In diesem Jahr gestorben Von ihnen mussten wir uns 2022 verabschieden

Sidney Poitier, 94: Der in Miami geborene Schauspieler war einer der ersten Afroamerikaner, die in Hollywood Hauptrollen spielten. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als Drehbuchautoren und Regisseure anfingen, sich mit Rassismus zu beschäftigen, wurde er zum ebenbürtigen Partner weißer Stars. In dem Sozialdrama »Die Saat der Gewalt« (1955) verkörperte er einen ebenso aufsässigen wie talentierten Schüler, der erst gegen seinen von Glenn Ford gespielten Lehrer rebelliert, sich dann aber mit ihm verbündet. In »Flucht in Ketten« (1958) stellen Poitier und Tony Curtis zwei flüchtende Strafgefangene dar, die mit einer Kette aneinander gefesselt sind. Poitier gab seinen Figuren Kraft, Würde, Intelligenz und eine gehörige Portion Stolz. Das großartige Duell mit Rod Steiger in dem Krimimalfilm »In der Hitze der Nacht« (1967) hat bis heute kaum etwas von seiner Wirkung verloren. Poitier spielt einen eleganten, gebildeten Ermittler, den es in den Süden der USA verschlägt, wo er auf den von Steiger dargestellten Redneck-Polizeichef trifft – doch gegenseitige Verachtung verwandelt sich mehr und mehr in Respekt. Poitier, der damals schon ein Star war, vermittelte in dieser Rolle ein starkes, bisweilen sogar an Überheblichkeit grenzendes Selbstbewusstsein. Der Pionier Poitier erschloss für afroamerikanische Darsteller in Hollywood neues Terrain. Der Schauspieler gewann im Laufe der Jahre viele Preise, darunter einen Oscar, und war nach dem Ende seiner Filmkarriere zeitweise im diplomatischen Dienst. Sidney Poitier starb am 6. Januar in Los Angeles.
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Peter Bogdanovich, 83: Er war das große Versprechen des New-Hollywood-Kinos – und schaffte es dann doch immer nur in einigen großen Momenten, die Hoffnungen zu erfüllen, die sich mit ihm verbanden. Geboren als Kind europäischer Einwanderer, schrieb Bogdanovich wie die französischen Nouvelle-Vague-Regisseure Kritiken, bevor er anfing zu filmen. Klassiker wie »Die letzte Vorstellung«, »Is' was Doc?« und »Paper Moon« begründeten ab Ende der Sechzigerjahre seinen Ruhm. Doch dann begann er, die Regieangebote für Filme wie »Der Pate« auszuschlagen, drehte stattdessen Flops und hatte ein chaotisches Privatleben. 1985 und 1997 musste er Insolvenz anmelden. Er arbeitete dann als Schauspieler, etwa in der Serie »Sopranos« und hatte 2014 mit »Broadway Therapy« ein kleines Comeback als Regisseur. Peter Bogdanovich starb am 6. Januar in Los Angeles.
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Ali Mitgutsch, 86: Er selbst hatte keine glückliche Kindheit, machte aber Millionen Kinder glücklich. Sie verdanken dem Münchner die Freude an Unordnung, kleinen Missgeschicken und einem pinkelnden Jungen, den der Illustrator gern in seinen XXL-Bildern versteckte. Alfons Mitgutsch, seit der Kindheit Ali genannt, gilt als Erfinder der Wimmelbücher, die sich millionenfach verkauften. Sein erstes Werk dieser Art, »Rundherum in meiner Stadt« von 1968, ist ein Klassiker des Genres. Fantasie spielte in seinem Leben schon früh eine zentrale Rolle. Seine religiöse Mutter nahm ihre Kinder auf lange Wallfahrten mit und hielt sie mit erfundenen Geschichten bei Laune. Wenn Mitschüler ankündigten, den schmächtigen Ali zu verprügeln, floh der Außenseiter in Gedanken zu zwei erdachten Rettern: dem starken Jumbo und dem listigen Fritz. Sein vielleicht schönstes Kindheitserlebnis nach dem Krieg war eine Fahrt mit dem Riesenrad. Von oben staunte Mitgutsch über »Bilder mit vielen Details«, wie er in seiner Autobiografie schrieb, »es passierte so viel gleichzeitig«. Diese Vogelperspektive auf das Gewusel übernahm er, angeregt vom Pädagogen Kurt Seelmann, in seinen Büchern. Sie lösten Kontroversen aus: Kritiker fürchteten, das Gewimmel überfordere Kinder. 2018 erhielt Mitgutsch das Bundesverdienstkreuz. Er arbeitete bis ins hohe Alter und bastelte dreidimensionale Wimmelbilder für Erwachsene: Guckkästen, die kleine Geschichten erzählen. Ali Mitgutsch starb am 10. Januar in München.
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Dixie Dörner, 70: Den Spitznamen »Beckenbauer des Ostens« mochte er nicht so gern. Er hatte seinen eigenen Stil, Fußball zu spielen. Und außerdem hatte Hans-Jürgen Dörner ja auch schon seinen eigenen Spitznamen: Jeder im Fußball nannte ihn Dixie. Dixie Dörner, das war wie ein Synonym für Dynamo Dresden. Von 1967 bis 1986 hielt er dem sächsischen Traditionsklub die Treue. Als Libero der Schwarz-Gelben prägte Dörner die erfolgreichste Zeit des Vereins: Seine elegante Art, mit der er aus der Abwehr heraus das Spiel seines Teams dirigierte und organisierte, machte ihn zu einem der besten deutschen Fußballer seiner Zeit. Mit ihm und durch ihn wurde Dynamo fünfmal DDR-Meister und fünfmal Pokalsieger. Dazu war Dörner bei den legendären Europapokalduellen gegen Bayern München 1973 dabei, als die Bayern nur haarscharf am Ausscheiden vorbeischrammten. 100 Länderspiele bestritt Dörner für die DDR, und es wären noch mehr gewesen, wenn er die WM 1974 in der Bundesrepublik nicht wegen einer Gelbsucht verpasst hätte. Die olympische Goldmedaille 1976 in Montreal, als die DDR im Endspiel Polen besiegte, entschädigte ihn. Nach der Wende versuchte sich Dörner als Trainer, unter anderem bei Werder Bremen. Der Erfolg, der ihn als Spieler stets begleitet hatte, blieb ihm dabei allerdings versagt. So kehrte er am Ende zu seinem Herzensklub Dynamo Dresden zurück, dem er ab 2013 als Aufsichtsrat diente. Dixie Dörner starb nach langer Krankheit in der Nacht zum 19. Januar in Dresden.
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Hardy Krüger, 93: Er war ein Aufklärer. Ganz gleich ob er als Schauspieler, Schriftsteller oder Reisereporter wirkte. Hardy Krüger klärte die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg darüber auf, dass nicht alle Deutschen schlechte Menschen sind. Und die Deutschen klärte er darüber auf, dass die Welt groß und frei und schön ist. Seine Eltern waren glühende Faschisten, er sollte auf einer NS-Kaderschmiede erzogen werden. Seine Besetzung für einen Propagandafilm öffnete dem 15-Jährigen die Augen, er erfuhr von den Verbrechen. 1945 gelang es ihm, als Jugendlicher noch an die Front geworfen, sich von der Truppe abzusetzen. Angewidert vom seichten Kino der Nachkriegszeit ging Krüger nach Frankreich, dann nach England – wo er 1957 in »Einer kam durch« die Hauptrolle spielte, einen kriegsgefangenen deutschen Jagdflieger. Es war der Beginn einer Karriere im internationalen Kino, auch an der Seite von Größen wie James Stewart oder Charles Aznavour. Zeitweise lebte Krüger in einer Lodge in Tansania, später verwandelte er sein Fernweh in erfolgreiche Fernsehformate (»Weltenbummler«), Reiseberichte und Romane. Zeitlebens engagierte er sich gegen den Faschismus. Hardy Krüger starb am 19. Januar in Palm Springs, Kalifornien.
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Meat Loaf, 74: Hoch emotional, stimmgewaltig, ein brodelnder Menschenvulkan, der jederzeit ausbrechen konnte, in Gepolter oder Tränen: Der Sänger und Schauspieler Meat Loaf, 1947 als Marvin Lee Aday in Dallas, Texas, geboren, war ein Schwergewicht des Rock ’n’Roll und gleichzeitig einer seiner unwahrscheinlichsten Stars. Seinen Spitznamen erhielt er angeblich, als sein Vater, ein alkoholkranker und zu Hause gewalttätiger Polizist, wenige Tage nach seiner Geburt sagte, sein Sohn sehe aus wie rohes Fleisch. Früh übergewichtig, musste er sich schon zu Schulzeiten gegen Demütigungen behaupten und lange darum kämpfen, in der Musikindustrie und von Kritikern ernst genommen zu werden. Der Songwriter und Komponist Jim Steinman fand in dem wuchtigen Performer, der zuvor im Musical »Hair« sowie in der Bühnen- und Kinoversion der »Rocky Horror Picture Show« aufgetreten war, einen perfekten Antihelden für seine operettenhafte Rockplatte »Bat Out of Hell«. Er schrieb sie dem befreundeten Sänger auf den Leib. Das 1977 veröffentlichte Album, das sich mit wagnerianischem Bombast, Hardrock-Pathos und schwitziger Biker-Romantik gegen den Punkzeitgeist stemmte, wurde zu einer der erfolgreichsten Rockplatten aller Zeiten. 1993 konnten Steinman und Meat Loaf, dessen Stimmvolumen mehrere Oktaven umfasste, mit dem Nachfolgealbum und der Single »I'd Do Anything for Love (But I Won't Do That)« erneut einen Welthit landen. Meat Loaf starb am 20. Januar in Nashville, Tennessee.
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Heidi Biebl, 80: Mit 19 war sie schon ganz oben – Olympiasiegerin in der olympischen Abfahrt, der Königsdisziplin im alpinen Skisport. Heidi Biebl war nach dieser Schussfahrt 1960 im US-amerikanischen Squaw Valley, dessen Skigebiet seit Kurzem Palisades Tahoe heißt, ein Star im westlichen Nachkriegsdeutschland: Nie zuvor hatte eine Abfahrerin in diesem Alter bereits Gold gewonnen. Biebl hatte anders als viele ihrer Konkurrentinnen die tückischen Bodenwellen auf der olympischen Strecke gut gemeistert, das war der Grundstein für ihren Triumph. Erfolgreich war sie auch danach, mit 15 deutschen Meistertiteln, mit Siegen bei den sogenannten SDS-Rennen, ausgetragen im schweizerischen Grindelwald und Vorläuferwettbewerb des späteren Weltcups. Aber der Höhepunkt der Winterspiele von 1960 überstrahlte alles. Bei den Spielen in Innsbruck vier Jahre danach fuhr sie mit zwei vierten Plätzen knapp an den Medaillenrängen vorbei. Ihre Zeit an der Weltspitze währte nur einige Jahre, nach Ärger mit dem Deutschen Skiverband wurde sie 1966 für die Weltmeisterschaft in Chile nicht mehr nominiert. Biebl reagierte und beendete ihre Karriere schon im Alter von 25 Jahren im Zorn. Danach wandte sie sich dem Beruf der Skilehrerin zu, betrieb in Oberstaufen ein Hotel, den Skisport beobachtete sie fortan nur noch aus der Distanz. Heidi Biebl starb am 20. Januar in Immenstadt.
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Thierry Mugler, 73: Wer sagt denn, dass Plexiglas und Metall keine geeigneten Materialien für Kleider wären? Thierry Mugler trat Anfang der Siebzigerjahre in Paris als Designer an, um zu zeigen, dass Modenschauen besser als Rockkonzerte sein können und die tollsten Kleider dazu dienen, der Welt gewappnet entgegenzutreten. In jungen Jahren wollte Mugler Balletttänzer werden, ein Angebot des Choreografen Maurice Béjart lehnte er jedoch ab. Der wollte ihn in Brüssel engagieren; das fand Mugler ähnlich langweilig wie Straßburg, wo er als Sohn eines Arztes aufgewachsen war. Vor seinem strengen Elternhaus flüchtete er immer wieder ins Kino, sah Fritz Langs »Metropolis«. Hier fand er seine Inspiration. Ende der Sechzigerjahre ging er nach Paris und gründete 1974 sein eigenes Label. Seine große Zeit waren die Achtzigerjahre, in denen dem Kalten Krieg und der Aidsepidemie mit übersteigertem Amüsierwillen in knallbunten Klamotten getrotzt wurde. Mugler entwarf Korsagen, die funkelten; er zeigte Roben mit exorbitanten Schulterpartien und einem Herzausschnitt auf dem Po. Mit seinen Kleidern verwandelten sich Frauen in Fabelwesen. Dafür wurde er kritisiert, aber David Bowie, Diana Ross und Madonna ließen sich von ihm Bühnenoutfits entwerfen. Beyoncé orderte für ihre Tour 2009 noch 58 Entwürfe. Da arbeitete er nur als Kostümbildner; aus seiner Firma hatte er sich 2002 zurückgezogen. Thierry Mugler starb am 23. Januar in Vincennes bei Paris.
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Götz Werner, 78: In der elterlichen Drogerie in Heidelberg, wo er nach seiner Lehre 1968 eingestiegen war, hielt er sich nicht lange. Schon im folgenden Jahr setzte der Vater den damals 24-jährigen Götz Werner vor die Tür, nachdem der ihm ständig prophezeit hatte, dass er mit seinem Krämerladen pleitegehen würde, wenn er sich nicht neuen Ideen öffnete. Tatsächlich musste der Vater das Geschäft ein Jahr später verkaufen. Götz Werner wechselte zur Großdrogerie Idro. Weil er sich auch dort mit seinen Modernisierungsplänen nicht durchsetzen konnte, machte er 1973 in Karlsruhe seinen ersten eigenen Laden auf, mit Selbstbedienung wie bei Discountern. Das Geschäft nannte er schlicht »dm«, für Drogeriemarkt. Es war der Grundstock für die bis heute größte Drogeriekette Europas. Geprägt von der Anthroposophie, handhabte Werner vieles anders als die meisten Händler. Er setzte früh auf nachhaltige Produkte, Mitarbeiter leitete er im Dialog an. Seine Lehrlinge nannte er »Lernlinge« und schickte sie in Theaterworkshops, mit seinen Managern ging er ins Museum, Beuys anschauen. Filialleiter durften eigenständig über ihr Sortiment entscheiden, teils auch über die Löhne. Von 2005 an warb Werner öffentlich für ein Grundeinkommen. Es war ein Thema, mit dem er sich seit den Achtzigerjahren beschäftigt hatte und das ihn fortan zu einem gern gesehenen Talkshowgast machte. 2008 zog sich Werner in den Aufsichtsrat von dm zurück, 2019 übernahm Sohn Christoph die Leitung des Unternehmens. Götz Werner starb am 8. Februar in Stuttgart.
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Betty Davis, 77: Die Öffentlichkeit nahm kaum Notiz von ihr, als sie Mitte der Siebzigerjahre ihren Schaffenshöhepunkt hatte – wahrscheinlich weil die Sängerin ihrer Zeit deutlich voraus war. Vielleicht war man damals noch nicht so weit, weiblichen Sex mit diesem Selbstbewusstsein zu feiern. Madonna konnte es dann. Oder eine Rapperin wie Cardi B. heute – Betty Davis ebnete ihnen den Weg. Mit 17 Jahren kam sie aus der Nähe von Pittsburgh nach New York, um Mode zu studieren, und stürzte sich ins Nachtleben der Sechzigerjahre. Sie heiratete den Jazztrompeter Miles Davis, stellte ihm Jimi Hendrix und Sly Stone vor und half ihm, sich vom Jazz zu verabschieden. Nach einem Jahr verließ sie ihn, ging für eine Weile nach Europa und nahm Mitte der Siebzigerjahre drei Alben auf, mit denen sie einen weiblichen, selbstbewussten, sexpositiven Funk erfand: »Betty Davis«, »They Say I’m Different« und »Nasty Gal«. Sie inszenierte sich als Superheldin der schwarzen Frauenemanzipation mit Afro, Hotpants und Plateausohlen, ohne den erhofften Erfolg zu bekommen. Schließlich ging sie zurück in ihren Geburtsort. Was sie dann 40 Jahre lang gemacht habe, wurde sie in einem Interview gefragt. »Nichts«, antwortete sie, »nur leben.« Davis starb am 9. Februar in Homestead, Pennsylvania.
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Carmen Herrera, 106: Ihre Bilder sind minimalistisch, nur von Flächen und Linien bestimmt. In der radikalen Serie »Blanco y Verde« ließ sie etwa spitz zulaufende grüne Dreiecke in weißen Raum hineinragen. Carmen Herrera war eine Meisterin der abstrakten Farbfeldmalerei, ihre Entwürfe speisten sich aus der Architektur und entstanden auf Millimeterpapier. Verweise auf sie selbst als Künstlerin sucht man in den knalligen Gemälden vergebens. Nicht mal Pinselstriche sind zu sehen, denn Herrera trug die Farbe mit einer Rolle so auf, dass die Oberflächen völlig glatt wirkten. Dieser technische Stil war höchst ungewöhnlich für eine Frau, zudem eine lateinamerikanische: Herrera wurde 1915 in Havanna geboren. Mit zehn Jahren erhielt sie ersten Zeichenunterricht, später studierte sie Malerei, Bildhauerei und Architektur. Sie zog 1939 nach New York, lebte auch einige Jahre in Paris, wo sie an Gruppenausstellungen teilnahm. Der Kunstmarkt ignorierte sie jahrzehntelang, dabei war sie mit ihren Bildern nicht weniger avantgardistisch als Kollegen wie Piet Mondrian. Ihre Schwarz-Weiß-Bilder aus den Fünfzigerjahren wirken heute wie Vorreiter der Op-Art. Doch in den USA, wo der abstrakte Expressionismus populär war, fand sie keine Galerie. Das kümmerte sie nicht: »Ich fand Ruhm eine vulgäre Sache. Ich habe einfach nur gearbeitet und gewartet«, sagte sie der »New York Times«. Erst 2004, mit 89 Jahren, verkaufte sie ihr erstes Bild. Whiskey und Steaks sollen ihr Rezept für ihr hohes Alter gewesen sein. Carmen Herrera starb am 12. Februar in New York.

