OZEANOGRAPHIE Quak im Dunkeln
Noch immer umkreisten Amerikas Raum-Rekordler Gordon Cooper und Charles Conrad in ihrer Zwillings-Kapsel »Gemini-5« die Erde, als USAstronaut Scott Carpenter sich - Ende letzter Woche - gleichfalls zu einem Rekord-Vorstoß in eine neue fremde Welt anschickte.
Wie vordem seine Gemini-Kollegen, so brachte auch ihn ein Fahrstuhl zu seiner Kapsel. Doch der Fahrstuhl fuhr abwärts: 63 Meter tief unter der Wasseroberfläche, am Meeresboden vor der kalifornischen Küste, ist das US-Marine-Unterseelabor »Sealab II« verankert, in dem ein Zehn-Mann-Team, kommandiert von dem dreifachen Erdumrunder und Sporttaucher Carpenter, vier bis sechs Wochen lang ausharren soll.
Das Unternehmen Sealab ist die jüngste und bislang technisch aufwendigste Offensive an jener »letzten Front« (so der amerikanische Innenminister Stewart Udall), die menschlichem Entdeckermut auf der Erde noch verblieben ist: Das Wasser der Ozeane und die Meeresböden, bislang nahezu völlig unerforscht und ungenutzt, bergen mehr Erdölvorräte, Bodenschätze und Nahrungsreserven als alle Kontinente zusammen. »Die Ozeane«, formulierte der amerikanische Geologe Mark Langseth, »sind die reichhaltigste Schatzkammer der Erde.«
Besonders für die von Ozeanen überfluteten Randzonen der Kontinente, die »Kontinentalschelfs«, deren vergleichsweise geringe Wassertiefe eine wirtschaftliche Nutzung schon in naher Zukunft ermöglicht, läßt sich zählbarer Gewinn schon jetzt vorhersagen: Nach einer Schätzung der amerikanischen Akademie der Wissenschaften wird sich ein jährlicher Meeresforschungs-Aufwand von nur 660 Millionen Mark - einem Dreißigstel des US-Raumfahrtetats - schon in zehn bis 15 Jahren mit einer Meeresausbeute im Wert von zwölf Milliarden Mark pro Jahr bezahlt machen. Tatsächlich liegt das Ozeanographie -Budget der USA schon höher: jährlich rund eine Milliarde Mark.
Die meisten amerikanischen Großfirmen, die an der Luft- und Raumfahrtindustrie beteiligt sind - so etwa Boeing, Douglas, Lockheed und North American Aviation -, haben mittlerweile eigene Abteilungen eingerichtet, in denen Meeresforschungs-Fahrzeuge und -Laboratorien entwickelt werden: Und selbst die Automobil-Giganten Ford und General Motors sind dabei, »sich nasse Füße zu holen« (wie das britische Wissenschaftsblatt »New Scientist« formulierte). »Es sieht so aus«, kommentierte die »New York Times« den neuen Drang- nach unten, »als ständen wir an der Schwelle einer neuen Revolution... zum Wohle der ganzen Menschheit.«
Bis jetzt wurden die unermeßlichen Meeresbodenschätze nur erst angekratzt wie eine Goldader beim ersten Schlag der Spitzhacke. Die Schatzgräber erzielten schon auf Anhieb reichlichen Gewinn:
- Bohrtürme in den flachen Küstengewässern im Persischen Golf, vor Venezuela, in der Nordsee und im Golf von Mexico fördern heute bereits einen guten Teil der Erdölproduktion der Welt. Geologen schätzen, daß bereits 1975 Erdöl- und -gas routinemäßig aus Wassertiefen bis zu 300 Metern gefördert werden können; damit würde das zugängliche Erdöl-Reservoir der Erde verdoppelt.
- Vor der Küste Südwestafrikas werden Diamanten geschürft. Ausbeute
pro Tonne Gestein: fünf Karat Diamanten - ein fünfmal so hoher Ertrag wie bei Festland-Schürfungen.
