

Politische Kommunikation in der Pandemie Ein großer Eimer sozialdemokratischer Floskeln


Kinder in der Krise: »Die Verlierer des Lockdowns«
Foto:KARRASTOCK / Getty Images
So rein handwerklich betrachtet mausern sich unsere Regierenden gerade zu richtigen Malermeistern. Kurz vor dem anstehenden Wahlkampffrühling verpassen sie ihren Aussagen mit großen rhetorischen Pinseleien einen ziegelroten Anstrich, der farblich nach opportuner Fürsorge schreit.
Ich erinnere mich noch gut an diese eine Anne Will-Sendung vom April letzten Jahres, in der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet »den Virologen« vorgeworfen hat, »alle paar Tage ihre Meinung zu ändern«. Mit großer Leidenschaft argumentierte er für das Kindeswohl und drängte mit großer Sorge um die heranwachsenden Psychen auf eine schnelle Öffnung der Schulen.
Zugleich wunderte er sich, dass die Schulen in NRW öffnen sollten, obwohl sie nicht richtig ausgestattet seien. Es fehle an Seife und Desinfektionsmittel. Aber verantwortlich für die Schulen sei nicht er, der Ministerpräsident, sondern eben die Kommunen und Städte. Und die Schulministerin Yvonne Gebauer habe ja Desinfektionsmittel und Seife besorgt und den Schulen angeboten, obwohl das gar nicht ihre Aufgabe sei, führte er aus.
Laschet, der Besorgte
Zwei Wochen vorher hatte Laschet folgenden Appell getwittert: »Aufstieg durch Bildung war das Versprechen für mehr soziale Gerechtigkeit. Was bedeutet es, Schülern wochenlang den Schulbesuch zu verweigern? Zur schwierigen Abwägung gehört es auch, über soziale Folgen und Verlierer des #lockdown zu sprechen.«
Außer den Kindern rückte er weitere Personengruppen in den Fokus seiner Fürsorge: »Auch jetzt verursacht der Lockdown gesundheitliche Schäden durch verschobene Operationen und Reha-Maßnahmen, durch Depression, Einsamkeit, häusliche Gewalt und Kindeswohlgefährdung.«
Im »heute-journal« erklärte Laschet am Dienstag: »Ich habe an das gesamte Klima gedacht. Ich sehe manche Umfragen, wo immer noch viele Menschen sagen, das ist alles richtig. Manche sagen, es müsste noch härter werden. Und ich plädiere ja immer noch dafür abzuwägen. Auch das Kindeswohl in den Blick zu nehmen.«
Und an anderer Stelle, vor einer Woche, bei der Unterrichtung des Landtags im Nachgang der Bund-Länder-Gespräche, verkündete er: »Schulen und Kitas sind mehr als Orte des Lernens. Es sind Sozialräume, die für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen elementar sind.«
41 Luftfilteranlagen – leider nicht in Schulen
Offensichtlich sorgt sich Laschet seit fast einem Jahr öffentlich um die Kinder während der Pandemie. Dazwischen waren Sommerferien, Weihnachtsferien und sicher die Möglichkeit – wie bei den Seifen und Desinfektionsmitteln auch – die Schulen trotz Kommunenzuständigkeiten zu unterstützen. Und dennoch öffnen nun diese »elementaren Sozialräume des Lernens«, ohne zuvor alle Schüler*innen und Lehrer*innen zu testen, ohne die Lehrkräfte zu impfen, ohne landesweiten Einsatz von Luftfiltern – während gleichzeitig im Landtag in Düsseldorf 41 Luftfilteranlagen aufgestellt werden.
Auf der einen Seite kommunizierte Besorgtheit, auf der anderen unvorbereitete Öffnungen. Bei dieser Diskrepanz stellt sich – auch abgesehen von NRW und Laschet – die Frage: Warum ist die Anteilnahme am Wohlergehen der Kinder in der politischen Kommunikation plötzlich so populär, spiegelt sich aber nicht in den Handlungen wider?
Plötzlich fürchten Politiker*innen um das Kindeswohl und Bildungsbenachteiligungen. Natürlich zu Recht, doch diese aktuelle Aufmerksamkeit steht im Gegensatz zum vorigen Desinteresse – denn anders kann man die Fehler in der Bildungspolitik, in Sachen Digitalisierung, in der Herstellung von Chancengleichheit und im allgemeinen Kindesschutz, die zuvor ganz ohne Pandemie gemacht wurden, nicht interpretieren.
Unabhängig von der parteilichen Couleur nennt man diese rhetorischen Umlenkungen auf Themen des sozialen Handelns »Redwashing«. Mit einem großen Eimer sozialdemokratischer Floskeln malt man großzügig eine dicke Schicht Gemeinwohlorientierung auf sozialpolitische Empfehlungen, die aber oftmals eben auch was anderes sind: marktfördernd.