Peter Merseburger, 93: Die »Panorama«-Ausgabe, mit der er Fernsehgeschichte schrieb, war jene, die ohne ihn stattfand. Im März 1974 boykottierte Peter Merseburger das von ihm geleitete Politmagazin – aus Protest gegen die Entscheidung der ARD, in der Sendung einen Beitrag der Journalistin Alice Schwarzer nicht auszustrahlen. Darin war eine Abtreibung zu sehen. Anstelle von Merseburger moderierte Nachrichtensprecher Jo Brauner. Die Merseburger-Zeit, das waren die wilden Jahre von »Panorama«. Im öffentlich-rechtlichen Gefüge war das SPD-Mitglied Merseburger das linke Pendant zum rechten Gerhard Löwenthal vom »ZDF-Magazin«. Konservativen Zuschauern war der in Zeitz geborene Merseburger ein Ärgernis, die CDU forderte ein Bildschirmverbot für ihn. Erlernt hatte er den enthüllenden Journalismus beim SPIEGEL, wo er von 1960 bis 1965 arbeitete. Der SPIEGEL ließ ihn auch später nicht los. Seine 2007 erschienene Biografie über Rudolf Augstein ist das wohl am akribischsten recherchierte Werk über den Gründer. Auch über Willy Brandt, Theodor Heuss und den Mythos Weimar schrieb er im Ruhestand Bücher. Peter Merseburger starb am 15. Februar in Berlin.
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Inge Deutschkron, 99: Sie war zehn Jahre alt, als sie 1933 von ihrer Mutter erfuhr, dass sie jüdisch ist. In dem sozialdemokratischen Haushalt, in dem sie aufwuchs, mit einem Vater, der als Gymnasiallehrer arbeitete und Anhänger der Reformpädagogik war, hatte Religion keine Rolle gespielt. »Die Nazis haben mich zur Jüdin gemacht. So einfach ist das«, sagte Inge Deutschkron einmal. Ihr Vater flüchtete 1939 nach England, Deutschkron und ihre Mutter verbrachten die Jahre der Naziherrschaft in Berlin, sie mussten lange ein Leben im Verborgenen führen. Während dieser Zeit lernte Deutschkron, ihre Umgebung mit größter Aufmerksamkeit zu beobachten. Sehr viel später erzählte sie von den Deutschen, die ihr geholfen hatten, wie der Kleinfabrikant Otto Weidt, der ihr zwischen 1941 und 1943 eine falsche Identität besorgte; aber Deutschkron erinnerte sich auch sehr genau an jene Berliner, die hinter der Gardine standen und zuschauten, wenn jüdische Bürger von der Gestapo abgeholt wurden. Nach dem Ende des Krieges ging sie mit ihrer Mutter zum Vater nach England; 1955 kehrte sie in der Hoffnung auf ein verändertes Land in die Bundesrepublik zurück. Sie lebte in Bonn und berichtete als Korrespondentin für eine israelische Zeitung vom Auschwitzprozess in Frankfurt. Sie lieferte präzise, fast emotionslose Berichte, nachzulesen in dem Buch »Auschwitz war nur ein Wort«. Deutschkron musste erleben, wie bekannte Nazis in angesehene Positionen zurückkehrten, es war ihr unerträglich. Die Israel-Feindlichkeit in Teilen der 68er-Bewegung bewog Deutschkron, ihr Geburtsland ein zweites Mal zu verlassen, sie zog 1972 nach Tel Aviv. Bis zu ihrer Pensionierung 1987 arbeitete sie als Journalistin. Während dieser Zeit veröffentlichte sie auch ihre Autobiografie »Ich trug den gelben Stern«. 1988 plante das Berliner Grips Theater eine Bühnenadaption dieses Buchs unter dem Titel »Ab heute heißt Du Sara«. Deutschkron reiste nach Deutschland, um mit dem Ensemble ausführlich über ihr Leben zu sprechen. Diese Aufklärungsarbeit wurde fortan zu ihrer Lebensaufgabe; 2001 kehrte sie nach Berlin zurück, bis ins hohe Alter suchte die Ehrenbürgerin das Gespräch mit Schülerinnen und Schülern. Dem »Zeit-Magazin« sagte sie, was am Ende ihres Lebens ihre Botschaft an die Jugend war: »Ihr müsst euch um Politik kümmern, das ist die Grundlage für alles. Die Grundlage für die Demokratie.« Inge Deutschkron starb am 9. März in Berlin.

