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KAFKA Prager Frühling

aus DER SPIEGEL 30/1963

Etwa vor drei Wochen«, schrieb Franz Kafka an seine Schwester Ottla, »habe ich in der Nacht einen Lungenblutsturz gehabt. Es war etwa vier Uhr morgens, ich wache auf, es kommt mir seltsam vor, daß ich soviel Speichel im Mund habe, ich spucke ihn aus, mache nun doch Licht, zu meinem Erstaunen ist es eine Lache Blut ... Es sah so aus, als ob es überhaupt nicht mehr aufhören wollte. Wie sollte ich das Loch stopfen, wo ich es doch nicht geöffnet hatte.«

Worüber Kafka in seinem bisher unbekannten Brief vom August 1917 berichtete, war das erste ernsthafte Symptom einer Krankheit, die ihm sieben Jahre später den Tod brachte.

In diesem Sommer ist derselbe Brief Symptom für die Wiedererweckung des Prager Schriftstellers Franz Kafka in seinem böhmischen Geburtsland.

Für lange Jahre waren Kafkas Roman-Parabeln östlich des Eisernen Vorhangs als »Ausdruck spätbürgerlichen Kulturzerfalls, der Dekadenz, Ausweglosigkeit, des schlechthin Inhumanen« - so der Leipziger Germanist Hans Mayer - in Bann getan. In der Sowjet-Union und der DDR sind seine Bücher bis heute noch nicht aufgelegt, in Warschau wurden sie erst nach dem Polnischen Oktober von 1956 zur Lektüre freigegeben.

Länger noch als ihre polnischen Nachbarn mußten die tschechoslowakischen Intellektuellen auf die Renaissance ihres 1924 verstorbenen Halb-Landsmannes warten. Zwar erschien 1958 eine erste tschechische Übersetzung des Romans »Der Prozeß«, deren Auflage von 10 000 Exemplaren innerhalb weniger Stunden verkauft war; verlegt wurden außerdem die Roman-Fragmente »Das Schloß« und »Amerika«. Doch zu einer, endgültigen Rehabilitierung des deutsch-jüdischen Schriftstellers aus Prag kam es nicht.

Seit diesem Frühjahr ist der bisher meistversprechende Wiederbelebungsversuch im Gange. Er begann Ende Mai dieses Jahres mit einer internationalen Tagung zum 80. Geburtstag Franz Kafkas, zu der die Tschechische Akademie der Wissenschaften aufs ehedem Lobkowitzsche Schloß Liblice bei Prag geladen hatte, und wurde im neuesten Heft der Literaturzeitschrift »Plamen« (deutsch: Flamme) mit dem Abdruck bisher unveröffentlichter Kafka-Briefe und zweier Essays über Kafkas Werk rüstig weiterbetrieben.

Denn die Zeit zu einem - wenn auch gemäßigten - Liberalismus in der tschechoslowakischen Kunst und Literatur schien, trotz des jüngsten Moskauer Kultur-Winters, jetzt endgültig reif. Während im »Prager Frühling«, dem 18. Musik-Festival an der Moldau, mit den Weisen des 1959 verstorbenen Exil-Tschechen Bohuslav Martinu und mit den Kompositionen Igor Strawinskys, Benjamin Brittens und Luigi Nonos aufgespielt wurde, waren überdies auch die Autoren der CSSR zusammengekommen, um auf ihre Art Prager Frühling zu feiern: Auf ihrem III. Schriftstellerkongreß, dem ersten seit dem Revolte-Jahr 1956, bemühten sie sich, den in der Tschechoslowakei besonders lang konservierten Kultur -Stalinismus vollends zu liquidieren.

Ähnlich unbekümmert-liberal und von keinerlei Partei-Doktrin beeinträchtigt ging es zur selben Zeit auch unter den mehr als hundert zumeist marxistischen Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Schriftstellern und Journalisten zu, die Kafka zu Ehren nach Liblice gereist waren. Aus Frankreich war der Philosophie-Professor Roger Garaudy, von der Warschauer Universität der Germanistik-Professor Roman Karst gekommen. Anwesend war der Wiener Literaturhistoriker Ernst Fischer, waren Gäste aus Ungarn und Jugoslawien, anwesend eine DDR-Delegation mit Anna

Seghers. Der in Israel lebende Kafka -Freund und Testamentsvollstrecker Max Brod schickte einen Entschuldigungsbrief.

Die Internationale marxistischer Germanisten auf Liblice war endlich gewillt, dem im Osten lang verschollenen Werk Kafkas nachzuforschen, den mit Eifer betriebenen Kafka-Disput ihrer bürgerlichen Kollegen fortzuführen und die internationale Kafka-Literatur (bisheriger Umfang: rund 5000 Interpretationen) um weitere Titel zu bereichern.

Eine der bedeutsamsten Untersuchungen lieferte fürs erste Eduard Goldstücker, ehedem tschechoslowakischer Botschafter in Israel, der 1953 wegen »Schädlingstätigkeit« und Arbeit für die »zionistische Verschwörung« zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt wurde und, 1956 amnestiert, heute als Ordinarius an der Prager Karls-Universität lehrt.

