Arnulf Baring über Anneliese Poppinga: "Meine Erinnerungen an Adenauer" QUAL DER LETZTEN JAHRE
Mir schwante Schlimmes. Die Erinnerungen einer Sekretärin an den ersten Kanzler der Bundesrepublik? Ich erwartete eine Apotheose. Aber noch nie haben mich meine Vorahnungen derart getragen. Wir verdanken Fräulein Poppinga nicht nur eine überaus anschauliche Schilderung der letzten Lebensjahre Adenauers, jener Zeitspanne zwischen seinem erzwungenen Rücktritt im Herbst 1963 und seinem Tod, April 1967. Wir verdanken ihr, was wir bisher von keinem der wichtigen Männer seiner Umgebung, von keinem Politiker oder Publizisten gesehen haben: ein lebenswahres Porträt Adenauers, geschrieben von einem, der ihn aus der Nähe beobachten konnte, aber bei aller Verehrung distanziert genug war, das Beobachtete aufzuschreiben.
Anneliese Poppinga hat sich zunächst einmal ein großes Verdienst um die Zeitgeschichte erworben. Sie wußte, welchen historischen Wert die Memoiren besitzen würden wegen der zahlreichen, auch geheimen Dokumente, die Adenauer zu zitieren gedachte. Wenn er mit seinen »Erinnerungen« nicht zu Rande kam, dann würden diese Unterlagen erst dreißig Jahre später der Forschung zugänglich sein -viel zu spät für jede unmittelbare Wirkung.
Unermüdlich, mit einfühlsamer Geduld hat Fräulein Poppinga -- das zeigt ihr Bericht -- auf den Beginn, den Fortgang, die Beendigung der Memoiren gedrängt. Ein Meister offenbar in der Adenauer abgeguckten, auf ihn abgestimmten Kunst milder Provokation, hat sie ihn zum Widerspruch, zur Konzentration, zur Darlegung seiner Position veranlaßt, Ihm lag das Handwerk des Schreibens nicht; er wußte, daß die Leute seinen Stil für primitiv hielten. Er hatte nicht das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, fühlte keine Notwendigkeit, sich selbst ein Denkmal zu setzen. Diesem Mann der Tat konnte man den Abschied von der Macht, den erzwungenen, nicht mit schriftstellerischen Vorhaben erleichtern oder schmackhaft machen. Sobald Anneliese Poppinga wegen Krankheit ausfiel, war sein Elan am Ende.
»Die Akten waren da, die Zeit und Muße auch. Doch der Bundeskanzler erklärte, er könne nun einfach nicht. Ich wäre ja nicht da, um ihm bei der Suche nach denjenigen Unterlagen zu helfen, die er gerade benötige ... Und überhaupt, er sei nicht in der Stimmung ...«
Vor allem der Beharrlichkeit dieser jungen Frau hat man es zu danken, wenn in den dreieinhalb Jahren, die Adenauer nach seinem Rücktritt noch blieben, nicht nur der -- zunächst geplante -- eine Memoirenband, sondern deren vier entstanden, In denen die 18 ersten Nachkriegsjahre behandelt wurden. Was Adenauer danach, zwischen 1963 und 1967, über politische, besonders außenpolitische Fragen dachte, erfahren wir nun aus Ihrer Feder, Offenbar hatte sie im Laufe der Jahre die tiefe Skepsis zu überwinden vermocht, die Adenauer sonst gegenüber allen Menschen empfand. Jedenfalls wurde sie zu einem seiner bevorzugten Gesprächspartner; Adenauer vertraute Ihr seine Sorgen an:
Er hatte das Steuer nicht beruhigt aus der Hand gelegt, Sein Nachfolger war ihm so zuwider, daß er bis an sein Ende Erhards Namen nicht richtig zu schreiben lernte. Die Kurzsichtigkeit seiner Partei schien ihm nicht weniger enttäuschend. Hatte sich die CDU/CSU-Fraktion doch in einem Augenblick unwiderruflich auf Erhard festgelegt, in dem endlich, nach jahrelangen Vorbereitungen, erfolgversprechende Verhandlungen mit Chruschtschow in den Bereich des Möglichen gerückt waren -- Verhandlungen, die natürlich nur er selbst führen könne. Er hatte wenig Illusionen, erwartete nicht die Wiedervereinigung, aber ein Ende der »Scherereien« in Berlin und vielleicht bessere Lebensbedingungen für die Menschen drüben. Brandt, nicht Barzel, so scheint mir, kann sich hier auf Adenauer berufen.
Adenauer war nicht hoffnungsvoll gestimmt in diesen letzten Jahren. Die Weltlage erschien ihm so düster, die Sowjet-Union so unheimlich und bedrohlich wie eh und je. War In Moskau nicht immer alles möglich? Und der Westen? Europa blieb uneins, die EWG blieb, wie Adenauer bitter bemerkte, das bisher einzige sichtbare Ergebnis aller Einigungsbemühungen. Und wurde Europa, dessen Stimme nicht gehört wurde, weil es schwach war, nicht mehr und mehr von den USA vernachlässigt, ja einem halben Einverständnis mit Moskau zuliebe sich selbst überlassen? Bis zum letzten Atemzuge hat Adenauer den Atomsperrvertrag, den er für das Symbol einer unheilvollen Entwicklung hielt, bekämpft. Vergeblich.
Doch so wichtig all
Der stärkste Eindruck: die Einsamkeit des Greisenalters, das Gefühl des Scheiterns am Ende eines langen Lebens. Hat nicht Charles de Gaulle gesagt, das Altern sei immer ein Schiffbruch? Das belegen viele Äußerungen Adenauers in diesem Buche: Es sei so schwer, alt zu sein. Weil die Weggenossen nicht mehr da seien, alle Menschen, die man liebte, beide Frauen, alle Freunde -- tot. Nun sei er sehr ab lein und habe oft das Gefühl, die Jüngeren verstünden ihn gar nicht, wollten ihn gar nicht mehr verstehen. Er sei ja alles so leid. Wenn man wüßte, wie gering er von sich denke. Sei man so alt wie er, tue jedes freundliche Wort gut, Was er geleistet habe, sei verrauscht ...
Nicht immer war der Ton so trostlos, Es gab Tage, an denen er mit sich und der Welt Im reinen war: Was vorüber sei, müsse vorüber sein. Doch der leichte Ton hielt nie lange vor, und kurz vor dem Tode gestand er, die letzten Jahre seien eine Qual gewesen. Diesen letzten, den tragischen Adenauer, den sympathischsten, menschlichsten Adenauer, den wir kennen, werden wir von diesem Buch an in der Erinnerung bewahren.