Egidius Braun, 97: Als er 2001 sein Amt als DFB-Präsident verließ, hatte sich der Fußball verändert. Er war zum Event geworden, zum Millionengeschäft – das war nicht mehr der Fußball, für den Egidius Braun stand. Braun hatte sich stets als Anwalt der Amateure verstanden. Mit der Mexiko-Hilfe hatte er ein großes soziales Projekt angeschoben, dem Kommerzfußball stand er immer skeptisch gegenüber. Braun, geboren 1925 in Stolberg-Breinig bei Aachen, hatte eine typische DFB-Karriere hinter sich. Über die Regional- und Landesverbände war er 1977 zum DFB-Schatzmeister aufgestiegen, 1992 folgte er Hermann Neuberger in das höchste deutsche Fußballamt. Er konnte Erfolge feiern wie den EM-Sieg der Nationalmannschaft 1996, aber erlebte auch Tiefschläge. Seine schwärzeste Stunde war, als deutsche Hooligans bei der WM 1998 den Gendarmen Daniel Nivel fast totgeprügelt hatten. Braun war davon so mitgenommen, dass er kurz vor dem Rücktritt stand. Wenig Ruhm erntete er bei der Bundestrainersuche nach dem Rücktritt von Berti Vogts – als er das Angebot an Paul Breitner kurzfristig zurückzog. Mit der nach ihm benannten DFB-Stiftung, die diverse soziale Projekte im In- und Ausland fördert, entstand ab 2001 so etwas wie sein Lebenswerk. Egidius Braun starb am 16. März in Aachen.
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Madeleine Albright, 84: Sie nannte es »Broschendiplomatie«: Mit auffälligem Schmuck signalisierte sie ihrem Gegenüber stets mehr als Stil. Im Irak, wo sie als Schlange verhöhnt wurde, trug sie eine Schlange; für die Russen, die einen Raum im State Department verwanzt hatten, trug sie eine Wanze; und bei einem Treffen mit Palästinenserchef Jassir Arafat steckte sie sich eine Wespe an, denn Wespen stechen, und »ich wollte ihm eine spitze Botschaft übermitteln«. Mit brüskem Charme vertrat die erste Frau an der Spitze des US-Außenministeriums die Doktrin von einem für die Welt »unverzichtbaren« Amerika – nur um zu merken, dass die Welt immer mehr auf die Hybris der USA verzichten konnte und wollte. Sie schrieb Weltgeschichte im Jetlag. Denn nur persönliches Klinkenputzen, so ihr Glaube, könnte Kritiker umstimmen. Im Namen von US-Präsident Bill Clinton versuchte sie, weltweit Krisen zu managen, in Somalia, Ruanda, Haiti, Nordirland, Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo, meistens vor Ort, doch selten mit nachhaltigem Erfolg, was mitunter, aber nicht immer an ihr lag. Mittendrin fand sie heraus, dass sie einer jüdischen Familie entstammte, was diese aber verheimlicht hatte. Albright wurde in Prag geboren, als Marie Jana Körbelová. Aus Angst vor den Nazis flohen die Eltern nach London, konvertierten 1941 zum Katholizismus, ließen ihre drei Kinder taufen und gingen später in die USA. 26 Angehörige starben im Holocaust, Albright erfuhr das erst nach Jahrzehnten. Dieser Lebenslauf nährte eine Karriere, die geprägt war von historischen Feindbildern und dem Führungsanspruch der Wahlheimat USA. Amerikas Aufgabe sei es, »den Aufstieg des Bösen« in der Welt zu verhindern. 1988 lernte sie Bill Clinton kennen, der sie dann als Präsident zur Uno-Botschafterin machte und 1997 zur Außenministerin. Damals plädierte Albright für die Erweiterung der Nato durch »Kooperation« mit Ex-Ostblockstaaten – darunter die Ukraine. Zu einem Gipfeltreffen von Clinton und Putin erschien Albright im Mai 2000 mit den drei sprichwörtlichen Affen, die nichts hören, sehen und sagen, als Brosche. Warum Affen, fragte Putin sie. »Wegen Ihrer Tschetschenienpolitik«, sagte sie eiskalt. Madeleine Albright starb am 23. März in Washington.
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Patrick Demarchelier, 78: Er verstand es, Perfektion mit Leichtigkeit zu verbinden, und wurde einer der einflussreichsten Modefotografen des 20. Jahrhunderts. Dabei interessierten ihn die Kleider weniger als die Persönlichkeiten, die er erstrahlen ließ. Patrick Demarchelier wuchs in einfachen Verhältnissen in Le Havre auf. Er begann als Teenager mit einer simplen Kodak-Kamera und ging mit 20 Jahren nach Paris, später nach New York. Bei seiner Arbeit setzte er auf Spontaneität, denn er glaubte, das perfekte Bild entstünde eher zufällig. Oft arbeitete er sehr schnell, seine Models sollten gar nicht merken, dass die Session begonnen hatte. Weil er Individualität zuließ, gewann er das Vertrauen seiner Models, auch nackt wirken sie ganz entspannt. Er prägte die Ära der Supermodels und fotografierte sie alle – Campbell, Turlington, Schiffer, Moss –, oft tat er es für die Titelseiten der großen Glamourmagazine, häufig für die »Vogue«. 2018 tauchte sein Name im Zusammenhang mit Vorwürfen sexueller Belästigung auf. Er wies dies energisch zurück. Sein Bild von Lady Diana im Jahr 1990, der Prinzessin im schulterfreien weißen Kleid, den Blick offen und das Lächeln breit, gehört zu seinen bekanntesten Meisterwerken. »Ich mag es, die positiven Seiten des Lebens zu fotografieren«, sagte er einmal. »Ich mag die Schönheit, die innere Schönheit.« Das sieht man seinen Bildern an. Patrick Demarchelier starb am 31. März auf St. Barth.

Mimi Reinhardt, 107: Sie war die Frau, die Schindlers Liste schrieb. Die gebürtige Österreicherin Mimi Reinhardt war vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ins polnische Krakau gezogen. Nach dem Einmarsch der Nazis wurde sie im Krakauer Ghetto eingesperrt und 1942 in das nahe gelegene Konzentrationslager Plaszow geschickt. Dank ihrer Stenografie- und Deutschkenntnisse bekam Reinhardt Arbeit im Verwaltungsbüro des Lagers, wo sie die handschriftliche Liste der Juden abtippte, die in Schindlers Munitionsfabrik arbeiten sollten. So rettete Schindler etwa 1200 Menschen vor den Gaskammern. »Ich wusste nicht, dass diese Liste so wichtig war«, sagte sie später. Mimi Reinhardt starb am 8. April in Herzliya bei Tel Aviv.

Michael Degen, 90: Eine vergnügte und geheimnisvolle Ruhe strahlte er in vielen Rollen aus. Zum Beispiel als Gentleman im Thomas-Bernhard-Stück »Heldenplatz«, der über die Reuelosigkeit österreichischer Judenhasser sprach. Michael Degen wuchs als Sohn jüdischer Eltern in Berlin auf, er war acht Jahre alt, als sein Vater starb, der im KZ Sachsenhausen schwer misshandelt worden war. »Nicht alle waren Mörder« nannte Degen sein Buch über eine Kindheit in Nazideutschland, die er mit seiner Mutter in Verstecken überlebt hatte. Das Buch, in dem Degen von jenen nicht jüdischen Deutschen erzählte, die inmitten der Barbarei mutig genug waren zu helfen, wurde ein Bestseller. Berühmt und verehrt wurde Degen als Fernsehdarsteller in Serien wie »Diese Drombuschs« und Krimis wie den Donna-Leon-Verfilmungen. Im Theater hatte er angefangen, unter anderem am noch von Bertolt Brecht geleiteten Berliner Ensemble, später arbeitete er an Bühnen mit großen Regisseuren wie Peter Zadek. Zu seiner Fernsehprominenz hatte der mit einem halben Dutzend Büchern erfolgreiche Autor ein ironisches Verhältnis. »Schreiben hat mir immer enormen Spaß gemacht«, sagte er in einem Interview, »was ich weiß Gott nicht von allen meinen Drehtagen behaupten kann.« Michael Degen starb am 9. April in Hamburg.
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Letizia Battaglia, 87: Ihr Nachname bedeutet Kampf oder auch Schlacht, und er wurde ihr Omen. Letizia Battaglia war die wohl berühmteste Fotojournalistin und Anti-Mafia-Kämpferin Italiens, 1935 in Palermo geboren. Sie war zunächst brave Hausfrau und Mutter, rebellierte dann gegen bürgerliche Konventionen, gegen Vater, Ehemann und Machogewalt und erfand sich neu als Chronistin der sizilianischen Cosa Nostra. Ihre eindrücklichen Schwarz-Weiß-Fotografien aus den Siebziger- und Achtzigerjahren im Stil des Neorealismus wurden weltberühmt. Sie dokumentierte, worüber meist geschwiegen wurde, und begab sich dabei selbst in Gefahr, immer wieder erhielt sie Todesdrohungen. Erst mit fast 40 Jahren entdeckte sie die Kamera als Ausdrucksmittel – und war ihr fortan verfallen. Oft war sie als Erste am Tatort, weil sie den Polizeifunk abhörte und sofort auf ihrer Vespa hinraste, wenn wieder ein Opfer der Mafia in seiner Blutlache lag oder Angehörige trauerten. Im Jahr 1992, als die beiden Mafiarichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordet wurden, hörte sie auf, Tote zu fotografieren; sie hatte mehr gesehen, als die meisten Menschen aushalten können. Im hohen Alter wandte sich die Kettenraucherin mit einem deutlich jüngeren Lebensgefährten und rot, pink oder grün gefärbten Haaren wieder der politischen Sozialreportage zu, mit der sie ihre Karriere begonnen hatte, zeigte Alltag und Armut, aber auch die Schönheiten ihrer Heimat Sizilien. Letizia Battaglia starb am 13. April in Palermo.

Régine, 92: Zur »Königin der Nacht« wird man nicht ohne Einsatz: Sie brauche wenig Schlaf, sei 18 Stunden auf den Beinen, trinke selten und rauche nie, hat Régine von sich gesagt. Was eine Gastgeberin ausmacht, hatte die 1929 im belgischen Anderlecht als Tochter polnisch-jüdischer Eltern geborene Régina Zylberberg im Pariser Bistro ihres Vaters gelernt. Bald machte sie sich im Nachtklub Whisky à Gogo unersetzlich, Françoise Sagan freundete sich mit ihr an, die Rothschilds finanzierten ihr Ende der Fünfzigerjahre den ersten eigenen Klub. Manchen Historikern des Nachtlebens gilt Régine als Erfinderin der Disco, denn im Chez Régine tanzten Georges Pompidou oder Brigitte Bardot zu Musik, die nicht von einer Kapelle oder aus der Jukebox kam, sondern von zwei Plattenspielern. Anfang der Sechzigerjahre lehrte die talentierte Tänzerin Tout-Paris den Twist, später nahm die Rothaarige Gesangsstunden und sang Chansons, die Aznavour oder Gainsbourg für sie schrieben. In den Siebzigerjahren exportierte sie ihr Régine’s-Erfolgsrezept, zeitweise umfasste ihr Imperium 23 Etablissements. Auch in New York, Kuala Lumpur oder Düsseldorf kam es auf die richtige Gästemischung aus Prominenten, Reichen und Gutaussehenden an. Die Kontrolle durchs Guckloch in der Klubtür bestand nur, wer korrekt gekleidet war: Selbst Mick Jagger wurde wegen seiner Turnschuhe weggeschickt. Sie sang eine französische Version von »I Will Survive« und behielt ihren spöttischen Humor auch in einer Reality-TV-Show auf dem Bauernhof. Eine Freundin nannte sie »eine Taschenlampe in der Nacht, Vertraute, Trösterin, Beraterin«. Régine starb am 1. Mai in Paris.

