BÜCHER Prinzip Erfahrung
In seinem neuen Buch ("Die Hoffnung Blochs") läßt Helmut Schelsky auf Seite 60 en passant wissen, daß er, als Student der Philosophie, überzeugter Nationalsozialist gewesen sei.
Im Jahre 1933 habe er, heißt es dort, eine Schrift veröffentlicht, die den Titel »Sozialistische Lebenshaltung« trug. Aus dieser Schrift zitiert Schelsky nun sich selbst: »Sozialismus ist das, was man unter dem Namen Moral so lange vergebens gesucht hat« -- und fügt dann, das Zitat gegen sich selber spitzend, hinzu, daß er damals unter Sozialismus nichts anderes verstanden habe als Nationalsozialismus.
Warum Schelsky, dessen soziologisches Lebenswerk heute von allen Bundestagsparteien als verdienstvoll geschätzt wird, jetzt seine eigene, seit vielen Jahren bekannte NS-Vergangenheit zur Sprache bringt, hat einen überraschenden Grund. Er besteht darin, daß eben jener (von Schelsky als Beweisstück seiner einstigen NS-Gesinnung herausgestellte) Satz, wonach Sozialismus die so lange vergebens gesuchte Moral sei, auch in dem philosophischen Hauptwerk Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung« steht -- dort allerdings ganz anders gemeint ist.
Selbstverständlich verstand der utopische Sozialist Bloch unter Sozialismus den marxistischen Sozialismus, und nicht den Nationalsozialismus. Gleichwohl wirft Schelsky die Frage auf, ob es, trotz dieses Unterschieds, nicht doch Kongruenzen zwischen den beiden Sozialismen und ihren Anhängern gebe.
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, warum Schelsky das nunmehr vorliegende Buch über Bloch geschrieben hat, dessen Philosophie der Hoffnung in den sechziger Jahren zur vorherrschenden an den Universitäten wurde. Für Schelsky ähneln sich die nationalsozialistische akademische Jugend von 1933 und die Bloch-geprägten Studenten von 1970 schon hinsichtlich Stimmung und Engagement: » Waren die jungen Nationalsozialisten und Faschisten nicht genauso von »Hoffnungen' beflügelt wie die jungen Marxisten von gestern und heute?«
Darüber hinaus aber glaubt Schelsky, auch inhaltliche Übereinstimmungen der Studenten-Philosophien von 1933 und 1970 erkennen zu können. So verweist er darauf, daß sowohl der Nationalsozialismus als auch der Marxismus »Kollektivsubjekte« zu »Trägern des Weltverständnisses« gemacht haben -- der Nationalsozialismus »Volk« und »Nation«, der Marxismus »Klasse« und »Gesellschaft«.
Dadurch aber werde das individuelle Bewußtsein der materiellen und moralischen Verantwortung für die eigene, begrenzte Lebensspanne geschwächt. Dadurch würden auch Wertvorstellungen wie Freiheit der Person, Freiheit der Wissenschaft und Freiheit der Meinungsäußerung heruntergestuft, bis schließlich nur noch »höchste Endzwecke« wie Glück der Nation oder die klassenlose Gesellschaft als moralisch gelten könnten. Schelsky: »Dieses »Prinzip Hoffnung' eignet sieh ausgezeichnet zur moralisch-gesinnungshaften Außerkraftsetzung des freiheitlichen Rechtsstaates«
Blochs Übersteigerung des Prinzips Hoffnung ist, laut Schelsky, nicht nur moralisch, sondern auch praktisch und politisch gefährlich. Blochs Philosophie versetze junge Menschen in »den Zustand einer »enttäuschungsfesten' Dauereingestimmtheit positiver Zukunftserwartungen«, schwäche dadurch aber deren Sinn für die Realität und führe zur »völligen Entwertung der Gegenwartserfahrung des einzelnen Menschen«.
In diesem Zusammenhang macht Schelsky einen bemerkenswerten Unterschied zwischen dem regierenden Marxismus Osteuropas und dem westeuropäischen Neomarxismus. Am (leninistischen) Marxismus Osteuropas rühmt er den Willen, Realität zu respektieren, und die Fähigkeit der Wirklichkeitserfahrung. An dem Blochschen Neomarxismus tadelt er die Tendenz zur Emotionalisierung und »Erfahrungsverweigerung«, die sich aus der chiliastischen Zukunftserwartung des vom jungen Marx proklamierten »Reiches der Freiheit« ergibt. Jenen hält er für politisch verantwortlich, diesen für gefährlich.
Schelsky nimmt damit einen Gedanken Arnold Gehlens aus dem Jahre 1969 auf, der zum ersten Mal darauf hinwies, daß es zwischen der Philosophie des westdeutschen Konservatismus einerseits und dem regierenden Kommunismus andererseits eine Brücke gibt -- nämlich das gemeinsame Interesse an Ordnung, Frieden und vorsichtiger Einschätzung der brisanten Realität Europas.
Gehlen kleidete damals diese Vorstellung in eine heftige Kritik am Intellektuellen-Kommunismus Westeuropas, dem er auch den damals in der CSSR gegen die Sowjets revoltierenden »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zurechnete. Er hielt dessen Revolutionarismus für gefährlich und begrüßte daher mehr oder weniger unverblümt den Einmarsch der sowjetischen Armee in die CSSR als eine Art Strafaktion der »letzten Ordnungsmacht« Europas.
Ähnlich argumentiert jetzt auch Schelsky contra Bloch. Dessen Philosophie, meint Schelsky, steigere »bewußt« die Weltkonflikte und verstärke sie »intellektuell und emotionell durch Gedankengespinste": Blochs Philosophie »dient nicht dem Weltfrieden«.
Im Gegensatz dazu komme, meint Schelsky, es heute darauf an, die »gemeinsamen Grundlagen und Interessen einer liberal und marxistisch vergrößerten Zivilisationsverantwortung« bewußt zu machen. Auch Schelsky plädiert also für eine Verständigung der konservativ-liberalen Kräfte des Westens mit dem regierenden Leninismus-Marxismus im Osten -- für eine Verständigung, die gegen »Emotionalisierung« und »Gedankengespinste« gerichtet ist und natürlich auch gegen Revolution.
Schelskys Bloch-Buch ist, wie er selber am Ende äußert, »in eigenem Schicksalserfahren verwurzelt«. Gemeint sind sicher das NS-Erlebnis des Autors und die daraus gewonnene Erfahrung, daß »Gedankengespinste«, Gefühlsagitation und Mißachtung der Realität schnell zu moralischen und materiellen Katastrophen führen. Zumal in Deutschland sollte, meint Schelsky' mehr dem »Prinzip Erfahrung« gefolgt werden als dem »Prinzip Hoffnung«.
Tatsächlich ist Schelskys Buch auch der Versuch, ein Gespräch der Generationen zustande zu bringen: ein Gespräch also zwischen den Studenten von 1930 und den von 1970. In dieser Hinsicht ist das Buch jedoch, fürchte ich, zu wissenschaftlich geraten. Mehr »eigenes Schicksalserfahren« wäre für ein Generationengespräch besser gewesen. Georg Wolff