Rabbit kommt vom Einkaufen. Er hat seine Verabredung völlig vergessen, wollte eigentlich den Rasen mähen am Nachmittag, fühlt sich sichtlich gestört in seinem Arbeitsfrieden, bleibt aber trotzdem höflich. Rabbit schleppt die braunen Papiertüten mit den Lebens- und Putzmitteln aus dem Auto ins Haus und hat erst mal Hunger.
Seine Frau ist unterwegs, auf dem Küchentisch liegt ihr Zettel mit Merksätzen, und ihr allein gelassener Mann muß sehen, wie er zurechtkommt. Im Brotkasten findet sich noch eine halbe Tüte »Wonderbread«, diesem Inbegriff von amerikanischem schlechten Essen. Er dreht und wendet die Scheiben, die schon heftig angegammelt sind, köpft mit der Messerspitze die kleinen blaugrauen Pilze, überlegt laut, ob er das Brot wegschmeißen soll, Schimmel sei ja Penizillin und damit gesund.
Dem Einwand des Besuchers, Schimmel sei Gift, gibt er scheinbar nach, findet zwei halbwegs trockene Scheiben, die er rasch mit Roastbeef und labbrigen Salatblättern vollwirft und zusammenklappt. Die angegrauten Scheiben packt er dann doch nicht in den Müll, sondern tut sie wieder in den Brotkasten. Bloß nichts verschwenden.
Nixon mag ein Verbrecher gewesen sein, aber den gegenwärtigen Präsidenten mag Rabbit noch weniger: Als Erbe und Verlängerer der Reagan-Politik hat Bush die allgemeine Geldverschwendung in Mode gebracht. Rabbit kennt die Digital-Anzeige in New York, die gleich beim Times Square die Höhe der öffentlichen Schulden festhält und sie doch nicht festhalten kann: eine 13stellige Zahl, ein Billionen-Dollar-Schatz, der mit einer 3 beginnt. Die letzte Ziffer flimmert nur mehr, unaufhaltsam steigen die Schulden.
Rabbit heißt eigentlich John Updike, und der mag es überhaupt nicht, wenn man ihn mit seiner berühmtesten Figur gleichsetzt, mit Harry Angstrom, dem er wegen seiner Schlaksigkeit und kaninchenhaften Unstetheit diesen Spitznamen verlieh, aber das kann er nun nicht mehr ändern.
Seit 1960 sein Roman »Rabbit, Run« (deutsch: »Hasenherz") erschien, verfolgt ihn der ehemalige Basketball-Spieler. Seit 30 Jahren flüstern die Leute auf der Straße, wenn sie ihn erkannt haben, hinter ihm: »Rabbit, Run«. Updike hat sich schon so daran gewöhnt, daß auch die Fortsetzungen auf die Magie dieses gedoppelten Konsonanten vertrauen: »Rabbit Redux« (1971), »Rabbit Is Rich« (1981) und jetzt »Rabbit At Rest« (1990). Nach drei Jahrzehnten und vier Büchern bettet Updike in diesen Tagen seinen Lieblingshelden zur ewigen Ruhe, Todesursachen sind Völlerei und Lebensüberdruß*.
Rabbit ist Amerika am Ende seiner Kräfte. Der vierte und abschließende Band der Tetralogie beginnt mit dem Pan-Am-Attentat von Lockerbie, es folgen _(* John Updike: »Rabbit At Rest«. Knopf, ) _(New York; 544 Seiten; 21,95 Dollar. ) die Prozesse gegen Oliver North und den frommen Jim Bakker, und das Buch endet im Oktober 1989, als auch im Fernen Westen klar wird, daß die neunziger Jahre den Europäern gehören. »Amerika hat seinen Sendungsauftrag verloren«, sagt Updike.
Und Rabbit? Als Schüler ein erfolgreicher Sportler, verheiratet, ein Kind, im Kaufhaus Vorführer von Küchengeräten, verließ 1959 vorübergehend seine Frau und trieb sich ziellos herum; beruhigte sich bis 1969 halbwegs, während Amerika in Rassenunruhen explodierte und ihm seine Frau davonlief; 1979, in der zweiten Ölkrise, wurde er plötzlich reich, weil er die Toyota-Vertretung seines Schwiegervaters geerbt hatte; und schließlich im vierten Band, 1989, retiriert er ins Altersheim Florida, zu dick geworden für fast alles außer Golf, aber weiter auf der Suche nach einem Sinn für sein durchschnittliches Leben, für Amerika - dieser Rabbit, der so unscheinbar begann, ist auf dem besten Wege, ein amerikanischer Nationalheld zu werden, ein Huckleberry Finn fürs 20. Jahrhundert.