Jürgen Blin, 79: Sich aus kleinen Verhältnissen nach oben kämpfen und wenn die Karriere zu Ende ist, vom großen Glück verlassen sein: So stellt man sich das klassische Boxerleben vor, und so ein Leben führte auch der in Burg auf Fehmarn geborene Jürgen Blin. Als Europameister im Schwergewicht war er 1972 ganz oben, im Jahr zuvor stand er in Zürich sogar gegen The Greatest Muhammad Ali im Ring – neben Karl Mildenberger war er der einzige Deutsche, dem diese Ehre zuteilwurde. Auch wenn Blin gegen den Superstar letztlich chancenlos war: Er hielt sieben Runden durch, der Stolz darauf war ihm noch Jahrzehnte später anzumerken. Bevor er in den Ring stieg, hatte er als Schiffsjunge die Meere befahren, danach lernte er das Fleischerhandwerk. Weil gegenüber der Schlachterei eine Boxhalle war, begann er mit dem Sport. Nach 48 Profikämpfen, von denen er 30 gewann, beendete Blin 1973 seine Laufbahn und begann sein neues Leben als Gastwirt. Sein Imbiss im Hamburger Hauptbahnhof »Jürgen Blin’s Bier- & Snackbar« war über die Stadtgrenzen hinaus bekannt: Ein ehemaliger Box-Europameister, der selbst am Tresen steht und Bier zapft, die Kneipe zudem vollgestopft mit Box-Erinnerungen – das hatte was. Privat musste er einige schwere Schläge einstecken: wirtschaftlich – er geriet zeitweise in schweres Fahrwasser, musste Insolvenz anmelden – und familiär, einer seiner Söhne nahm sich das Leben. Jürgen Blin starb am 7. Mai in Reinbek bei Hamburg an Nierenversagen.
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Inge Viett, 78: Sie war eine der zähsten Terroristinnen der Bundesrepublik. 1944 bei Hamburg geboren, zog sie 1968 nach West-Berlin. Dort kam sie mit Kreuzberger Anarchisten zusammen und schloss sich der linksextremistischen »Bewegung 2. Juni« an; gleich beim ersten Bombenanschlag kam ein Unbeteiligter ums Leben. Das hielt Inge Viett nicht auf. Sie wurde 1973 und 1975 zwar verhaftet, konnte aber jeweils nach rund einem Jahr ausbrechen. Bereits 1978 knüpfte sie Kontakte mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Viett schloss sich 1980 der RAF an; in Paris schoss sie auf einen Polizisten. 1982 tauchte sie in der DDR unter, die sie bald als ihre neue Heimat sah. Doch nach ihrer Verhaftung in Magdeburg 1990 sagte sie auch gegen ihre Ex-Stasi-Kontaktmänner aus und ersparte sich so als Kronzeugin lebenslange Haft. Von den Aktionen der RAF distanzierte sie sich nie. Inge Viett starb am 9. Mai in Falkensee bei Berlin.
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Hans Scheibner, 85: Der in Hamburg geborene Liedermacher und Kabarettist mochte das in der Stadt gepflegte Understatement. Erfolge feierte er in der legendären »Hamburger Szene« der Siebzigerjahre und schrieb unter anderen den Text zu dem Song »Schmidtchen Schleicher«, mit dem der Sänger Nico Haak 1976 einen Top-Ten-Hit hatte. Scheibners Titellied seiner LP »Achterndiek« wurde zu einer Art Hymne der Antiatomkraftbewegung. Seine Liebe zu pointierten und provokanten Äußerungen brachte Scheibner aber auch Ärger ein. 1985 setzte er in der NDR-Talkshow Soldaten mit Mördern gleich. Daraufhin wurde seine TV-Show »… scheibnerweise« abgesetzt. Dabei passte der Satiriker in kein politisches Lager, sondern fand seinen Platz zwischen den Stühlen. 2016 veröffentlichte er seine Autobiografie »In den Himmel will ich nicht!«. Hans Scheibner starb am 23. Mai in Hamburg.

Jean-Louis Trintignant, 91: Die besten Schauspieler seien diejenigen, »die am meisten fühlen und am wenigsten zeigen«, fand der Südfranzose. Er selbst war ein Meister der zurückhaltenden Mimik; und wenn Jean-Louis Trintignant doch einmal lächelte, wirkte es wie ein Faustschlag. Er kam 18-jährig nach Paris und wollte in der Schauspielschule vor allem seine Schüchternheit überwinden, berühmt sein wollte er nie. Doch schon sein dritter Film brachte ihn in die Klatschpresse: In »… und immer lockt das Weib« spielte er Brigitte Bardots Ehemann – und hatte zudem eine Affäre mit ihr. Er bezeichnete sich selbst als Verführer, dreimal war er verheiratet. Der Durchbruch als Filmstar kam 1966 mit Claude Lelouchs Liebesfilm »Ein Mann und eine Frau«. Als Trintignant sich die Rollen aussuchen konnte, ignorierte er Hollywood und drehte mit den Größen des europäischen Autorenfilms. Eindringlich und ohne Effekthascherei spielte er einen Faschisten für Bertolucci, einen unbeirrbaren Ermittler für Costa-Gavras, einen moralischen Katholiken für Rohmer. Tragödien prägten sein Privatleben: 1969 erlag seine Tochter Pauline dem plötzlichen Kindstod, 2003 wurde ihre Schwester Marie getötet. Es dauerte lange, bis er »ein Leben ohne Trost« erlernte, wie er es mal ausdrückte. 2012 gelang ihm in Michael Hanekes »Liebe« ein triumphales Spätwerk. Jean-Louis Trintignant starb am 17. Juni im südfranzösischen Collias.

Peter Brook, 97: Er war ein Prediger der Schlichtheit und der Askese, das machte seine Theaterarbeiten revolutionär und mitunter auch ganz schön langweilig. »Der leere Raum« heißt das 1968 erschienene Buch, in dem der bereits früh erfolgreiche Bühnen- und Filmregisseur Peter Brook Vorträge zusammenfasste und für die Theaterkunst eine Reduktion aufs Wesentliche forderte. »Wir müssen in der nachbrechtischen Epoche einen Weg vorwärts finden, der zu Shakespeare zurückführt«, lautet eine für Brooks Dialektik typische Botschaft. Seine Lehren beeinflussten Theaterregisseurinnen und -regisseure in aller Welt. Brook war in einer aus Lettland nach Großbritannien ausgewanderten russisch-jüdischen Familie aufgewachsen und galt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst als begabter Shakespeare-Regisseur. Neben Opern und Kinofilmen, darunter die Literaturadaption »Herr der Fliegen« (1963), inszenierte er mit klugem, genauem Blick Stücke zeitgenössischer Dramatiker wie Jean Genet, Jean-Paul Sartre und Peter Weiss. Anfang der Siebzigerjahre gründete er in Paris eine der Erforschung von möglichst ursprünglichen Darstellungsformen verpflichtete Truppe aus Bühnenkünstlern asiatischer, afrikanischer und westlicher Herkunft, die den Arbeitsort, das Théâtre des Bouffes du Nord, weltberühmt machte. Eine »Carmen« (1981), deren Bühnenbild praktisch aus einem Haufen Sand bestand, und Brooks in Avignon uraufgeführte Version des indischen Epos »Mahabharata« (1985) tourten durch viele Länder. Peter Brook starb am 2. Juli in Paris.

Shinzō Abe, 67: Er hat die japanische Politik der vergangenen Jahrzehnte geprägt wie kaum jemand sonst. In eine Politikerdynastie hineingeboren, wurde der nationalkonservative Shinzō Abe 2006 mit 52 Jahren zum jüngsten Premier Japans nach dem Krieg gewählt. Rasch versuchte er, die Verfassung zu ändern, Artikel 9, in dem das Land sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Pazifismus bekennt, wollte er reformieren. Den meisten Japanern war das zu radikal, Abes Popularitätswerte sanken, ein Jahr später trat er ab. 2012 gelang ihm das Comeback: Knapp acht Jahre lang hielt er sich als Premierminister, so lange wie kein anderer. Japan verordnete er nach Jahren der Stagnation seine ganz eigene Wirtschaftspolitik, die »Abenomics«: Anleihekäufe und massive Staatsausgaben. Außenpolitisch trieb ihn das Erstarken Chinas um. Immer wieder brachte er eine Verfassungsänderung ins Spiel und verlangte vor wenigen Wochen gar die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen. Ein Tabu in Japan, dem bisher einzigen Land, auf das Atombomben fielen. Bei einer Wahlkampfveranstaltung am 8. Juli feuerte ein Attentäter zwei Schüsse auf ihn ab. Shinzō Abe erlag noch am selben Tag seinen Verletzungen in einem Krankenhaus in Kashihara.
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Dieter Wedel, 82: Vom Dreh zu »Der König von St. Pauli« wird berichtet, dass Dieter Wedel den stattlichen Schauspieler Heinz Hoenig so lange zusammenschrie, bis der wimmernd vom Set wankte. Wedel hatte Hoenig groß gemacht. Nun machte er ihn klein. Er hatte die absolute Macht. Wer an ihr zu kratzen wagte, wurde vom Set gefegt. Sein Name steht für das brutalste bislang bekannte sittliche Systemversagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. 2018 berichtete das »Zeit-Magazin« über Vorwürfe der Schikane, der Gewalt und der sexuellen Nötigung bis zur Vergewaltigung. Als das Landgericht München bekannt geben wollte, ob und wann es zum Prozess gegen den einstigen Starregisseur kommen sollte, kam wie eine Regieanweisung aus dem Off die Nachricht von seinem Tod. Dieter Wedel starb am 13. Juli in Hamburg.
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Uwe Seeler, 85: Vor einigen Jahren wurde ein Bild mit Uwe Seeler zum »Sportfoto des Jahrhunderts« gewählt. Nach dem verlorenen Weltmeisterschaftsfinale 1966 in London legt ein Sicherheitsbeamter dem deutschen Mittelstürmer mitfühlend die Hand auf den Rücken. Seeler hat den Kopf tief gebeugt, er wirkt wie ein Häufchen Elend. Das Bild drückt aus, wofür der Mittelstürmer stand. Leidenschaftlicher, ehrlicher Kampf bis zum Abpfiff. Ein fairer Verlierer zu sein, selbst in der größten Niederlage. Von allen Seiten bekam der Sportsmann Respekt, auch von den Gegnern. In seiner Heimatstadt Hamburg ist der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft eine Legende. Er hat dem Millionenangebot von Internazionale Mailand widerstanden, als der Trainer mit dem Geldkoffer angereist war, um ihn nach Italien zu locken. Seeler wäre der mit Abstand bestverdienende deutsche Fußballer geworden. Nach drei Tagen des Nachdenkens sagte er ab mit dem Satz: »Ich bin Hamburger, kein Wandervogel.« Am 29. August 1954 machte Seeler, Sohn des Hafenarbeiters und HSV-Idols Erwin Seeler, sein erstes Oberligaspiel. Bereits zwei Monate später stand er als 17-Jähriger im Aufgebot der Nationalmannschaft. Bis 1972 folgten 237 Oberligapartien, 239 Bundesligaspiele, 72 Länderspiele. 2005 haben sie »uns Uwe« vor dem Volksparkstadion in Hamburg ein Denkmal gesetzt, seinen rechten Fuß als Skulptur, 5,30 Meter hoch, 2,30 Meter breit. Seeler war Meister mit dem HSV, Pokalsieger und erster Torschützenkönig der neuen Bundesliga. Seeler war ein Gegenbild zu alldem, was viele am heutigen Fußball stört, vereinstreu, bodenständig, uneitel. Mitte der Neunzigerjahre ließ er sich breitschlagen, das Amt des HSV-Präsidenten zu übernehmen. Er war damit überfordert, erntete Spott, schlimmer noch: Mitleid. Nach zweieinhalb Jahren war das Trauerspiel beendet. Seeler durfte endlich wieder Seeler sein. In einer Dokumentation zu seinem 85. Geburtstag sagte er einen Satz, der ihn kennzeichnete: »Ich finde, das Wichtigste, was man im Leben haben kann, ist, wenn man normal ist.« Uwe Seeler starb am 21. Juli in Norderstedt bei Hamburg.
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Nichelle Nichols, 89: Sie verkörperte wie kaum eine andere Schauspielerin ein Versprechen auf die Zukunft, und sie tat es mit Anmut, Kraft und Intelligenz: Nichelle Nichols spielte die coole Kommunikationsoffizierin Nyota Uhura auf dem Raumschiff Enterprise zu einer Zeit, als in den USA noch sogenannte Rassentrennung praktiziert wurde und Frauen in Führungspositionen auf der ganzen Welt eine Seltenheit waren. 1966 trat Lieutenant Uhura zum ersten Mal in »Star Trek« auf, es folgten 78 Episoden, mehrere Filme und Trickfilme. In der dritten Staffel der Hauptserie, Ende 1968, passierte das bis dahin Undenkbare: Uhura und Captain Kirk küssten sich. Und auch wenn das von Aliens per Gedankenkraft erzwungen worden war, wurde es als Sensation gefeiert. Mit William Shatner und Nichelle Nichols küssten sich zum ersten Mal ein weißer Mann und eine schwarze Frau im Fernsehen. Nichols hatte nach der ersten Staffel überlegt, aus der Serie auszusteigen, doch der Bürgerrechtler Martin Luther King redete ihr das aus – zu wichtig sei ihr Beitrag: »Zum ersten Mal«, so zitierte Nichols ihn in einem Interview, »werden wir gesehen, wie wir immer gesehen werden sollten, als intelligente, wertvolle, schöne Menschen, die singen, tanzen und in den Weltraum fliegen können.« Nichols begann ihre künstlerische Karriere am Theater; sie komponierte Musik, sang, tanzte in Musicals und arbeitete bis ins hohe Alter als TV-Schauspielerin. Ganz im Sinne von Lieutenant Uhura warb sie Leute für die Nasa an, deren Belegschaft wurde dank ihres Einsatzes diverser. Nichelle Nichols starb am 30. Juli in Silver City, New Mexico.

