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Pop Punk im Weißen Haus

Die ehemaligen Underground-Bands Soul Asylum und The Lemonheads werden gesellschaftsfähig.
aus DER SPIEGEL 41/1993

Draußen kriecht die erste Kälte über den Münchner Asphalt. Drinnen, im Büro einer Plattenfirma, stapft Evan Dando über den Teppichboden und langweilt sich, weil der Strand von Sydney weit weg ist und er ans Surfen nicht einmal denken darf.

Nur mit einem verwaschenen grünen T-Shirt (Aufschrift: »Be a friend") und einer zerrissenen Jeans bekleidet, zieht der Popstar eine elektrische Lichterkette unter einem schwarzen Aktenschrank hervor. »Frohe Weihnachten«, sagt Dando, »verdammt, ist es jetzt Frühjahr oder Winter, Juli oder Dezember? Ich bin so lange um die Welt geflogen, daß ich keine Ahnung mehr habe, welches Datum wir eigentlich schreiben.«

Vielleicht sollte er sich eine Uhr kaufen oder wenigstens manchmal eine Zeitung? »Nein«, sagt Dando, »ich liebe die Verwirrung.«

In letzter Zeit bleibt ihm auch gar nichts anderes übrig: Nachdem er jahrelang nur von ein paar eingeschworenen Anhängern im Underground wahrgenommen wurde, steht der 26jährige blonde Sänger und Gitarrist der Band The Lemonheads jetzt vor dem internationalen Durchbruch.

Als »Post-Grunge-Elvis« rühmt die englische Zeitschrift New Musical Express sein Können, andere preisen vor allem die körperlichen Vorzüge des neu erkorenen Sex-Symbols. Das Sky Magazine sieht in ihm einen »globalen Girl-Magneten«, Vanity Fair den »süßesten Jungen im Alternativ-Rock'n'Roll«, und der britische Melody Maker fragte neidisch: »Muß man Typen wie ihn nicht hassen?«

Tatsächlich hat Dando öfter mit Mißgunst zu kämpfen. Vor allem die Fans der ersten Stunde sehen in dem blauäugigen Burschen keinen Traummann, sondern einen Verräter. Seit er bei einer großen Plattenfirma unterschrieben hat, werfen sie ihm vor, komponiere er nicht mehr den harten Stoff der frühen Tage, der vor allem »laut, schmutzig und kurz« (Dando) sein mußte.

Der Songwriter, der auf seiner gerade erschienenen CD »Come on feel« mit rasend-übermütigen Punk-Rock-Nummern, manchmal aber auch mit seelenvollen Folk- und Country-Liedern aufwartet, läßt so was lässig abtropfen: »Früher habe ich alles gehaßt«, sagt Dando, »heute habe ich ein paar Launen mehr auf Lager.«

Trotz trister Aussichten inmitten wackliger Beziehungen und drogenumnebelter Nachmittage setzt Dando auf die Philosophie der Generation X (SPIEGEL 34/1992), auf Menschenfreundlichkeit und Spaß am Rande der Gesellschaft. »Wie in den Sechzigern gibt es jetzt eine Menge Leute, die keine Lust haben auf Anzüge, Karriere und all den anderen Mist«, sagt Dando, »aber sie kommen trotzdem zurecht.«

Diese Verweigererhaltung, verbunden mit vorsichtigem Optimismus, hat auch die Minneapolis-Band Soul Asylum zur Überraschung des Rock-Sommers werden lassen. Mit ihrem Song »Runaway Train« und dem dazugehörigen Video, in dem nach vermißten Kindern gesucht wurde, eroberte die ehemalige Underground-Band die Hitparaden und debütierte vor kurzem bei US-Präsident Clinton im Weißen Haus.

Die Antihelden der achtziger Jahre haben sich in Idole der neunziger verwandelt. Mit den Lemonheads und Soul Asylum ist Punk-Rock in den USA, 15 Jahre nach der zerstörerischen Invasion der Sex Pistols, gesellschaftsfähig geworden. In Zeiten, da die Werte Ronald Reagans demonstrativ zertrümmert werden sollen, sind sie so glaubwürdig, daß sie als Boten einer neuen, politisch korrekten Ära taugen, aber auch amerikanisch genug, um nicht wie eine Radikalenband vom Schlage Nirvanas alles gleich wieder in Frage zu stellen.

Anarchie ist für diese Gruppen Privatsache. Während Soul Asylum vor allem ihr Band-Motto »Manchmal trinke ich, weil es einen Anlaß gibt, und manchmal trinke ich auch ohne« verwirklichen, hat Dando die meisten bürgerlichen Wurzeln gekappt.

Ohne Wohnung lebt der Sohn eines Bostoner Anwalts und eines Models seit Jahren in Hotelzimmern - hin- und hergerissen von den Verlockungen des Erfolgs und der Angst davor. Manchmal, wenn die Termine nerven, nimmt er so viel Drogen, daß Freunde fürchten, er erlebe seinen 30. Geburtstag nicht mehr. Was er sonst zum Leben braucht, seine Gitarre, drei Jeans und ein Haufen ungebügelter T-Shirts und Pullover, schleppt er in einer Reisetasche von Stadt zu Stadt. Unterwegs sammelt er neue T-Shirts und komische Andenken wie Muscheln, Knöpfe und andere Dinge, die am Straßenrand herumliegen, nur um sie später wieder liegenzulassen.

»Ich habe nichts zu verlieren«, sagt der Beatnik der neunziger Jahre, »außer meiner Gitarre, meinem Reisepaß und meiner Kreditkarte.« Y

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