MEDIZIN / ARTERIOSKLEROSE Pulver gegen Herztod
Der Arzt auf dem Rednerpult stellte sich als sein eigenes Versuchskaninchen vor. »Ich habe nur soviel Fett im Blut«, berichtete Dr. Robert Fuson, 35, »wie ein neugeborenes Baby.«
Sein Magerblut, so erläuterte Fuson Anfang dieses Monats vor einem Kollegen-Auditorium im Chicagoer Hilton-Hotel, verdanke er einem Pulver, das nach faulenden Fischen riecht: einem Kunststoff namens Cholestyramin.
Drei Jahre lang hat der US-Mediziner täglich vor Frühstück, Lunch und Abendbrot jeweils elf Gramm des Kunstharz-Pulvers geschluckt. Die Zukost, glaubt Fuson, Leiter eines Forscher-Teams der Duke University in Durham (US-Staat North Carolina), hat sich damit als Droge gegen die bedrohlichste Zivilisationskrankheit bewährt -- als Vorbeugungs- und Heilmittel gegen die Arteriosklerose.
Das Cholestyramin vermag, wie Fuson an sich selber, in Tierversuchen und bei nahezu hundert Patienten erprobte, den Körper vor übermäßiger Fettaufnahme zu schützen. Das pulverisierte Kunstharz soll sogar durch Arteriosklerose verhärtete Blutgefäße wieder geschmeidig machen.
Unnormal viel Fett im Blut, vor allem in Form von Cholesterin, ist nach Meinung der meisten Mediziner eine der Hauptursachen für die vorzeitige Abnutzung der Adern: Ihre Innenschicht quillt auf und wird von Fett durchsetzt. Der Blutstrom wird dadurch immer mehr beengt, die Gefäßwand zunehmend brüchiger. Herzinfarkt und Schlaganfall sind meist das Endstadium dieses Prozesses -- zugleich häufigste Todesursachen in den Ländern mit hohem Lebensstandard (Bundesrepublik: ein Drittel aller Todesfälle).
Alle Warnungen der Mediziner hielten die Wohlstandsbürger gleichwohl nicht von Diätsünden zurück. So stieg etwa der durchschnittliche Blut-Fettwert aller Patienten, die in der Medizinischen Universitätsklinik Erlangen untersucht wurden, im Jahrzehnt zwischen 1955 und 1965 von 180 auf 260 Milligramm pro 100 Kubikzentimeter Blut.
Seit langem suchen deshalb die Pharma-Forscher nach einem Mittel, das den Cholesterin-Spiegel senken könnte -- bislang ohne sonderlichen Erfolg. Wohl sind Medikamente bekannt, die in den Fettstoffwechsel des Körpers eingreifen; doch sie haben meist neben den erwünschten auch schädliche Wirkungen. Die US-Pharmafirma Merrell beispielsweise mußte im Jahre 1962 ihr Anti-Cholesterin-Mittel »MER-29« wieder vom Markt nehmen, weil viele Patienten durch die Behandlung ihrer Arteriosklerose eine schwere Augenkrankheit, den grauen Star, davongetragen hatten. Seither wurde in den Vereinigten Staaten nur ein einziges Medikament zugelassen, das die Synthese von Cholesterin im Organismus zu hemmen vermag. Ungewiß ist noch, wie sich diese Aufbau-Blockade auf die Dauer auswirkt -- das Cholesterin ist die Ausgangssubstanz für lebenswichtige Hormone.
Völlige Unschädlichkeit glauben nun aber Dr. Fuson und sein Team von der Duke University dem Cholesterinsenkenden Cholestyramin attestieren zu können. Denn das Kunstharz sei, wie Fuson in Chicago erläuterte, nicht eigentlich ein Medikament; es wirke vielmehr gleichsam wie ein Schwamm, der beim Durchwandern des Verdauungstrakts die sogenannte Gallensäure bindet und hinausbefördert.
Normalerweise bewirkt die Gallensäure, daß die Nahrungsfette von der Darmwand aufgenommen werden können. Wenn das Cholestyramin jedoch amen Teil dieser fettlösenden Säure absorbiert, gelangen auch weniger Fettstoffe -- und damit weniger Cholesterin -- ins Blut. Zudem wird ein schon vorhandener Cholesterin-Überschuß allmählich abgebaut.
Die ideal anmutende Wirkweise des gallebindenden Kunststoff s hätte schon früher genutzt werden können. wenn er nicht ekelerregend riechen und scheußlich schmecken würde. Erst als das amerikanische Arzneimittel-Unternehmen Mead Johnson & Co. vor drei Jahren ein genießbares Cholestyramin-Präparat entwickelte, konnte Fuson mit seinen Anti-Arteriosklerose-Experimenten beginnen.
79 Hunde, die er mit amerikanischer Hausmannskost fütterte, hatten nach einem Jahr einen auf das Achtfache des Normalwerts erhöhten Cholesterin-Spiegel und schwere Arteriosklerose; viele der Tiere starben an Schlaganfall oder Infarkt. 21 weitere Hunde hingegen, die außer demselben Fett-Futter das Cholestyramin fraßen, hatten nach zweieinhalb Jahren noch immer annähernd ihre normalen Cholesterin-Werte und waren frei von Arteriosklerose.
Die ersten Versuche am Menschen haben das Mediziner-Team von Durham in seinem Optimismus bestärkt:
> Das Präparat senkte den Cholesterin-Überschuß im Blut bei den Versuchspersonen von durchschnittlich 308 auf durchschnittlich 173 Milligramm je 100 Kubikzentimeter Blut -- also auf weitgehend normale Werte.
> Von 36 Patienten, die bereits an Arteriosklerose-Symptomen wie Angina pectoris oder gelinden Schlaganfällen litten, waren 32 nach mehrmonatiger Behandlung gänzlich oder teilweise beschwerdefrei.
> Drei der Versuchspersonen, die das Cholestyramin nicht weiter schluckten, wurden alsbald wieder so krank wie zuvor.
Schädliche Nebenwirkungen des Cholestyramins haben Fuson und seine Kollegen bislang nicht beobachtet, außer anfänglicher Verstopfung bei etwa 40 Prozent der Patienten.
An sich selbst freilich konnte Fuson -- neben dem Baby-Wert des Blut-Cholesterins -- noch einen unerwarteten Effekt der Kunstharz-Kur entdecken: Obwohl er sich nicht anders als früher beköstigt, hat Fuson einen halben Zentner Übergewicht verloren.