- Während der letzten vier Jahre wurden in der Bucht von Tokio weit über sieben Millionen Tonnen hochwertiges Eisenerz geschürft; Zinn-Erze wurden aus den Küstengewässern vor Malaysia, Thailand und Indonesien gewonnen. Auf dem Boden des Pazifik liegen, nach einer Schätzung amerikanischer Geologen, mindestens 1,5 Billionen Tonnen kartoffelförmiger Erz -Knollen verstreut, die vor allem Mangan, Eisen, Kupfer, Nickel und Kobalt enthalten.
Auf den Reißbrettern der Ingenieure werden schon die ferngesteuerten automatischen- Schürfraupen und Saug-Bagger entworfen, die dereinst jene Schätze heben sollen. Doch neben dem Abbau der Mineralien auf dem Meeresboden prophezeien die Wissenschaftler bereits jetzt noch zukunftsträchtigere Methoden der Meeresnutzung, so etwa die Massen-Züchtung von Kleinstlebewesen, welche die im Meerwasser enthaltenen Spuren von Eisen, Kupfer oder Uran in ihrem Körper speichern können. Die auf den Meeresboden hinabsinkenden toten Mikro-Organismen würden sich dann zu hochwertigen Erzlagerstätten aufschichten.
Vor allem aber planen die Wissenschaftler, die Gewinnung von Nahrung aus dem Meer zu vervielfachen: Eigens gezüchtete, besonders ertragreiche Fischarten sollen, fast wie Haustiere, auf riesigen unterseeischen Plankton-Weiden gehalten und mit automatischem (zum Beispiel Staubsauger-ähnlichem) Gerät nach Bedarf gefangen werden.
Dutzende moderner Forschungsschiffe nahezu aller seefahrenden Nationen kreuzen seit einigen Jahren über die Ozeane, um Fischpopulationen, Meeresströmungen und die zerklüftete Oberfläche des Meeresbodens auszuloten und zu registrieren. Doch nun, seit etwa zwei Jahren, beginnt sich auch jene seltsame Flotte zu formieren, die das verheißungsvolle Land unter den Weltmeeren aus der Nähe erkunden soll.
Nahezu zwei Dutzend der bizarr anmutenden Tauch-Vehikel sind einsatzbereit. Die meisten von ihnen sind - mit zentimeterdicken Stahlwandungen, mechanischen Greifzangen und Scheinwerfern außenbords - so konstruiert, daß sie in Meerestiefen von mehreren tausend Metern operieren können.
Den Tiefenrekord hält zwar noch immer die von dem Schweizer Stratosphären- und Tiefseeforscher Auguste Piccard entworfene Zwei-Mann-Tauchkugel »Trieste«, mit der Piccards Sohn Jacques im Januar 1960 für knapp 30 Minuten zum tiefsten Punkt der Weltmeere, in den 10 863 Meter tiefen Marianen-Graben östlich der Philippinen, vordrang. - Die Kugel mußte dabei einem Wasserdruck von 41 000 Tonnen standhalten - das entspricht dem Gewicht eines modernen Schlachtschiffes.
Derlei dickwandige, gegen Wasserdruck von mehreren hundert Atmosphären gewappnete Tauch-Vehikel werden freilich nicht vonnöten sein, wenn es gilt, jene Teile des Meeresbodens zu erkunden, die mutmaßlich am ehesten genutzt werden können - die Kontinentalschelfs, die fast durchweg nur bis zu einer Wassertiefe von 300 Meter abfallen.
Denn vor einigen Jahren haben französische, schweizerische und amerikanische Unterwasserforscher eine neuartige Tauch-Technik entwickelt, die es dem Menschen erlaubt, sich in solchen Wassertiefen noch ebenso frei zu bewegen wie Sporttaucher in seichten Küstengewässern: Statt normaler Luft, so fanden die Forscher, muß der Mensch in der Tiefe ein Gas-Gemisch aus etwa 85 Prozent Helium, zehn Prozent Stickstoff und wenigen Prozent Sauerstoff einatmen. Dann kann er auch noch in einigen hundert Meter Tiefe - nur mit einer wärmenden Gummihaut bekleidet, mit Gasflaschen auf dem Rücken und einer Atemmaske vor dem Gesicht - verweilen, ohne den gefährlichen Tiefenrausch fürchten zu müssen.
