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SÄUGLINGS-STERBLICHKEIT Plötzlich und unerwartet

aus DER SPIEGEL 43/1962

Das Baby Cathie, sieben Monate alt und offenbar gesund, blieb für nur wenige Minuten unbeaufsichtigt im Auto. Als die Mutter vom Einkaufen zurückkehrte und den Wagenschlag öffnete, war das Kind tot. Die Todesursache konnte nicht festgestellt"werden.

Der Exitus, über den die Studie eines amerikanischen Armee-Pathologen ausführlich berichtet, zählt zu den rätselhaften Todesfällen, die von USKlinikern in landesüblicher Abkürzungsmanie als SUD's bezeichnet werden: »sudden, unexpected death« ("plötzlicher, unerwarteter Tod« im Säuglingsund Kindesalter).

Jedes vierte der Kinder, die im Alter zwischen zehn Tagen und zwei Jahren sterben, endet »plötzlich und unerwartet«. In den USA werden jährlich 25 000 SUD-Fälle registriert, in der Bundesrepublik schätzungsweise 3000. »Es ist ein Problem«, so schrieb der Kieler Kinderarzt Rudolf Garsche schon 1949, »um dessen Klärung seit einem halben Jahrhundert die Pädiatrie, die pathologische Anatomie und die forensische Medizin ernsthaft bemüht sind« - bislang vergebens.

Während in diesem Zeitraum die Sterblichkeitsziffern bei allen »klassischen Kinderkrankheiten«, wie Rachitis, Scharlach, Diphtherie und Kinderlähmung, stark zurückgingen, blieb »die Zahl der plötzlichen Todesfälle« - wie Dr. Renate Dische von der staatlichen Gesundheitsbehörde in New York unlängst feststellte - »konstant hoch«. Das Nachrichtenmagazin »Newsweek« verglich das Dilemma mit der Gefahr, die noch vor wenigen Jahren von der Polio heraufbeschworen wurde.

Die Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel. Immer wieder bietet sich ihnen die gleiche, symptomlose Vorgeschichte dar: Ein anscheinend gesunder Säugling wird abends gefüttert und zu Bett gebracht. Morgens ist das Kind tot.

Keine Theorie vermochte dieses Phänomen hinreichend zu klären. Ursprünglich hatten die Ärzte vermutet,

- daß das Kind unter dem Körper

der schlafenden Mutter oder unter der Bettdecke erstickt - eine These, die heute »nur noch historisches Interesse besitzt« (so die Erfurter Pathologen Werner Wöckel und Wolfgang Raue);

- daß die Thymusdrüse* anschwillt, die Luftröhre einengt und dadurch ebenfalls den Erstickungstod bewirkt - eine Annahme, die kritischer Nachprüfung nicht standhielt und mittlerweile ebenfalls »jede Anerkennung und Bedeutung verloren hat« (so der Freiburger Pädiatrie-Professor Erich Rominger).

Schließlich zogen englische Forscher 1960 eine Milch-Allergie als mögliche Todesursache in Betracht. Ihre Hypothese gründete sich auf die Beobachtung, daß Meerschweinchen starben, nachdem ihnen die Ärzte geringe Milchmengen in die Luftrohre geträufelt hatten. Die Tiere gaben ihr Leben »ruhig und ohne Kampf« auf.

Die Todesursache war ein sogenannter anaphylaktischer Schock. Er kann bei vielen Säugetieren immer dann auftreten, wenn zum Beispiel bestimmte Milcheiweißstoffe, gegen die der Körper allergisch ist, direkt in die Blutbahn des Lebewesens gelangen. Folge: Das Atemzentrum wird gelähmt.

Für die Theorie der englischen Ärzte schien zu sprechen, daß viele Säuglinge tatsächlich - wie Meerschweinchen - allergisch gegen Kuhmilcheiweiß sind. Mithin war denkbar, daß ein anaphylaktischer Schock auftritt, sobald dem Säugling nach einer Mahlzeit die Milchnahrung aufstößt und dabei Milchspuren in die Luftröhre befördert werden. Durch den Atmungsprozeß können dann Eiweißstoffe in die Blutbahn geraten.

Zumindest eine merkwürdige Erscheinung aber ließ sich auch mit dieser plausibel anmutenden Theorie nicht deuten: daß die SUD-Fälle sich in den Wintermonaten häufen. Wäre allein oder hauptsächlich die Milch-Allergie die Todesursache, so hätten die Statistiker eine gleichmäßige Verteilung der Todesfälle über das ganze Jahr hinweg feststellen müssen.

Selbst die Pathologen oder Gerichtsmediziner, die in vielen Ländern zur Leichenöffnung (Autopsie) verpflichtet sind, wenn die Todesursache bei der Leichenbeschauung nicht eindeutig festgestellt werden kann, vermochten nur selten »hinreichende Gründe für den SUD-Tod anzugeben«, wie das angesehene »New England Journal of Medicine« in den USA notierte. Die deutschen Pathologen Wöckel und Raue, die mehr als 50 wissenschaftliche Arbeiten über SUD-Ursachen analysierten, stellten fest: »Die Zahl der Fälle, deren befriedigende ... Klärung (durch Autopsie) nicht gelingt, schwankt.... außerordentlich.«

In der Tat weisen die von den beiden Wissenschaftlern angeführten Untersuchungsberichte frappierende Widersprüche auf. So will ein Ärzte-Team bei 42 SUD-Autopsien in jedem einzelnen Fall die Todesursache mit Sicherheit ermittelt haben. Andere Forscher untersuchten 145 Fälle und sahen sich außerstande, davon auch nur in einem einzigen Fall die Ursache exakt nennen zu können.

Amerikanische Forscher schließlich präsentierten eine Art Mittelwert: Dr. Hans Smetana, Pathologe am Walter-Reed-Hospital in Washington, konnte bei 70 Prozent von insgesamt 437 Autopsien, die er im Zeitraum von vier Jahren vornahm, keinerlei Hin-weis auf die Todesursache entdecken - »ein erschreckend hoher Anteil«.

Die deutschen Forscher Wöckel und Raue hatten derartige Widersprüche auf die »subjektive Bewertung« der Befunde durch die Pathologen zurückgeführt. Manche Pathologen sahen zum Beispiel Spuren krankhafter Gewebsveränderung als zwingende Todesursache an. Vor allem häufig festgestellte Gewebsveränderungen an Bronchien und Lungen, die auf eine Bronchitis oder Lungenentzündung hindeuteten, legten die Vermutung nahe, daß »die meisten Kinder dem ersten Ansturm einer Infektion erliegen«.

Wiederum: Nur bei einem kleinen Teil der Fälle - Pädiater Rominger spricht von ein bis drei Prozent - konnte aber diese Vermutung durch Nachweis der Infektionserreger (Bakterien oder Viren) erhärtet werden.

Angesichts dieses Wirrsals wollen amerikanische Ärzte unter Leitung der New Yorker Wissenschaftlerin Dr. Renate Dische jetzt einen neuen, großangelegten Versuch unternehmen, das SUD-Phänomen zu klären: Am Bellevue Medical Center, einer der renommiertesten medizinischen US-Hochschulen, soll künftig unter strengsten wissenschaftlichen Bedingungen bei jedem Kind eine Autopsie gemacht werden, das in Manhattan »plötzlich und unerwartet« stirbt.

* Thymusdrüse: eine Drüse im Brustbereich, deren Funktion noch nicht hinreichend erforscht ist.

Pathologin Dische: Jeder vierte Säuglingstod bleibt ungeklärt

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