Im Abstand von jeweils zehn Jahren ist Updike, den scheinbar nichts und doch soviel mit Rabbit verbindet, auf seinen haßgeliebten Helden zurückgekommen. Für ihn ist er noch einmal an Orte seiner Kindheit zurückgekehrt, nach Shillington in Pennsylvania, hat noch einmal die Fährte seines Karnickels aufgenommen und überlegt, was aus ihm, aus John Hoyer Updike, geworden wäre, wenn er nicht nach Harvard gegangen, wenn er nicht beim feinen New Yorker gearbeitet hätte. Zehn Tage nachdem er die erste Fassung seines Romans abgeschlossen hatte, starb wie zur Bestätigung seine Mutter, die letzte Verbindung zur alten Heimat.
Updike wurde mitten in der Depression geboren, 1932. Sein Vater war Lehrer, schlechtbezahlt, wie es die Lehrer in den USA noch heute sind, und mußte sich im Sommer Arbeit beim Straßenbau suchen, wenn er seine Familie durchbringen wollte, denn die Schulbehörde zahlte das Gehalt nur für die Unterrichtsmonate.
Die Armut, jedenfalls die Angst davor, hat Updike immer verfolgt, und als gottesfürchtiger Christ weiß er, daß ihm sein heutiger irdischer Reichtum ("Ich bin nicht gerade obdachlos«, heißt das bei ihm) jederzeit genommen werden kann. Updikes Recheneinheit ist nach wie vor der Cent, jeder einzelne Dollar will verdient und wenn, dann nur wohlüberlegt ausgegeben sein. Seine Romane stehen auf der Bestseller-Liste der New York Times ("Aber nur im Mittelfeld«, wendet er ein), mit der Verfilmung seiner »Hexen von Eastwick« ist er landesweit bekannt geworden, »ein Markenartikel« (soviel Unbescheidenheit immerhin gestattet er sich).
Nach dem 1968er Skandal um seinen libertinen Partnertausch-Roman »Ehepaare« hat er still und unauffällig weitergeschrieben, immer darauf geachtet, daß einmal im Monat eine Rezension von ihm erscheint, zwei-, dreimal im Jahr eine Erzählung, dazu ein Buch und immer mal wieder ein Band mit Gedichten.
Mit 58 ist Updike noch immer von einer bedenklichen Jugendlichkeit; nichts vom erschöpften und verzweifelten Rabbit. Schlank ist er, ein ehemaliger Sportler, der nach dem Ende seiner Laufbahn die Muskeln nicht durch Fett ersetzt hat. Seit fünf Jahren trinkt er keinen Alkohol mehr, keinen Kaffee, raucht nicht und befindet sich damit im freudigen Einklang mit dem Gesundheits- und Fitneßwahn seines »geliebten Vaterlands«.
Den Verzicht auf Alkohol hat eine Therapie erzwungen, die seine Hautkrankheit einzudämmen versprach, die Psoriasis. In seinem geröteten Gesicht schilfern winzige Hautfetzen, bereitwillig zeigt er kleine schwarze Flecken auf den freien Ober- und Unterarmen vor, Strafe für jahrelanges panisches Sonnenbaden, _(* Private Aufnahme um 1940. ) mit dem er die Psoriasis zu besiegen hoffte.
Von dieser Hautkrankheit und anderen Beschädigungen wie seinem leichten Stottern, das er inzwischen einigermaßen im Griff hat, seinem Asthma, »meiner ganzen jugendlichen Verkorkstheit«, spricht er freimütig in seinem Erinnerungsbuch »Selbst-Bewußtsein"*.
Die amerikanischen Schriftsteller hatten schon immer ein besonderes Talent dafür, ihre größeren und kleineren Malaisen in Literatur zu überführen. Updikes Kollege und Freund Philip Roth, der vergangenes Jahr wegen einer Herzgeschichte in die Klinik mußte, meldete sich vom Krankenbett aus mit der professionellen Bemerkung, seine Bypass-Operation sei ihm leider zu nichts nütze, da er sie bereits in einem Roman verwendet habe.
Updike ist ein Meister in diesem literarischen Exhibitionismus; was sich in weitausschwingenden Perioden erzählen läßt, kann nicht mehr gar so weh tun. Deshalb findet er auch nichts dabei, seinen Lesern mitzuteilen, daß er sich eines Morgens auf dem Weg zum Briefkasten so glücklich fühlte, weil er eben mit seiner Frau geschlafen hatte.
Wer seine Biographie nicht kennt, kann sie fast vollständig aus seinen Erzählungen und Romanen rekonstruieren. Hier wird man über alles aufgeklärt, über seine Ehe und ersten Ausbruchsversuche, über seine vier Kinder, seine Scheidung, das späte Glück mit der zweiten Frau. Sparsam, ganz der gute Hausvater, der nichts verkommen läßt, hat er sein Leben ausgebeutet und dabei gleichzeitig Amerika geschildert, die Paarungsrituale der Mittelklasse, ihre Familienfehden, ihre schuldbewußte Religiösität, die im wesentlichen seine eigene ist.
