SHAW Pygmalion verboten
Die Nachlaßverwalter des irischen Dramatikers George Bernard Shaw mußten dieser Tage eine Maßnahme widerrufen, die sie bis dahin mit einiger Mühe vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten hatten. Sie mußten das Verbot zurückziehen, das sie in den Vereinigten Staaten und in England über die Aufführung eines der populärsten Stücke Shaws, über seine Komödie »Pygmalion«, verhängt hatten.
Bereits vor einiger Zeit hatte die »Shaw -Gesellschaft« in den Vereinigten Staaten öffentlich gegen die »kommerzielle Diktatur« der Nachlaßverwalter des Dramatikers protestiert. Damals war ruchbar geworden, daß die Aufführung der Komödie »Pygmalion« in den Vereinigten Staaten unter ein generelles Verbot falle. Weder auf der Bühne noch in Liebhaber-Theatern, weder Im Fernsehen noch im Rundfunk sollte die berühmte Geschichte von dem Blumenmädchen und dem unternehmungslustigen Professor aufgeführt werden.
Der Titel der Shaw-Komödie ist eine Anspielung auf jenen Bildhauer Pygmalion aus der antiken Mythologie, der sich ein Mädchen ganz nach seinen Wünschen modelliert. In Shaws Stück, das 1913 in Wien uraufgeführt wurde, hat ein Professor, der sich mit Problemen der Phonetik befaßt, die Rolle Pygmalions übernommen. Er sucht sich ein hübsches Mädchen aus dem Volke, das durch seinen gräßlichen Akzent die Herkunft aus dem Londoner Proletariat verrät, und versucht, es durch sprachliche Erziehung in eine Dame der Gesellschaft zu verwandeln.
Da dieses Stück außer der unausbleiblichen Liebesgeschichte zwischen den beiden eine Reihe sehr komischer Figuren
'enthält, waren einige amerikanische Theaterleute vor einiger Zeit auf die Idee gekommen, die Komödie in ein Musical zu verwandeln. Es bekam den Titel »My Fair Lady« und zählt seit seiner Premiere zu den größten Broadway-Erfolgen. Auf Wunsch der Broadway-Produzenten verboten Shaws Testamentsvollstrecker in den Vereinigten Staaten jedwede andere Aufführung der Komödie, auf daß der Erfolg des Musicals durch keinerlei Konkurrenz gefährdet werde.
Formell ist für Shaws Nachlaß, einer testamentarischen Bestimmung des Dichters folgend, als Treuhänder ein englischer Staatsbeamter zuständig. In literarischen Angelegenheiten verläßt sich der Beamte aber völlig auf die »Society of Authors«, einen Interessenverband englischer Schriftsteller, der den Dramatiker Shaw bereits zu seinen Lebzeiten vertreten hat.
Da das Musical »My Fair Lady« in einiger Zeit - frühestens im Herbst 1958 - auch in London aufgeführt werden soll, hatte sich der finanzkräftige Londoner Theaterkonzern Tennent an die »Society
of Authors« gewandt und von ihr die gleichen Zusicherungen erbeten, die den Broadway-Managern zugestanden worden waren. Im Hinblick auf die lockende Musical-Tantieme hatte sich die Society bereit gefunden, vom. Juli dieses Jahres an alle Pygmalion-Aufführungen in England zu unterbinden.
Diese Maßnahme blieb so lange unbeachtet und unangefochten, als sich keine Bühne um die Aufführungsrechte bewarb. Der Intendant einer winzigen Sommerbuhne in Schottland allerdings, der 36jährige Kenneth Ireland, hatte sich vorgenommen, die Feriengäste in der Saison mit Shaws »Pygmalion« zu unterhalten.
Als er sich seine Aufführung von der Autorengesellschaft genehmigen lassen wollte, wurde er zu seiner Überraschung an den Tennent-Konzern verwiesen. Von diesem Konzern erhielt er, freilich erst nach einigen Mahnungen, eine freundliche Absage. Einer der Direktoren schrieb ihm: »Die 'Society of Authors' hat sich uns gegenüber verpflichtet, Aufführungen von Pygmalion auf der Bühne, im Fernsehen oder im Radio nicht zuzulassen, solange unsere Lizenz (für das Musical) läuft. Es tut mir außerordentlich leid, aber sosehr ich Ihre Gefühle in
dieser Angelegenheit begreife - Sie werden gewiß einsehen, daß ich mich an die getroffenen Vereinbarungen halten muß.«
Nun konnte der Tennent-Konzern insofern tatsächlich von Ireland ein gewisses Verständnis erwarten, als in den Vereinigten Staaten wie in England das Theaterspielen ein hartes Geschäft ist: Die meisten Bühnen bekommen in diesen Ländern keinerlei öffentliche Subventionen. Die Konkurrenz der Theater, untereinander ist daher sehr viel drastischer und das geschäftliche Risiko jeder einzelnen Aufführung viel höher als etwa in Kontinentaleuropa.
Trotzdem ging diese Art von literarischer Rationierung weit über das hinaus, was die englische Öffentlichkeit den Nachlaßverwaltern Shaws zubilligen wollte. Die englische »Shaw-Gesellschaft« veroffentlichte gegen das vorsorgliche Pygmalion-Verbot einen scharfen Protest. Sie fand, diese Art von kommerzieller Diktatur widerspreche Shaws Testament.
»Wenn das Totalverbot der Aufführungen von Shaws Komödie aufrechterhalten
bleibt«, hieß es in dem Protest, »wäre das beispielloser Verrat an einem Toten durch jene Leute, denen er vertraute und von denen er erwartete, daß sie sich von höheren Motiven leiten lassen würden.«
Der englische Schriftsteller Graham Greene ("Der dritte Mann") forderte aus Protest gegen die Praktiken der Testamentsvollstrecker alle englischen Autoren auf, sofort aus der »Society of Authors«. auszutreten. Andere englische Theaterintendanten nützten die günstige Gelegenheit und schlossen sich dem Protest gegen das diktatorische Unternehmen an.
Unter dem Eindruck dieser Angriffe, die sich zu einem öffentlichen Skandal auszuweiten drohten, hob die Society ihr Pygmalion-Verbot wieder auf. Sie erlaubte dem Intendanten Ireland nachträglich, das Stück auf seinen Spielplan zu setzen.
Ireland konnte von dieser späten Erlaubnis allerdings keinen Gebrauch mehr machen: Er hatte inzwischen ein anderes Programm zusammenstellen müssen. Die britische Shaw-Gesellschaft aber triumphierte: »Es ist ein großer Sieg!«
Musical »My Fair Lady« am Broadway*: »Verrat an einem Toten«
* Julie Andrews als Blumenmädchen Eliza, Rex Harrison als Professor Higgins.