Issey Miyake, 84: Mode empfand der japanische Designer als Ausdruck von Optimismus. Über das wohl erschütterndste Ereignis seines Lebens verlor er jahrzehntelang kein Wort: Issey Miyake war sieben Jahre alt, als die USA am 6. August 1945 über seiner Heimatstadt Hiroshima eine Atombombe abwarfen. »Ich wollte nicht als der Designer gelten, der die Atombombe überlebte«, so erklärte der Modeschöpfer 2009 sein Schweigen. Wie keinem vor ihm gelang es Miyake mit seinem 1970 in Tokio gegründeten Modelabel, technologische Innovation und pure Ästhetik zu verbinden. Miyake reformierte die Modewelt mit anscheinend simplen und zugleich handwerklich revolutionären Kleidungsstücken. Von einer neuen Art zu falten – mit einer Heißpresse zwischen Papierschichten – bis hin zu Kleidung aus einem einzigen Stück Stoff hat der Modemacher die Grenzen dessen verschoben, was Stoff kann. Issey Miyake starb am 5. August in Tokio an Leberkrebs.
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Olivia Newton-John, 73: Millionen Teenager hatten Gefühle für sie. Jungs küssten ihr Poster, Mädchen bewunderten und beneideten sie: Olivia Newton-John war hübsch, sympathisch, konnte sensationell tanzen und singen – und hatte im Filmmusical »Grease« (1978) eine Leinwandromanze mit John Travolta. Die Künstlerin, deren strahlende Energie bezauberte, kam als drittes Kind eines Briten und einer gebürtigen Deutschen in Großbritannien zur Welt, 1954 wanderte ihre Familie nach Australien aus. 1966 nahm sie in Großbritannien ihre erste Single auf, Newton-Johns prägnante Stimme begeisterte ihr Publikum. Ihrer kommerziellen Erfolge schämte sie sich nicht: »Es nervt mich, wenn es heißt, etwas sei schlecht, weil es sich gut verkauft«, sagte sie dem Magazin »Rolling Stone« einmal. »Das genaue Gegenteil trifft zu.« Bereits 1973 gewann sie ihren ersten Grammy, drei sollten folgen. Die Single »Physical« (1981) des gleichnamigen Albums ging allein in den USA mehr als eine Million Mal über den Ladentisch. Ihr letztes Solostudioalbum »A Celebration in Song« erschien im Jahr 2008. Newton-John wirkte nach »Grease« in mehreren Musicalfilmen mit; »Xanadu« floppte an den Kinokassen. Doch der Soundtrack wurde ein internationaler Erfolg. 1992 erfuhr Olivia Newton-John, dass sie an Brustkrebs erkrankt war. Fortan setzte sie sich für die Krebsforschung ein, sie gründete in Australien eine Stiftung dafür. Ihr Memoir mit dem Titel »Don’t Stop Believin’« erschien 2018. Olivia Newton-John starb am 8. August auf ihrer Ranch in Südkalifornien.
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Rolf Eden, 92: Seine Markenzeichen waren der weiße Anzug – und seine offensiv ausgelebte Promiskuität. Mehr als 1000 Liebschaften soll Rolf Eden eigenen Angaben nach gehabt haben, mit sieben Frauen zeugte er Kinder. Deutschlands letzter Playboy wurde 1930 in Berlin geboren, wuchs als Sohn jüdischer Eltern ab 1933 aber in Haifa auf. Mitte der Fünfzigerjahre kehrte er nach Berlin zurück. Hier stieg er zur lokalen Größe auf. Er eröffnete Nachtklubs, das Kabarett »Schlüsselloch« und die Disco Big Eden. Schnell fand sich in seinen Etablissements Prominenz ein, Liza Minnelli feierte bei Eden, Jack Lemmon, die Rolling Stones. Eine Tageszeitung kürte ihn zum »peinlichsten Berliner«, was Eden für »sehr gut« hielt. Der Titel seiner Biografie lautet: »Immer nur Glück gehabt. Wie ich Deutschlands bekanntester Playboy wurde«. Rolf Eden starb am 11. August in Berlin.

Wolfgang Petersen, 81: Sein Kriegsepos »Das Boot« (1981) vermittelt den Zuschauern das Gefühl, in einer Stahlröhre eingeschlossen zu sein, schwitzend, stinkend, ölverschmiert, und den stetig steigenden psychischen Druck der Besatzung mit einzigartiger Intensität. Petersen, der 1941 in Emden zur Welt kam, dort in der Nachkriegszeit mit den Eltern in einer Baracke am Hafen wohnte, und als Kind die Schiffe aus Amerika begrüßte wie die Boten einer besseren Welt, hat mit der Adaption von Lothar-Günther Buchheims Bestseller »Das Boot« einen Kinoklassiker geschaffen, an dem Hollywood bis heute Maß nimmt. Seine Karriere begann er in Deutschland in den frühen Siebzigerjahren mit Fernsehfilmen wie »Smog« und der berühmten »Tatort«-Episode »Reifezeugnis«. Schließlich führte ihn sein Weg über »Das Boot« und »Die unendliche Geschichte« ins Herz der Traumfabrik, wo sich ein gutes Jahrzehnt lang jeder seiner Filme zu einem Hit entwickelte: »In the Line of Fire – Die zweite Chance« (1993) war ein perfekter Thriller, »Air Force One« (1997) trotz absurder Drehbuchwendungen rasend spannend, mit »Der Sturm« (2000) zog es Petersen wieder aufs Meer. Er besaß ein Gespür für brisante Stoffe – und die Fähigkeit, sie packend umzusetzen. Wolfgang Petersen starb am 12. August in seiner Wahlheimat Los Angeles an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
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Anshu Jain, 59: Es war von Beginn eine Mesalliance zwischen Anshuman »Anshu« Jain und den Deutschen, deren größte Bank er 2012 bis 2015 führte. Hier das gegenüber Wirtschaftsdingen misstrauische Publikum seines Gastlandes, dort der gebürtige Inder, der Karriere gemacht hatte im Handel mit Finanzprodukten, die kaum jemand verstand und in der Finanzkrise Billionenschäden anrichteten. Jains kurze Amtszeit als Vorstandschef der Deutschen Bank war überschattet von den Hinterlassenschaften aus seiner Zeit im Investmentbanking, milliardenteuren Bußgeldern und einer verblüffenden Unsicherheit als Entscheider, die mit seinem öffentlichen Bild als eiskalter Trader kontrastierte. Tatsächlich war Jain vielschichtiger als die meisten seiner Kollegen. In Neu-Delhi sowie Kabul aufgewachsen, wurde er von seinen Eltern nach den Grundprinzipien des Jainismus erzogen: Gewaltlosigkeit gegenüber allen Lebewesen, Unabhängigkeit von unnötigem Besitz, Wahrhaftigkeit. Ganz so friedfertig verlief seine Karriere indes nicht: Jain reüssierte bei der Wall-Street-Bank Merrill Lynch als gewiefter Trader. 1995 wechselte er zur Deutschen Bank, machte das piefige Kreditinstitut, auch mithilfe übler Geschäfte, kurzzeitig zur größten nicht amerikanischen Investmentbank der Welt und zahlte sich und seinen Gefolgsleuten, »Anshu’s Army«, horrende Boni aus. Nach seinem Abgang 2015 kam er beruflich nicht mehr auf die Beine, 2017 diagnostizierten die Ärzte Krebs. 2020 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos schien er wohlauf, von seinen chronischen Schmerzen wussten die Wenigsten. Anshuman Jain starb am 13. August in London.
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Eva-Maria Hagen, 87: Wäre die DDR nicht eingemauert und wären die Herrschenden nicht mit einer unfassbaren Spießigkeit ausgestattet gewesen, hätte Eva-Maria Hagen beste Chancen gehabt, die Romy Schneider des Ostens werden zu können: schön, undogmatisch, selbstbewusst, zerbrechlich. Ein Exportschlager wie eine Glashütte-Uhr. Doch Ideologie obsiegte über die Ikone, die Hagen war. Der durch den Repressionsstaat erzwungene Umzug von Ost nach West war eine Zäsur im Leben der populären Defa-Schauspielerin. Werke wie »Vergeßt mir meine Traudel nicht« oder »Das Kleid« waren nur der erfolgreichste Teil des mehr als 50 Filme umfassenden Defa-Œuvres. Die Liaison mit Liedermacher Wolf Biermann, der das SED-Regime zur Weißglut trieb, beendete Hagens 1957 begonnene Karriere acht Jahre später abrupt. Ab 1965 wurde sie gemieden, ihre Solidarität mit Biermann wurde ihr zum Verhängnis. 1977 folgte sie dem ausgebürgerten Biermann, von dem sie inzwischen getrennt war, in den Westen. Dort konnte sie nie an alte Glanzzeiten anknüpfen. »Die Hagen« war hier nicht sie, sondern ihre Tochter Nina, die Sängerin. Sie litt, nannte das, was sie fühlte, später Depressionen. Eva-Maria Hagen starb am 16. August in Hamburg.
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Theo Sommer, 92: Wenn Theo Sommer einen Leitartikel für die »Zeit« verfasste, sah das manchmal so aus: Füße auf dem Schreibtisch, in der einen Hand das Mikrofon vom Diktiergerät, in der anderen ein Glas Whisky. Er trug einen dunklen Anzug und ein gestreiftes Hemd. Sein Thema: Weltlage. Seine Leitfrage: Was kann der Westen tun? Meistens hatte er eine Antwort. Sommer wurde in Konstanz geboren, studierte Geschichte und Politische Wissenschaft und begann seine Laufbahn als Journalist bei der »Rems-Zeitung« in Schwäbisch Gmünd. Von 1973 bis 1992 war er Chefredakteur und anschließend bis 2000 Herausgeber der »Zeit«. Die Redaktion nannte ihn liebevoll Ted. Sommer hat sich auch geirrt, sein Stil war manchen zu schwülstig, aber er war einer der großen Journalisten der Bonner Republik. Seine Meinung hatte Gewicht, weil sie durchdacht war. Und Sommer hatte Grandezza, was nicht viele haben in diesem Land. Auch ein Journalist soll stilvoll angezogen sein, fand er, soll herzhaft feiern können, soll meistens gute Laune haben, soll seine Bildung ständig erweitern, soll groß denken. Nicht alles davon muss sein, aber es war immer gut, dass es einen gab, der all das lebte, verkörperte. Für jene, die ihn mochten oder verehrten, war es traurig zu erfahren, dass Sommer über Jahre Steuern hinterzogen hatte, insgesamt fast 650.000 Euro. Dafür wurde er 2014 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Für die »Zeit« hat er bis zuletzt geschrieben. Theo Sommer starb am 22. August in Hamburg.