»Wir dürfen«, erkannte Goldstücker, »unter dem allumfassenden und undefinierten Begriff 'Dekadenz' nicht summarisch alle künstlerischen Strömungen

verurteilen, die anderen als unseren Voraussetzungen entspringen und Werke schaffen, die unserer Methode und unserem Geist zuwiderlaufen.«

»Kafka«, verdeutlichte der Wiener Marxist Ernst Fischer, »ist ein Dichter, der uns alle angeht. Die Entfremdung des Menschen, die er mit höchster Intensität durchlebte, ist ... in der sozialistischen Welt mit Bestimmtheit nicht endgültig überwunden.«

Und der französische KP-Theoretiker und Alt-Stalinist Roger Garaudy sekundierte: In gewissem Sinne ist Kafkas Werk ein Appell an unser kommunistisches Gewissen, ein Aufruf zum Kampf gegen alles, was sich noch in unserem Leben der Kontrolle des Menschen in den Beziehungen zwischen Individuum und Kollektiv entzieht.«

»Plamen«-Chefredakteur Jiri Hájek schließlich forderte, völlig im Widerspruch zu dem Hans-Mayer-Schüler und DDR-Germanisten Helmut Richter, dem Kafka offenbar nicht allzu bedeutsam schien, daß Kafkas Gesamtwerk um jeden Preis gedruckt und diskutiert werden müsse.

In seiner literarischen Monatsschrift hat Hájek inzwischen die auf Liblice begonnene Exhumierung fortgesetzt: Er ließ eine kritische »Einführung in die Welt Franz Kafkas« von Eduard Goldstücker abdrucken und nach literarhistorischen Vergleichen zwischen dem Apokalyptiker Kafka und dem satirischen »Schwejk«-Autor Jaroslav Hasek fahnden; er veröffentlichte zwei kurze Kafka-Novellen und erkannte, in einer Vorbemerkung, sogar eine entfernte Geistesverwandtschaft des »Prozeß«-Autors, der sich in einem der jetzt aufgefundenen Briefe einmal einen »Halb-Deutschen« nannte, mit dem Prager Kommunisten und »Rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch: »Es besteht kein weife, daß Kafka, zusammen mit Kisch, von allen deutschen Schriftstellern Prags am meisten zu uns gehört.«

Die Reklamation des Prager Intellektuellen Hájek galt nicht nur Kafka als dem Prager Bürger; sie galt zugleich einem Autor, der, seinem deutschen Biographen Klaus Wagenbach zufolge*, mit tschechischen Anarchisten und Kommunisten sympathisiert und sogar einen Plan für eine »besitzlose Arbeiterschaft« entworfen hatte.

Über Kafkas politische Aktivität und über seine enge Bindung zum Tschechischen allerdings geben die siebzehn erstmals veröffentlichten »Plamen -Briefe keine Auskunft.

Die publizierten Handschriften aus den Jahren 1917 bis 1924, Bestandteil eines Funds von rund 280 Briefschaften, die vergangenes Jahr im Nachlaß der im KZ Auschwitz vergasten Kafka -Schwester Ottla entdeckt wurden - 103 von ihnen sind an Ottla adressiert, vier in tschechischer Sprache geschrieben, acht weitere, von Kafkas Freund Robert Klopstock verfaßt, informieren über die letzten Tage vor Kafkas Tod -, sind vielmehr Dokumente eines Einzelgängers und Zeugnisse familiärer Zuneigung.

Doch auch so bleiben sie für Kafkas westöstliche Biographen und Interpreten von besonderem Interesse: Ihr Autor beschreibt in ihnen, rigoros und detailliert wie in bisher keinem anderen bekannten Selbstzeugnis, den offenen Ausbruch seiner Krankheit zum Tode.

Das »Gurgeln im Hals«, von dem er seiner Schwester Ottla im August 1917 berichtete und das ihm der Arzt als Lungenspitzenkatarrh diagnostizierte (Kafka: »Das ist ein Wort, wie wenn man zu jemandem Ferkel sagt, wenn man Schwein meint"), hatte Kafka als Symptom der »einzig richtigen« Krankheit erkannt - der Schwindsucht.

»Dies ist«, so gestand er, »der größte Kampf, der mir auferlegt, oder besser: anvertraut wurde, und der Sieg ... das heißt ein Sieg mit irgendwie erträglichem Blutverlust, würde in meiner privaten Weltgeschichte etwas Napoleonisches an sich haben. Nun ja, aber es hat den Anschein, daß ich diesen Kampf wohl verlieren werdet.«

Kafka verlor seinen Kampf, den er, allzu passiv, fast noch sieben Jahre lang bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924 in einem Sanatorium bei Wien führte. Zu einer Therapie war er, solange sie noch Erfolg versprach, nicht bereit. In seinem Tagebuch notierte er: »Ich lasse meine Not Not bleiben: Ich lege die Sümpfe nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst.«

»Kafkas Haltung«, dozierte der tschechische Altkommunist Pavel Reimarm auf Schloß Liblice, »kann unmöglich zum normalen Lebensgefühl eines Menschen werden, der aktiv am Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft teilnimmt. Wir schätzen Kafka als Schriftsteller, der ehrlich die Wahrheit suchte.«

In Zukunft soll, so jedenfalls wurde im Prager Frühling geplant, der unerbittliche Wahrheitssucher Franz Kafka seinen tschechischen Halbbrüdern beim Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft nun endlich behilflich sein.

Der tschechoslowakische Nationalverlag will im nächsten Jahr eine Edition des Kafkaschen Gesamtwerkes beginnen. Weiterhin vorgesehen sind eine Neudramatisierung des »Prozeß« im Prager »Theater am Geländer« und eine »Schloß«-Pantomime.

* Klaus Wagenbach: »Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend«. Francke Verlag, Bern; 346 Seiten; 24,50 Mark.

* Da die deutschen Originale, im Besitz der Kafka-Nichten Vera Saudková und Helena Kostrouchová, zur Zeit nicht verfügbar sind, wurden die zitierten Briefstellen aus dem Tschechischen rückübersetzt.

Autor Kafka. Schwester Ottla: Tod im Sumpf

Kafka-Experten Goldstücker, Anna Seghers auf Liblice: Renaissance im Schloß

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