Nachhaltig wie Nespresso
In ihrer Öffentlichkeitsarbeit betreiben Unternehmen gelegentlich sogenanntes »Greenwashing« und »Pinkwashing«, das heißt, man spendiert der eigenen PR, der Firma, der Marke eine ökologische oder LGBTQI-inkludierende Tönung, um seine Produkte moralisch aufzuwerten und sie besser verkaufen zu können. Kaffee-Kapsel-Hersteller Nespresso zum Beispiel versucht, sich vom Image des Aluminiumsünders zu befreien, indem er seine Werbekampagnen mit costa-ricanischem Regenwald und einem emphatisch »Nachhaltigkeit!« rufenden George Clooney tapeziert.
Auch in der Politik funktioniert diese Schönfärberei ganz hervorragend, wenn Konservative und Liberale plötzlich ihr besorgt klopfendes Herz für Kinder entdecken. Und auch wenn man die Wahrhaftigkeit der Intentionen nicht in Abrede stellen will, fällt auf, dass sich, wenn Wirtschaftsinteressen und ein exponiertes Handeln im Namen der Schwachen zufälligerweise überschneiden, der Gerechtigkeitspathos auf einmal schillernder zu glänzen scheint.
Armin Laschet ist ein anschauliches, aber natürlich nicht das einzige Beispiel für diesen Spagat zwischen einer behaupteten Sorge und der eigenen Politik. Am 1. Januar 2021 twitterte Friedrich Merz: »Was mich am meisten beschwert, ist nicht der ökonomische Schaden durch den Lockdown, sondern der massive Schaden in der Bildung unserer Kinder durch die geschlossenen Schulen. Darunter leiden vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien.«
Wie sehr er sich tatsächlich um ökonomisch schwache Familien sorgt, merkt man schon allein daran, dass er sie in seinem Tweet mit der Formulierung »sozial schwach« abwertet und sich dessen offensichtlich nicht einmal bewusst ist.
Auch hier sind die Worte außen rot lackiert und innen Press(e)span, die verkaufende Farbe blättert laut ab und bringt den Opportunismus zum Vorschein, denn gleichzeitig empfahl der ehemalige Kandidat für den CDU-Vorsitz, gründlich zu überdenken, welche staatlichen Ausgaben während der Krise wirklich notwendig seien: »Wir sollten nach der akuten Krise alle staatlichen Leistungen von Bund, Ländern und Gemeinden auf den Prüfstand stellen«, sagte er im Mai 2020 der »Passauer Neuen Presse«.
In der politischen Kommunikation müssen auch Menschen mit Depressionen als unfreiwillige Kronzeugen für notwendige Lockerungen herhalten, als ob sie nicht schon genügend Probleme hätten. Würde es tatsächlich um die Betroffenen gehen, würden politische Entwürfe nicht bei der Forderung nach Öffnung des sozialen Lebens stehen bleiben, sondern bereits seit einem Jahr eine bessere therapeutische Versorgung gewährleisten.
Politiker als Therapeuten der Nation
Vor der Pandemie waren Menschen mit Depressionen nicht unbedingt eine Bevölkerungsgruppe, der politische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Jetzt ist plötzlich jeder dritte Politiker Therapeut der Nation. Meine Kritik gilt nicht dem Umstand, dass geäußerte Sorgen existieren und auch artikuliert werden, im Gegenteil, sie sind berechtigt. Meine Kritik ist, dass sie erst jetzt da zu sein scheinen, wo es gut in die eigene politische Agenda passt.
In Reaktion auf einen »Tagesthemen«-Artikel, der die Verschärfung sozialer Ungerechtigkeiten durch Corona behandelte, twitterte Olaf Scholz am 26. Januar: »Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig ein robuster Sozialstaat ist. Nach der Krise stellt sich umso mehr die Frage nach der Gerechtigkeit im Steuersystem. Diejenigen, die sehr viel verdienen, können einen größeren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.«
Ach, hätten wir doch nur seit über einem Jahrzehnt Leute von einer Partei in der Regierung, die sich irgendwie mit dem Sozialstaat auskennt. Besonders toll wäre es, wenn das »sozial« gleich im Parteinamen stünde.
All diese Probleme waren vor der Pandemie bekannt. All diese Probleme lagen auch schon vor der Pandemie verwaltbar in den Händen derer, die sie jetzt als klagenden Grund für Lockerungen anführen. Bitte lehnen Sie sich nicht zu sehr an diese politischen Zaunpfähle – sie wurden offenbar gerade erst frisch gestrichen, denn alles rot macht der Meinungsmacher.