Hans-Christian Ströbele, 83: Hätte Berlin-Kreuzberg einen König, dann wäre Hans-Christian Ströbele das Amt mit großer Wahrscheinlichkeit angetragen worden. Und wäre es ihm wirklich angetragen worden, hätte er mit noch größerer Wahrscheinlichkeit abgelehnt. Viermal gewann er in Friedrichshain-Kreuzberg das Bundestagsdirektmandat, obwohl Grüne seinerzeit noch keine Direktmandate holten. Ströbele war 2002 der Erste. Er schaffte es wieder. 2005, 2009, 2013. Zuvor war er, der 1939 geboren wurde, den Krieg noch erfuhr und sich später für den Frieden einsetzte, Meisterschütze an der Flak, als Wehrdienstleistender, wie er noch kurz vor seinem Tod erzählte. Nach der Bundeswehr studierte er Jura und Politische Wissenschaften. Er trat in die SPD ein, flog wieder raus. Zu Bekanntheit gelangte er, weil er als Anwalt RAF-Mitglieder verteidigte und weil er 1982 wegen Unterstützung der RAF zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt wurde. Er gründete die »taz« mit. Er sammelte Geld für Waffen, die nach El Salvador gingen. Erst als er genug Politik zusammenhatte für mehr als ein erfülltes Leben, begann seine politische Laufbahn so richtig. Ende der Siebzigerjahre war er Gründungsmitglied der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz, aus der die Berliner Grünen wurden. 1990 übernahm er für einige Monate den Bundesvorsitz, prägte danach die Partei, während sie durch die Institutionen marschierte. An der Vorbereitung der rot-grünen Koalition in Berlin 1989 arbeitete er mit. Selbst strebte er nie in die Exekutive. Dass Regierungen Kompromisse machen, akzeptierte er. Dass er sie machen sollte, nicht immer. Den Afghanistankrieg, an dem sich Deutschland mit grüner Billigung beteiligte, lehnte er stets ab. Um ihn herum veränderten sich Weggefährten. Manche radikalisierten sich. Andere verliebten sich ins bürgerliche Leben. Einige wurden Renegaten, wie Horst Mahler, in dessen Kanzlei Ströbele anfing, den er vor Gericht verteidigte, nachdem der sich der RAF angeschlossen hatte, und der später in den Rechtsextremismus driftete. Währenddessen blieb Ströbele eigensinnig, ohne eigenartigen Theorien zu verfallen. Skeptisch gegenüber der Staatsmacht, aber überzeugter Parlamentarier. Er hielt Distanz zur Macht, ohne sich von ihr abstoßen zu lassen. Er pflegte, was kaum einem gelingt: staatstragende, vernünftige Querulanz. Hans-Christian Ströbele starb am 29. August in Berlin.
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Michail Gorbatschow, 91: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Diesen berühmten Satz, der als eines seiner politischen Bekenntnisse verklärt wurde, hat Michail Sergejewitsch Gorbatschow so nie gesagt. Tatsächlich sagte der damalige KPdSU-Generalsekretär im Oktober 1989 bei einem Besuch in der DDR vor der Neuen Wache in Berlin: »Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.« Das klingt eher banal angesichts der Tatsache, dass die DDR und die Sowjetunion sich am Rande des Abgrunds befanden. Die Kolportage seines angeblichen Zitats zeigt, wie sehr das, was Gorbatschow tat, mit dem auseinanderfiel, wie es wahrgenommen wurde. Er wollte die Sowjetunion erneuern und bewirkte ihren Zerfall. Er rühmte die DDR und ging doch als Wegbereiter der deutschen Wiedervereinigung in die Geschichte ein. Er träumte von neuen freundschaftlichen Beziehungen der Staaten und Völker und konnte das Entstehen neuer Trennlinien in Europa nicht verhindern. Er wollte die Kommunistische Partei der Sowjetunion runderneuern und machte schließlich Reklame für Pizza. Die Tragik des Widerspruchs konnte er nie ablegen. Er blieb bis zum Schluss beliebt im Westen, aber verachtet von vielen seiner russischen Landsleute. Michail Gorbatschow starb am 30. August in Moskau.
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Queen Elizabeth II., 96: Krieg, Bomben, Entbehrung – und dann kam sie. 1953, die Spuren des Zweiten Weltkriegs noch überall sichtbar im Land, wurde Elizabeth Alexandra Mary Windsor mit 27 Jahren zur britischen Königin gekrönt. Die schöne junge Frau war nicht nur ein Sinnbild besserer Tage des inzwischen zerbröselnden Empire, des Sieges über Nazideutschland. Sie stand auch für Aufbruch, für etwas aufregend Neues, eingebettet ins beruhigende Kontinuum der Tradition. Dieses Versprechen von Verheißung hat Elizabeth II. nicht immer eingelöst. In den großen Krisen ihres Königreichs, in allen Zeitenwenden, die sie in sieben Jahrzehnten auf dem Thron erlebte, wirkte sie oft entrückt, abgekoppelt von dem, was ihre Untertanen gerade bewegte. Immerhin: Die Monarchin ohne wahre Macht wahrte stets die Würde ihrer Rolle. Und sie war omnipräsent, sie zeigte sich, nicht nur daheim, sondern als erste britische Königin reisend, in der ganzen Welt. Sie machte »The Queen« zu einer internationalen Marke, die so tief wirkte, dass Milliarden Menschen sofort ihr Bild im Kopf hatten, wenn sie diese beiden Worte hörten. Ein Vierteljahr nach dem Tod der Matriarchin ist ihre Familie entzweit, dem Neuanfang ihres über siebzigjährigen Sohnes als König Charles III. wohnt kein Zauber inne. Nun zeigt sich, wie einzigartig Elizabeth II. Regina, die Jahrhundert-Queen, tatsächlich war. Wirkmächtig und stoisch, privilegiert, aber pflichtbewusst. Der Mantel ihrer Majestät ist zerrissen, und das Licht fällt gleißend auf das, was übrig bleibt. Elizabeth II. starb am 8. September in ihrer schottischen Sommerresidenz Balmoral Castle.
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Javier Marías, 70: Mit einem für ihn völlig untypischen Satz begann der spanische Schriftsteller seinen Welterfolg »Mein Herz so weiß«, von dem allein in Deutschland mehr als eine Million Exemplare verkauft wurden: »Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren …« Javier Marías selbst wollte nämlich alles wissen. Was Tote tun würden, wenn sie wiederauferstehen könnten, was Liebende insgeheim voneinander denken, was für eine Welt sich in einem einzigen Satz Shakespeares verbirgt. Alldem ging er in seinen 14 fertiggestellten Romanen nach, die ihn zu einem der berühmtesten Autoren Europas machten. An einem weiteren Buch soll er noch bis kurz vor seinem Tod gearbeitet haben. Den ersten Roman veröffentlichte der 1951 in Madrid geborene Marías bereits mit 20 Jahren. Da sich sein Vater der Francodiktatur zeitweilig durch eine Dozententätigkeit in den USA entzogen hatte, konnte Marías eine Nähe zur englischen Sprache entwickeln, die für seine Generation in Spanien ungewöhnlich war. Er nutzte sie, um in Oxford zu unterrichten – sein autobiografisch gefärbter Roman »Alle Seelen« gibt über diese Zeit Auskunft – und sich von Shakespeare die Stichworte für die literarischen Erkundungen seines Landes und seiner Landsleute geben zu lassen. In Spanien war Marías zudem als Kolumnist und Fußballfan bekannt, der seinen Lieblingsklub Real Madrid gleichermaßen mit Kritik wie Begeisterung überschüttete. Javier Marías starb am 11. September in Madrid an einer schweren Lungenentzündung.

Jean-Luc Godard, 91: Mit krimineller Energie begann er seine Karriere als wohl berühmtester Cineast der Welt. Der 1930 in Paris geborene Jean-Luc Godard beklaute seine wohlhabende Frankoschweizer Familie: erst, um Kinokarten zu kaufen, später, um die Filme von Jacques Rivette, einem Mitstreiter bei der legendären Filmzeitschrift »Cahiers du cinéma«, zu finanzieren. Als 1960 sein eigenes Langfilmdebüt »Außer Atem« erschien, waren die Geldnöte mit einem Schlag vorbei. Der Film, halb wilde Hommage, halb intellektuelle Parodie auf US-Gangsterfilme, wurde ein weltweiter Erfolg und machte mit seinem Regisseur auch das neue französische Kino berühmt. Für ein knappes Jahrzehnt bestimmten die Filme der »Nouvelle Vague« das Kino – eine Zeit, in der Godard im Jahrestakt gefeierte Meisterwerke wie »Die Verachtung« oder »Elf Uhr nachts« schuf. Dann entdeckte er die Politik. Beeindruckt von der Studentenbewegung, drängten Godard und seine Regiekollegen 1968 darauf, das Festival von Cannes abzubrechen, um sich mit den Pariser Protesten zu solidarisieren. Godard, der das Filmemachen stets als einsame Tätigkeit beschrieben und somit der Idee des Regisseurs als alleiniger Auteur eines Films Futter gegeben hatte, wandte sich in der Folge der Arbeit im Kollektiv zu – und verschreckte seine Fans mit didaktischen Werken. Ein größeres Publikum gewann er in den Achtzigerjahren mit Filmen wie der Liebesfarce »Vorname Carmen« zurück. In den digitalen Bilderfluten unserer Gegenwart rief er sich schließlich mit Filmessays wie »Geschichte(n) des Kinos« oder seiner letzten Arbeit »Bildbuch« (2018) erneut als großer Denker des Kinos in Erinnerung. Jean-Luc Godard, gesundheitlich stark geschwächt, starb am 13. September im schweizerischen Rolle, nachdem er Sterbehilfe in Anspruch genommen hatte.
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Fritz Pleitgen, 84: Als er 1962 das Angebot bekam, vom Bielefelder Lokalblatt »Freie Presse« zur »Tagesschau« zu wechseln, erbat er sich Bedenkzeit. Das Medium Fernsehen habe Zeitungsleuten wie ihm damals als »etwas Halbseidenes« gegolten, erklärte er später. In den folgenden Jahrzehnten wurde er zu einem der prägenden Köpfe der ARD. Fritz Pleitgen berichtete über den Zypernkonflikt und den Sechstagekrieg, war Korrespondent in Moskau, Ost-Berlin und Washington. Die Stimme sonor, die Worte wohlgesetzt, strahlte er selbst in den größten geopolitischen Wirren Ruhe aus, als Reporter wie auch als Moderator von ARD-»Brennpunkt«. In den Tagen des Mauerfalls 1989 appellierte er an seine Kollegen, sie sollten dieser »explosiven Zeit« nicht noch »eine zusätzliche Dramatik oder gar Zunder geben«. 1994 wurde Pleitgen zum WDR-Hörfunkdirektor ernannt, im folgenden Jahr zum Intendanten. Auch als Hierarch drehte er weiter Filme. Begeistert von Willy Brandt und dessen Ostpolitik, war er 1969 in die SPD eingetreten. Trotzdem scheiterte er an der fehlenden Unterstützung der sozialdemokratischen Mitglieder im WDR-Rundfunkrat, als es 2006 darum ging, seinen Vertrag als Intendant um eine dritte Amtszeit zu verlängern. Im Ruhestand engagierte er sich für die Metropole Ruhr als Europäische Kulturhauptstadt, seit 2011 war er Präsident der Deutschen Krebshilfe. Vor zwei Jahren wurde Bauchspeicheldrüsenkrebs bei ihm diagnostiziert. Fritz Pleitgen starb am 15. September in Köln.
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Jina Mahsa Amini, 22: Mahsa Amini wurde von allen nur Jina genannt, das war ihr kurdischer Name. Sie war ein fast schüchternes Mädchen, das immer ein Lächeln auf den Lippen hatte, erzählen Verwandte. Erst vor Kurzem eröffnete sie ihre kleine Boutique in der kurdischen Stadt Saghes im Westen Irans. Jina wartete auf einen Studienplatz in Biologie. Ihr Tod hat die seit Monaten anhaltenden Proteste in Iran ausgelöst. Die junge Frau starb drei Tage nachdem sie bei einem Verwandtenbesuch in Teheran von der gefürchteten Sittenpolizei auf eine Wache geschleppt wurde, angeblich, weil ihr Kopftuch nicht richtig saß. Auf der Wache brach Jina zusammen, sie starb im Koma, künstlich beatmet, mit schweren Kopfverletzungen. Das Regime behauptet, Jina habe an einer Vorerkrankung gelitten, die den Tod auslöste. Doch die Iranerinnen kennen die Schikanen der Moralpolizei. Sie wissen, wie unwahrscheinlich diese Version ist, und dass Jinas Schicksal im Zweifel ihr eigenes ist. Seither gehen die Iranerinnen auf die Straße, trotz Massenverhaftungen, trotz erster Hinrichtungen verurteilter Demonstranten. Ihr Frust verbindet sich inzwischen mit dem Aufstand der unterdrückten Kurden und der Wut der Arbeiter gegen schlechte Löhne. Bei der Geburt hatte der Großvater Jina den Spitznamen »Schne« gegeben, übersetzt »sanfter Wind«. Aus dem sanften Wind ist ein Sturm geworden, der die Islamische Republik früher oder später zum Einsturz bringen dürfte. Jina Mahsa Amini starb am 16. September in Teheran.
ZUMA Wire / IMAGO