Allenfalls für Stunden, bei größeren Tiefen sogar nur für Viertelstunden, hatten die Taucher mit herkömmlicher Rüstung - mit Kugelhelm, Bleischuhen und aufgeblasenem Schutzanzug - unter Wasser arbeiten können. Denn nur langsam, in oft Stunden währender Prozedur, durften sie wieder an die Oberfläche gehievt werden, damit der Körper Zeit hatte, sich an die normalen Druckverhältnisse zu gewöhnen (Dekompression).
Nun aber, mit der neuen Frei-Tauchtechnik, bot sich erstmals die Möglichkeit, ununterbrochen für Tage oder Wochen in der dunklen Tiefe zu verweilen: Die Techniker entwarfen Unterwasser-Häuser, die gleichfalls mit dem Helium -Gemisch gefüllt und unter dem gleichen Druck gehalten werden, dem die Taucher in der umgebenden Meeres-Region ausgesetzt sind. Ohne zeitraubende Dekompression können sich die Unterwasser-Forscher jederzeit zum Schlafen, Essen und Aufwärmen in ihr Haus auf dem Meeresgrund zurückziehen. Lediglich am Schluß der Tauch-Expedition ist eine Rückgewöhnung des Körpers an normale Druckverhältnisse erforderlich.
Pionier der neuen Unterwasser-Bewegung war der Franzose Jacques Yves Cousteau. Bereits 1963 verbrachte er eine Woche in 30 Meter Tiefe, im letzten Jahr sogar vier Wochen (in zehn Meter Tiefe) unter dem Roten Meer. Demnächst wollen sich sechs Aquanauten der Cousteau-Equipe für 15 Tage in das Taucher-Heim »Pre-Continent 3« begeben, das letzte Woche vor der französischen Riviera in 100 Meter Tiefe Verankert wurde.
Auch die Amerikaner starteten bereits im vergangenen Jahr erste Freitauch-Unternehmungen. Elf Tage lang lebten drei US-Aquanauten südwestlich der Bermudas in 55 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund (Projekt »Sealab I"). Und vor den Bahamas wohnten zwei junge Amerikaner 48 Stunden lang in einem aufblasbaren Gummi-Iglu sogar 140 Meter unter der Wasseroberfläche.
Aus solidem Stahl ist die Wandung des zigarrenförmigen Wohn-Zylinders »Sealab II« gefertigt, der Scott Carpenters Aquanauten-Team beherbergen soll. Die 200 Tonnen schwere Klause auf dem Meeresgrund vor La Jolla (Kalifornien) ist über 17 Meter lang, hat einen Durchmesser von nahezu vier Meter und enthält bequeme Schlafkojen, Dusche mit heißem und kaltem Wasser, eine Küche und ein komplettes Spülklosett.
Rund sechs Atmosphären Überdruck werden im Innern der Wohnkammer dauernd aufrechterhalten - der gleiche Druck wie auch in 63 Meter Wassertiefe. So können die Aquanauten ohne Schleusensystem direkt durch eine Öffnung im Boden des Zylinders ins Meerwasser enttauchen und dort ihr Experimentier-Programm ausführen: Geologen untersuchen Gesteine und Ablagerungen auf dem Meeresboden, Biologen die Gewohnheiten verschiedener Meerestierarten, Ozeanographen die Strömungs- und Temperaturverhältnisse sowie den Salzgehalt des Wassers.
Von dem noch relativ geringfügigen Überdruck in 63 Meter Tiefe erwarten die Mediziner keine körperlichen Schäden für die Aquanauten. Erst in einer Tiefe von rund 500 Meter - bei einem Druck von rund nahezu 50 Atmosphären
- würde der Mensch mit Sicherheit dem
Überdruck erliegen: Sein Knochengerüst würde unter dem Druck zusammenbrechen.
In den bislang ertauchten Tiefen haben die Aquanauten nur einen einzigen - eher kuriosen - Nebeneffekt beobachtet. Er beruht darauf, daß Stimmen und Geräusche in der Helium-Atmosphäre des Tauch-Helms verzerrt übertragen werden: Die Stimmen der menschlichen Meeresbewohner klingen, wie die US-Illustrierte »Life« notierte, »quakig wie Disneys Tolpatsch-Ente Donald Duck«.
Aquanaut Carpenter
An der Schwelle einer Schatzkamnmer..
Aquanaut Cousteau
... zum Wohle der Menschheit