizisten, Piloten, Eisenbahner oder Häftlinge -- nicht auf den Mund gefallen sind, wollen die WDR-Unterhalter mit sechs Talk-Shows im dritten Programm testen. Am kommenden Sonntag nimmt sich Dietmar Schönherr allerdings erst noch einmal zwei bekanntere Deutsche vor: den homophilen Filmemacher Rosa von Praunheim, 30, und dessen Freundin, die Altchansonette Evelyn Künneke ("Sing, Nachtigall, sing").

Von Silvester an soll das Schau-Palaver dann jeden zweiten Mittwoch von der ARD auch bundesweit übertragen werden -- als wohl billigste Unterhaltungssendung der deutschen TV-Geschichte: 60 Minuten Talk-Show kosten knapp 20 000 Mark. Ein gleich langes, meist nicht halb so kurzweiliges Showstück mit Tanz und Singsang verschlingt das 14fache -- 280 000 Mark. * Mit (v. l.) dem SPD-Parlamentarier Ahlers, Elisabeth Gräfin von Werthern. Leichtathletin Heidi Schüller.

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