Coolio, 59: Jede und jeder, die in den Neunzigerjahren mal ein Radio oder das Musikfernsehen angemacht haben, kennt dieses Stück, es ist sofort da, wenn man nur den Titel sieht: »Gangsta’s Paradise«. Ein Welthit – und gleichzeitig ein melancholischer, nachdenklicher Song über einen jungen Mann, der am Anfang seines Lebens steht und doch nur an sein Ende denken kann. Artis Leon Ivey Jr., wie Coolio mit bürgerlichem Namen hieß, wuchs in Compton im Großraum Los Angeles auf, war als Jugendlicher Teil einer kriminellen Gang, nahm Drogen, kam dann mit der jungen Hip-Hop-Kultur in Berührung und begann zu rappen. Er brachte eine Menge Platten heraus, aber nichts, was er machte, sollte je wieder den Erfolg von »Gangsta’s Paradise« von 1995 haben – am nächsten kam noch der Song »C U When U Get There« ran, mit einem Sample von Johann Pachelbels »Kanon in D-Dur«. Coolio ging später in allerlei Fernsehshows, auch in Deutschland, wo er 2004 in »Comeback – Die große Chance« auftrat; 2019 war er der Running Mate der Pornodarstellerin Cherie DeVille im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Coolio starb am 28. September in Los Angeles.
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Günter Lamprecht, 92: Von den Attributen, mit denen man sich in seiner Zunft gern schmückt, konnte er gleich zwei für sich beanspruchen: Er war »Tatort«-Schauspieler und Fassbinder-Schauspieler. Bereits in »Taxi nach Leipzig«, der allerersten Folge der ARD-Krimiserie, war er 1970 in einer Nebenrolle zu sehen. In den Neunzigerjahren verkörperte er in seiner Geburtsstadt Berlin den Kommissar Franz Markowitz. Lamprecht hatte die Figur selbst erfunden: einen Kriminalbeamten, der nicht prügelte und schoss, dafür aber fast so melancholisch war wie die Ermittler in den US-amerikanischen Schwarz-Weiß-Filmen der Vierzigerjahre. Die nostalgische Begeisterung für diese Zeit teilte Lamprecht mit Rainer Werner Fassbinder, dem wichtigsten Regisseur der alten Bundesrepublik. Der drehte mehrere Filme mit Lamprecht, darunter das Nachkriegsdrama »Die Ehe der Maria Braun«, einen seiner größten Erfolge. 1980 übernahm Lamprecht die Hauptrolle des Franz Biberkopf in Fassbinders Verfilmung des Romans »Berlin Alexanderplatz«. Die 14-teilige Produktion schrieb Fernsehgeschichte. Auch später trat Lamprecht in Historienfilmen oder -serien auf, etwa 1997 in »Comedian Harmonists«. Auf andere Art gerieten Lamprecht und seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Claudia Amm, 1999 in die Schlagzeilen, als sie bei einem Amoklauf in Bayern angeschossen wurden. Eine seiner letzten Rollen übernahm er schließlich 2017: In »Babylon Berlin« spielte er Reichspräsident Hindenburg. Günter Lamprecht starb am 4. Oktober in Bonn.
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Loretta Lynn, 90: Sie kam aus armen Verhältnissen in Kentucky und hatte schon vier Kinder, als sie gerade mal 20 Jahre alt war, doch boxte sie sich mit ihrer Musik bis ganz nach oben durch und wurde eine der großen Figuren des Country. Loretta Lynn erfand eine weibliche Sprache in dieser Musik, indem sie über ihr Leben sang (»Coal Miner’s Daughter«), die Pille (»The Pill«) oder Frau-Mann-Geschichten (»Don’t Come Home A-Drinkin [With Lovin’ on Your Mind]«). Sie war eine Realistin des Songwritings und eine große Beobachterin menschlichen Verhaltens: »Männer und Frauen sind heute noch genau wie früher«, sagte sie vor ein paar Jahren in einem Interview, nur »Frauen können heute besser zurückschlagen«. Loretta Lynn starb am 4. Oktober in Hurricane Mills, Tennessee.

Angela Lansbury, 96: Über ihre jungen Jahre als Schauspielerin in den USA hat sie mal den wunderbar britisch-trockenen Satz gesagt: »I was all talent and no looks.« Angela Lansbury, Tochter einer Schauspielerin und eines früh an Krebs verstorbenen Politikers, wurde 1925 in London geboren und zog im Zweiten Weltkrieg noch im Jugendalter in die USA. Als 19-Jährige war sie zum ersten Mal für einen Nebenrollenoscar nominiert, für ihren Auftritt im George-Cukor-Film »Das Haus der Lady Alquist«, in dem Ingrid Bergman die Hauptrolle spielte. Zwei weitere Nominierungen und ein später Ehrenoscar folgten. Außerdem wurde sie in den britischen Adelsstand erhoben. Auf dem New Yorker Broadway war Lansbury viele Jahre lang ein Theaterstar. Im Kino spielte sie neben Judy Garland, Spencer Tracy, Danny Kaye und Elvis Presley – als dessen Mutter im Film »Blue Hawaii« von 1961. Zu lang andauerndem Weltruhm aber brachte es Lansbury durch die Fernsehserie »Mord ist ihr Hobby«. In den auch in Deutschland ausgestrahlten zwölf Staffeln der Serie spielt sie eine erfolgreiche und schrullige Krimiautorin und Hobbydetektivin namens Jessica Fletcher. Im Privatleben war Lansbury mehr als 50 Jahre lang mit dem Filmproduzenten Peter Shaw (1918 bis 2003) verheiratet, mit dem sie zeitweise in Irland lebte und zwei Kinder großzog. Über das Erfolgsrezept der Fernsehserie hat die Schauspielerin gesagt: »Wir haben nie Blut gezeigt, und alle Fälle wurden tadellos aufgeklärt. Das Puzzle ist jedes Mal komplett.« Angela Lansbury starb am 11. Oktober in Los Angeles.

