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LITERATUR Poesie der blauen Pillen

Philip Roths Roman »Der menschliche Makel« erzählt vom Leben eines schwarzen Helden im Ausnahmezustand.
aus DER SPIEGEL 53/2009

Die Jahrtausendfeier war kaum verebbt, da erschien in den USA der neue Roman eines 67 Jahre alten Schriftstellers, dessen Meisterschaft längst unbestritten war - aber dieser Roman, »The Human Stain« von Philip Roth, überraschte in seiner Kraft und Makellosigkeit selbst die größten Bewunderer des Autors. Souverän führte Roth vor, wie sehr auch im 21. Jahrhundert mit der Literatur als Medium des Empfindens und Erkennens zu rechnen ist. »The Human Stain« ("Der menschliche Makel") ist ein Schlüsselwerk der Epoche, eines jener Bücher, die mit zeitlichem Abstand noch besser zu würdigen sind.

Drei große Themen der zu Ende gehenden Dekade sind es, deren Grundakkorde hier schon angeschlagen werden.

Roths Roman beginnt im Sommer 1998, »in dem Bill Clintons Geheimnis in allen demütigenden Einzelheiten enthüllt wurde«. Der geradezu besessene Furor, mit dem die Oralsex-Affäre des Präsidenten mit einer Praktikantin im Weißen Haus aufgedeckt und an die Öffentlichkeit gezerrt wurde, ist ein Menetekel für den wachsenden Verlust der Intimsphäre.

Roth veranschaulicht die Gefahren für das Individuum am Beispiel einer jungen Dozentin, die heimlich in den Romanhelden Coleman Silk verliebt ist, den ehemaligen Dekan der Universität. Spätabends spielt sie im Büro mit dem Gedanken, per Kontaktanzeige einen Mann wie Silk zu suchen, und macht einige Entwürfe - doch statt danach die Löschtaste zu drücken, verschickt sie den unfertigen Text versehentlich als elektronische Rund-Mail an ihre Kollegen, unwiderruflich.

Die Panik der Frau angesichts der selbstverschuldeten Preisgabe ihrer geheimen Wünsche, angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass ihre Mail noch weitere Kreise ziehen wird, schildert Roth mit großer Dramatik. »Als sie versucht, sich zu fassen und einen Plan zu entwickeln, stellt sie fest, dass denken unmöglich ist«, heißt es, »nur das Durcheinander ist möglich, die Spirale der Stumpfheit, die aus der Angst geboren ist.«

Coleman Silk dagegen, der in jenem Sommer 71 Jahre alt ist, hält seine Geheimnisse verborgen. Einem Freund immerhin gesteht er, Viagra zu nehmen, jene blaue Pille, die im Jahr 1998 frisch auf den Markt kam und von der Roth 2002 in einem Gespräch sagte, dass es sich »um eine der größten Revolutionen in der menschlichen Geschichte« handle, »eine erotische Transformation von mythologischer Dimension«. Sein Weitblick war beachtlich: »Der menschliche Makel« dürfte der erste Roman von internationalem Erfolg sein, in dem ein Protagonist zu diesem Mittel greift.

»Ohne Viagra könnte ich in den letzten Jahren meines Lebens fortfahren, die weite, unpersönliche Perspektive eines erfahrenen und in Ehren pensionierten Mannes zu entwickeln, der die sinnlichen Genüsse des Lebens schon längst aufgegeben hat«, sagt Silk.

Mit dem zentralen Thema des Romans aber nimmt Roth, wenn auch indirekt, den gewaltigsten Umbruch vorweg: die Wahl eines schwarzen US-Präsidenten im November 2008.

Coleman Silk, der Professor für klassische Literatur, trägt nämlich noch ein viel größeres Geheimnis als seine Viagra-Abhängigkeit mit sich herum, ein Lebensgeheimnis: Er gehört zu jenen Schwarzen mit heller Haut, die als Weiße durchgehen können, wenn sie wollen. Silk wollte: Er hat sich bei passender Gelegenheit die Identität eines jüdischen Intellektuellen zugelegt und so am College seinen Weg gemacht.

Das Versteckspiel eines Farbigen, der seine Herkunft trotz erfolgreicher Universitätslaufbahn noch 1998 verleugnen muss, die Wahl Barack Obamas zehn Jahre später - was könnte den Verlauf dieser Dekade besser markieren. Roth nannte Obama nach der Wahl den »wahrscheinlich intelligentesten Präsidenten seit Thomas Jefferson«. Obama wiederum zählt den Schriftsteller zu jenen jüdischen Intellektuellen, die ihn stark beeinflusst haben.

»The Human Stain«, im Frühjahr 2000 erschienen, dieses Buch eines alten Meisters, war zugleich der Auftakt für ein großes Jahrzehnt des US-Romans, Vorläufer so gewichtiger und umfangreicher Werke wie »Die Korrekturen« (2001) von Jonathan Franzen, »Middlesex« (2002) von Jeffrey Eugenides, »Der Klang der Zeit« (2003) von Richard Powers, »Die Lage des Landes« (2006) von Richard Ford - und auch »Verschwörung gegen Amerika« (2004) von Roth. Der in diesem Jahr auf Deutsch veröffentlichte Roman »Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace gehört nicht in diese Reihe: Im Original ist er nämlich schon lange vorher, 1996, erschienen. Doch trotz der würdigen Nachfolger: Übertroffen wurde »Der menschliche Makel« nicht.

Literatur kann prophetisch sein. Nicht im plumpen Sinn einer Prognose, sondern als atmosphärische Vorwegnahme. Hellsichtigkeit hat nichts mit Hellseherei zu tun. Es ist die Fähigkeit von Schriftstellern wie Roth, gesellschaftlichen Wandel früh zu erspüren, sich die späteren Auswirkungen von Ereignissen vorstellen, sie in die Zukunft verlängern zu können.

Nicht allein seiner aufregenden Motive, sondern ebenso seiner formalen Brillanz wegen ist »Der menschliche Makel« ein künstlerischer Meilenstein. Philip Roth hat gleich zu Beginn dieses Jahrzehnts einen Standard für die Romankunst gesetzt. VOLKER HAGE

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