Er braucht die Kirche, in seinem Fall sind es die Kongregationalisten. Für seinen finster alttestamentarischen Kopf ist die Welt verdammt, zum Hunger, zum Tod und, natürlich, zum Sex. Wer sonst außer Gott könnte ihm heraushelfen aus dieser Verdammnis mit dem vagen Versprechen auf eine Erlösung im Jenseits. So unbegreiflich dieser Spiritualismus ist, ihm hilft er. »Ein wohlfeiler Humanismus quält das Land«, schrieb er sich vor vielen Jahren als Glaubensbekenntnis in ein Gedicht, »ich wähle mir meinen Standort im Jenseits.«
Von dort drüben kann er das politische Eiferertum seiner Kollegen in New York nur kopfschüttelnd bestaunen; ihre Petitionen für ein besseres Leben _(* John Updike: »Selbst-Bewußtsein. ) _(Erinnerungen«. Aus dem Amerikanischen ) _(von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, ) _(Reinbek; 332 Seiten; 39,80 Mark. ) hier kommen ihm »läppisch« vor, erdschwer und nur von dieser Welt. Er kann es nicht leiden, wenn sich die Wohlhabenden zu den Armen hinabbeugen.
Die Hautkrankheit, die ihn einst entstellte, hat ihn zum Narziß gemacht, sein Selbstbewußtsein aufgestachelt, die unendliche Beobachtungswut, erprobt erst an sich, dann an den armseligen Zuständen im Elternhaus, bis sich ihm schließlich der Blick öffnete für die Welt, die Augen ihm aufgingen für Amerika, das wunderbare. Als Schriftsteller hat sich Updike nie weit über den Horizont seines Lieblingshelden Rabbit hinausgewagt: die kleinstädtische Ostküste.
Er sei ein »bescheidener amerikanischer Autor« geblieben, und der maßvolle irdische Erfolg, den er mit seinen Büchern hat, bestätigt ihn nur darin. Seinem fast kalvinistischen Herzen ist der Ruhm sicheres Anzeichen für einen Platz im Jenseits. Den erschreibt er sich geduldig, polstert ihn Jahr um Jahr, Buch um Buch aus.
Von seiner ersten Liebe, dem Zeichnen, das er mit drei Jahren begann und erst auf der Universität zugunsten der Schriftstellerei aufgab, hat er sich ein künstlerisches Ethos bewahrt: »Wie Cezanne, der seine Staffelei jeden Tag in die Natur trug und malte, schreibe ich jeden Tag, als hätte ich nicht das Glück, als Autor ohne Job leben zu können.«
Den Vorwurf, diese unabhängige Existenz sichere er sich mit den detaillierten Beschreibungen von inner- und außerehelichem Geschlechtsverkehr, weist er zurück. Er schreibe die Bücher, die er selber gern lese, die Porno-Szenen, »um mir eine Freude zu machen. Ich lese Pornographie; als Teenager war ich dankbar dafür, daß mir jemand sagte, was da eigentlich abläuft, wenn zwei miteinander ins Bett gehen«. Pornographie ist für ihn Ausdruck schriftstellerischer Freiheit.
Diese Freiheit hat sich jedenfalls ausgezahlt, er hat ein schönes, weitläufiges Haus mit Blick auf die Bucht von Boston, und ganz unten im Südosten ahnt man die Stelle, an der die »Mayflower« vor bald 400 Jahren anlegte. Er konnte es sich leisten, wieder aufs Land zurückzukehren, unterzutauchen in einer Kleinstadt auf historischem, auf puritanischem Boden. Gleich in der Nähe, in Salem Village, haben Rechtgläubige 1693 in einem Anfall von Hexenwahn 19 Menschen hingerichtet.
Er ist damit berühmt geworden, daß er seine eigene kleine Welt beschrieben hat, jenes Pennsylvania, aus dem er schon vor über 40 Jahren fortgezogen ist, um zu studieren, dem er aber durch Rabbit immer verbunden blieb; eine subtile Wiedergutmachung für das Unglück seiner Eltern. Nicht nur für seinen Vater, auch für seine Mutter, die ihr einziges Kind erst auf die Idee brachte, daß man Schriftsteller sein könnte, weil sie selber schrieb, Erzählungen und Romane, die ihr regelmäßig zurückgeschickt wurden. Erst in den sechziger Jahren, als sich der Ruhm ihres Sohnes zu verbreiten begann, fand auch sie Eingang in den New Yorker.
Wieviel denn das Taxi aus Boston gekostet habe? Obwohl er es selber empfohlen hatte, reuen ihn jetzt die Ausgaben, die nicht einmal die seinen sind. Im Auto bringt er den Besucher, an einer Kirche vorbei, die bilderbuchmäßig St. John''s heißt, zum kleinen Dorfbahnhof von Beverly Farms, von wo aus die Fahrt zurück nach Boston gerade 2,75 Dollar kostet. o
* John Updike: »Rabbit At Rest«. Knopf, New York; 544 Seiten; 21,95Dollar.* Private Aufnahme um 1940.* John Updike: »Selbst-Bewußtsein. Erinnerungen«. Aus demAmerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek; 332Seiten; 39,80 Mark.