Dietrich Mateschitz, 78: Das Getränk, das ihn zum reichsten Mann Österreichs machte, hatte er Anfang der Achtzigerjahre auf einer Asienreise entdeckt. Dietrich Mateschitz, damals verantwortlich fürs Marketing der Zahncreme Blendax, erkannte das Potenzial der wach machenden Wunderbrause. Er sicherte sich die Lizenzrechte für den Vertrieb jenseits von Asien, veränderte die Rezeptur, um den Drink für Europäer schmackhafter zu machen, und füllte das Getränk in Dosen. Das Maskottchen, zwei rote Stiere, übernahm er und machte sie zum Namensgeber seines künftigen Imperiums: Red Bull. Mateschitz wurde Milliardär, er kaufte Schlösser und Burgen und unterhielt eigene Eishockey-, Fußball- und Formel-1-Teams. Die Sportler, die für ihn Siege errangen, wurden wiederum zu Botschaftern der Marke. Den Rennfahrer Gerhard Berger gewann er als Testimonial, bereits ein halbes Jahr bevor es Red Bull überhaupt gab. Wegen Mateschitz habe er seinen ersten Clinch mit Formel-1-Boss Bernie Ecclestone gehabt, berichtete Berger später. Der Grund sei die Red-Bull-Trinkflasche gewesen, die Berger aufs Siegerpodium mitnahm, obwohl Ecclestone einen Exklusivdeal mit einem Champagnerhersteller hatte. Mateschitz verstand es, den Hype um Red Bull zu befeuern. Sich selbst jedoch nahm er dabei stets zurück. Interviews gab er nur ausgewählten Journalisten. Mit der Übernahme von Servus TV wurde er 2009 selbst zum Medienunternehmer. Zuletzt diente der Sender als Tummelplatz für Populisten und Verschwörungstheoretiker. Dietrich Mateschitz starb am 22. Oktober in Salzburg an Krebs.
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Jerry Lee Lewis, 87: Schon in der Highschool soll er versucht haben, den Lehrer mit einer Krawatte zu erdrosseln. 1976 schoss er, wenn auch versehentlich, seinem Bassisten in die Brust: Jerry Lee Lewis trug den Beinamen »The Killer« nicht grundlos. Er zählte mit Elvis Presley zur ersten Generation weißer Rock-’n’-Roll-Stars und bereicherte Mitte der Fünfzigerjahre von Memphis aus weiße Hillbilly-Gesänge mittels schwarzem Rhythm ’n’ Blues, eine neue, körperfixierte Popmusik entstand: der Rockabilly. Inhaltlich ging es um die Jagd auf Sex. Lewis hatte seinen ersten Hit 1957 mit »Whole Lotta Shakin’ Goin’ On«, einer Coverversion der schwarzen Rhythm-’n’-Blues-Sängerin Big Maybelle, die er unter viel Jauchzen und Gurren als Anleitung zum Geschlechtsakt darbot. Teenager fanden hier Geräusche, die beschrieben, was tief in ihnen rumorte. Dass Lewis dabei sein Klavier in erotischer Verzückung in Flammen setzte, machte sein Anliegen umso dringlicher. Als 1958 öffentlich wurde, dass Lewis seine damals 13-jährige Cousine zur dritten Ehefrau genommen hatte, ohne sich vorher scheiden zu lassen, wurden seine Songs kaum noch im Radio gespielt. Mit einem furiosen Auftritt im Hamburger Star-Club gelang ihm 1964 sein Comeback: Der Pianist zelebrierte einen hochenergetischen Minimalismus, der den Punk vorwegnahm. In den letzten Jahren sang der einst erzreligiös erzogene Musiker vor allem Country- und Gospelsongs, in denen er Jesus pries. Jerry Lee Lewis starb am 28. Oktober auf seiner Ranch südlich von Memphis.
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Werner Schulz, 72: 1950 in Zwickau geboren, suchte er immer wieder die Auseinandersetzung mit der DDR. Nach einer Lehre als Lokomotivschlosser studierte er in Berlin, war in Oppositionsgruppen aktiv und zählte 1989 zu den Gründungsmitgliedern des Neuen Forums. Nach der Wende blieb er als Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen auch im vereinten Deutschland streitbar. Schulz hatte einen anderen Blick auf die Welt als viele westdeutsche Grüne und nach 40 Jahren DDR nur noch wenig Lust auf große Sprüche oder autoritäre Führung. Er saß 15 Jahre lang im Bundestag, zwischenzeitlich war er Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion. Unvergessen, wie er 2010 auf einer Pressekonferenz dem Linkenpolitiker Gregor Gysi die Leviten las. Joachim Gauck kandidierte damals zum ersten Mal als Bundespräsident, im dritten Wahlgang unterlag er dem CDU-Politiker Christian Wulff. Auch, weil die Wahlleute der Linken sich im entscheidenden Durchgang enthielten. »Ihr hättet über euren SED-Schatten springen können«, rief Schulz Gysi zu. Schulz sah und benannte die Probleme, die das Ende der DDR für einen Teil ihrer Bürgerinnen und Bürger bedeutete, aber für ihn überwog der positive Blick auf die Wiedervereinigung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte ihn am 9. November dieses Jahres zu einer Tagung ins Schloss Bellevue eingeladen. Schulz brach dort zusammen. Josef Schuster, Arzt und Chef des Zentralrats der Juden in Deutschland, versuchte vergebens, ihn wiederzubeleben. Werner Schulz starb am 9. November in Berlin.
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Hans Magnus Enzensberger, 93:
Unter den bedeutenden deutschsprachigen Schriftstellermännern der Nachkriegszeit war er der einzige, der über sich selbst kichern konnte. Nicht laut loslachen, das war nicht sein Stil. Hans Magnus Enzensberger war ein Spaßmacher und ein Luftikus des Literaturbetriebs, wie sie im Land von Selbstergriffenheitsautoren der Sorte Martin Walser oder Günter Grass nur selten vorkommen. Er wurde in den Fünfzigerjahren als poetisches Glückskind gefeiert, aber natürlich ist Enzensberger dann keineswegs alles geglückt. Er hat als Politikdenker geirrt, als er Saddam Hussein während des ersten Golfkriegs im SPIEGEL einen Wiedergänger Adolf Hitlers nannte – und er hat sich später dafür öffentlich geniert. Er hat den großen Roman, den sich viele seiner Bewunderinnen und Bewunderer in seinen jungen Jahren von ihm erhofften, nie geschrieben. Das, was Enzensberger gelang, war trotzdem enorm. Er begann 1955 als Hörfunkredakteur beim Süddeutschen Rundfunk und wurde 1957 mit seinem Gedichtband »Verteidigung der Wölfe« schlagartig berühmt. Im selben Jahr veröffentlichte er – ausgerechnet im SPIEGEL – seinen klug kritischen Essay »Die Sprache des Spiegel« über »Moral und Masche eines Magazins«. Er gehörte der Gruppe 47 an und war als Schriftsteller und Intellektueller eine prägende Gestalt in der jungen Bundesrepublik – weil er alten und neuen Nazis den Kampf ansagte. Im Jahr 1963 erhielt Enzensberger als damals jüngster Preisträger den Georg-Büchner-Preis, die bis heute wichtigste deutsche Auszeichnung für Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Von 1965 bis 1975 gab er das »Kursbuch« heraus, die damals aufregendste deutsche Zeitschrift, in der Intellektuelle aus aller Welt schrieben. Enzensberger hatte Kontakt zur Apo, zur Kommune I und zur RAF, deren Gründung er für ein »Versehen« hielt. Von vielen Konservativen gehasst, von einigen Linken als angeblich Abtrünniger bejammert, sorgten seine Essays bis zuletzt stets für Aufregung. Hans Magnus Enzensberger starb am 24. November in München.
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Jiang Zemin, 96: Der Sohn eines Schriftstellers und Handwerkers, 1926 in der Nähe von Shanghai geboren, studierte Elektrotechnik und stieg nicht als Revolutionär oder Ideologe ins Amt des chinesischen Präsidenten auf, sondern als Ingenieur und Technokrat. Es war sein Pragmatismus, vielleicht auch Opportunismus, der Jiang Zemin 1985 zum Bürgermeister von Shanghai und nach der Niederschlagung des Tiananmen-Aufstandes 1989 zum Generalsekretär der damals tief gespaltenen Partei qualifizierte. Jiang prägte die frühen Jahre des chinesischen Wirtschaftswunders, weniger kraft seines eigenen Talents als seiner Bereitschaft, guten Ratgebern zu folgen. So baute Jiang Zemin das rückständige China zur »Werkbank der Welt« aus und wurde selbst zum Reformer. Doch seine Reformen waren aufs Ökonomische beschränkt, politische Gegner wurden kaltgestellt und Andersdenkende verfolgt, wenn auch nicht so brutal wie unter Mao Zedong und nicht so systematisch wie heute unter Xi Jinping. Zugleich öffnete Jiang die Partei für Chinas Unternehmer. Diese Politik, die 2001 in der Aufnahme Chinas in die WHO gipfelte, vertrat Jiang als nahbarer und vielseitig gebildeter Mann. Er sprach Englisch und Russisch, spielte Klavier und Ukulele und kam im Ausland gut an. In China gilt Jiang Zemin heute als Staatsmann, der sein Land nach Westen öffnete. Seine Spontaneität und seine oft kauzigen Auftritte haben ihn populär gemacht – und zum wohl einzigen chinesischen Spitzenpolitiker, über den man Witze machen durfte, ohne dafür ins Gefängnis zu müssen. Jiang Zemin starb am 30. November in Shanghai.
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Meinhard von Gerkan, 87: Der Zweite Weltkrieg mit all der Zerstörung hatte seine Kindheit geprägt – sein Berufsleben widmete er dem Entwurf und Bau neuer Gebäude. Er wurde 1935 in eine deutschbaltische Familie hineingeboren, sein Vater starb 1942 an der Ostfront, seine Mutter bald nach der Flucht aus Posen. Meinhard von Gerkan wuchs in Hamburg bei Pflegeeltern auf und fand in seinem 1965 gemeinsam mit Volkwin Marg gegründeten Hamburger Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner (gmp) eine Art Ersatzfamilie. Früh gewann gmp den Wettbewerb für den Bau des Tegeler Flughafens, der bis zu seiner Schließung 2020 wegen seiner kurzen Wege als besonders nutzerfreundlich galt. Große Verkehrsbauten blieben die Spezialität des Büros, es verantwortete auch den Berliner Hauptbahnhof. Seit der Jahrtausendwende baute gmp viel in China, dort entstand eine ganze Stadt, Lingang New City. Der Frage, ob es legitim sei, in autokratischen Ländern wie China zu bauen, stellte Gerkan sich 2008 engagiert : »Es ist ja unbestritten, dass das Land mit Abstand den größten Freiraum für avantgardistische Architektur bietet.« 2013 beklagte er im SPIEGEL die langwierigen Entscheidungsprozesse in Deutschland. Der Bau des neuen Berliner Flughafens BER, der ebenfalls von gmp entworfen worden war, leide unter den sich überschlagenden »Änderungswünschen des Bauherrn«. Mit 370 Bauten in aller Welt gilt er als einer der bedeutendsten Architekten seiner Zeit. Meinhard von Gerkan starb am 30. November in Hamburg.
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Christiane Hörbiger, 84: Unvergessen ist die Szene in der Mediensatire »Schtonk!«, in der sie 1992 als Nichte des NS-Kriegsverbrechers Hermann Göring auftritt. Einem Verlagsleiter, der damit protzt, dass sein Onkel gegen die Nazis im Widerstand war, raunt sie da schnippisch zu: »Ja, für unsere Verwandtschaft können wir ja wohl beide nichts.« Das war einer dieser Momente, in dem die Österreicherin die von ihr im Fernsehen und auf der Bühne kultivierte Heiterkeit gekonnt in schneidigen Sarkasmus verwandelte. Christiane Hörbiger war der Spross einer Schauspielerdynastie: Vater Attila Hörbiger war lange gefeiertes Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters, die Mutter Paula Wessely hatte im Theater in der Josefstadt unter Max Reinhardt Bekanntheit erlangt, der Theater- und Filmsuperstar Paul Hörbiger war ihr Onkel. Schon mit Anfang zwanzig spielte Christiane Hörbiger die Recha in Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« an der Burg, die Kritiken waren allerdings katastrophal, ab 1969 war sie mehrere Jahre lang die gefeierte Buhlschaft im Salzburger »Jedermann«. 1965 spielte sie neben dem Volksschauspieler Willy Millowitsch in der TV-Serie »Donaug’schichten«. Die Künstlerin aus Wiener Theateradel hatte nie Berührungsängste mit dem Volkstümlichen oder dem Boulevard. Ab 1987 verkörperte sie in »Das Erbe der Guldenburgs« das Oberhaupt einer adeligen Bierbrauerfamilie. Auch diese Hochglanzseifenoper prägte sie elegant und humorvoll. Christiane Hörbiger starb am 30. November in Wien.
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Christine McVie, 79: Aus dem Zerbrechen einer Ehe gemeinsam eine der erfolgreichsten Platten aller Zeiten zu machen ist schon ungewöhnlich genug. Dass die Fleetwood-Mac-Keyboarderin und Singer-Songwriterin Christine McVie danach mit ihrem Ex-Mann John in der Band blieb, kam noch hinzu. »Rumours« heißt das Album, das die McVies und ihre Band 1976 aufnahmen, es ging um komplizierte Beziehungen und Gefühlschaos – und McVies Song »Don’t Stop« über ihre scheiternde Ehe bildete das Zentrum. »You Make Loving Fun« handelte von einer Affäre McVies, ihrem Mann sagte sie, es gehe um ihren Hund. McVie war das Kind eines Musikprofessors und studierte Bildhauerei in Birmingham. 1970 schloss sie sich Fleetwood Mac an. Ihre Songs trugen den Sound bis weit in die Neunziger. Christine McVie starb am 30. November.
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Wolodymyr Wakulenko, 49 oder 50: Im März vergrub er sein Tagebuch unter einem Baum im Garten. Am nächsten Tag nahmen wohl russische Soldaten den ukrainischen Schriftsteller in seinem Heimatdorf Kapytoliwka in der Region Charkiw mit, sie hatten sein Haus schon einmal aufgesucht. Danach wurde er seinen Verwandten zufolge nicht mehr gesehen. Wolodymyr Wakulenko, der laut der ukrainischen Schriftstellervereinigung PEN am 1. Juli 1972 zur Welt kam und Vater eines autistischen Sohns im Teenageralter war, erlangte in der Ukraine vor allem Bekanntheit als Kinderbuchautor. Der Dichter schuf aber auch sein eigenes Genre, das man mit »Gegenliteratur« übersetzen könnte – ein Mix unter anderem absurder und postmoderner Einflüsse. Er beteiligte sich an den Euromaidan-Protesten vor rund neun Jahren, meldete sich als Freiwilliger bei der ukrainischen Armee. Ende November zeigte ein DNA-Test, dass es sich bei einer der über 400 Leichen, die Mitte September in einem Massengrab im Wald nahe der ostukrainischen Stadt Isjum gefunden wurden, um die des Dichters handelt. Ein leitender Ermittler schrieb auf Facebook, Zeugen hätten Einschusslöcher im Körper des Toten bemerkt. Wakulenkos Tagebuch unter den Baum im Garten hat eine Schriftstellerkollegin inzwischen ausgegraben, wie der ukrainische PEN-Präsident Andrej Kurkow vor einem Monat berichtete. Es hat länger als ein halbes Jahr in der vom Krieg erschütterten Erde überstanden. Ort, Zeit und genaue Umstände des Todes von Wolodymyr Wakulenko sind unklar.

Pelé, 82: Edson Arantes do Nascimento, wie der ehemalige Stürmer mit vollem Namen hieß, hatte den Fußball wie kaum ein anderer geprägt. Pelé war schon zu Lebzeiten eine Legende. Der Weltverband Fifa hatte ihn – ebenso wie den Argentinier Diego Maradona – zum »Spieler des 20. Jahrhunderts« gekürt. Mit 77 Treffern in 92 Länderspielen ist Pelé bis heute Rekordtorschütze der Seleção. Mit Brasilien gewann er 1958, 1962 und 1970 die Weltmeisterschaft. Schon seit dem 29. November hatte er sich wegen seines drastisch verschlechterten Gesundheitszustands im Albert-Einstein-Krankenhaus in São Paulo befunden, Familienangehörige hatten sich dort zuletzt an seiner Seite zusammengefunden. Die behandelnden Ärzte hatten erklärt, seine Krebserkrankung sei fortgeschritten. Zudem musste Pelé wegen Funktionsstörungen des Herzens und der Niere behandelt werden. Im September 2021 war ihm ein Tumor aus dem Dickdarm entfernt worden. Pelé starb 29. Dezember in São Paulo.

Vivienne Westwood, 81: Die Britin gilt als Wegbereiterin des Punks in der Modebranche. Geboren am 8. April 1941 als Vivienne Isabel Swire in der Gemeinde Tintwistle nahe Manchester, soll sie schon an ihrer Schuluniform modische Änderungen vorgenommen haben. Schriftstellerin wollte sie werden, entschloss sich dann aber für eine Ausbildung zur Grundschullehrerin. Zeitlebens machte sie sich für Tiere und Umwelt stark – bis ins hohe Alter fehlte sie auf kaum einer größeren Demonstration. Zur Unterstützung für Julian Assange schmierte sie sich Torte ins Gesicht. Im knallgelben Outfit saß sie vor einem Gerichtsgebäude in London in einem überdimensionalen Vogelkäfig. Gemeinsam mit Malcolm McLaren, dem Manager der Punkband Sex Pistols, führte sie eine Boutique in der Londoner King’s Road. Anschließend baute sie eine globale Modemarke auf, die heute Geschäfte in Großbritannien, Frankreich, Italien, Amerika und Asien hat. 1992 wurde Westwood in den Order of the British Empire aufgenommen, 14 Jahre später machte die Queen sie zur Dame. Vivienne Westwood starb am 29. Dezember in London.