DERY Quittung für Kahlkopf
Bis zum ungarischen Aufstand wurde
Tibor Déry nur hinter dem Eisernen Vorhang als größter Romancier der ungarischen Gegenwartsliteratur gepriesen.
Nach dem Aufstand rühmten ihn allein die Literaturfunktionäre des Westens. Sie hatten den damals bereits 62jährigen Schriftsteller entdeckt, als er im Herbst 1956 seine revolutionären Landsleute mit Reden und Aufrufen zu dirigieren und zu besänftigen versuchte.
Während Déry in einem Budapester Gefängnis saß, um - nach Gerichtsurteil neun Jahre lang - für seine staatsfeindlichen Verbrechen zu büßen, erschienen in England, Frankreich, Italien und Amerika seine Bücher. In Westdeutschland brachte Pasternak -Verleger Gottfried Bermann Fischer die lang mißachteten Werke des Ungarn auf den Markt. Er publizierte
- 1958 die antistalinistische Erzählung
»Niki oder Die Geschichte eines Hundes«;
- 1959 Dérys Kriegs- und Trümmernovelle
»Die portugiesische Königstochter«;
- im letzten Herbst das 952-Seiten -Epos »Der unvollendete Satz"*.
In den Staaten des Ostblocks hingegen begann 1956 für den aufsässigen Kommunisten Déry eine sechsjährige Publikationspause. Zwar verfaßte Déry im Gefängnis einen neuen Roman, doch als er im April 1960 begnadigt wurde, war eine Veröffentlichung nicht möglich: Die nachrevolutionären Kulturmanager Ungarns verlangte es nach literarischen Schuldbekenntnissen, die Déry nicht ablegen wollte. Er schwieg und begnügte sich mit harmloser Dolmetsch-Arbeit.
»Zum Broterwerb« übersetzte er, nach eigener Aussage, »schlechte Bücher: Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Balzac, den ich nicht leiden mag«.
Im Mai 1962, als ein erster Ausläufer der neuesten Tauwetterwelle Budapest erreichte, klagte der Vorsitzende des ungarischen Schriftstellerverbandes, Jozsef Darvas, in einer für den Westen bestimmten Rundfunksendung: »Er (Déry) ist der einzige Schriftsteller, der in der letzten Zeit nichts veröffentlicht hat. Aber ich weiß, daß er augenblicklich an einem Buch und an Kurzgeschichten arbeitet, und ich glaube, daß von ihm bald wieder Bücher und Zeitschriftenbeiträge publiziert werden.«
Die Voraussage des Jozsef Darvas ging im Herbst vergangenen Jahres in Erfüllung. Wenige Wochen nachdem Ungarns Stalin-Imitator und KP-Chef von 1944 bis 1956, Mátyás Rákosi, durch Parteiausschluß seine Karriere abschließen mußte und damit auch das letzte Überbleibsel, der stalinistischen Ära verschwand, erschien in der Budapester Zeitschrift »Uj Irás« (Neue Dichtung) eine Erzählung von Tibor Déry mit dem Titel »Rechenschaft« über die ungarische Revolution.
Der epische Rechenschaftsbericht - seine deutsche Fassung wird im Frühjahrsheft der »Neuen Rundschau« (S. Fischer Verlag) vorgelegt - macht die Eigenwilligkeit des kommunistischen Autors gegenüber seiner Partei deutlich. Sein Fazit: »Ein jeder ist mitverantwortlich für das, was geschehen ist, was dem Geschehenen voranging und was ihm noch folgen wird. Nicht allein der kleine Kahlkopf (Rákosi) ist verantwortlich.«
Mitverantwortlich fühlt sich folgerichtig auch der Held der Erzählung, ein alternder Medizin-Professor, der im Dezember 1956, nach niedergeschlagenem Aufstand, ein Maschinengewehr in seiner Wohnung versteckt, um einen revoltierenden Studenten zu retten.
Der unerlaubte Waffenbesitz zwingt den Professor zur Flucht. Er reist in westliche Richtung, bleibt jedoch von den Gesprächen im Eisenbahnabteil nicht unbeeindruckt. Dort zürnt ein unter Rákosi hafterprobter Kommunist über landesflüchtige Rebellen: »Hol der Teufel all die vielen Lumpen, die ausgerechnet jetzt nichts anderes zu tun haben, als ins Ausland zu spazieren... Helfen sollten sie, den Schaden auszubessern, den sie selber angerichtet haben!«
Der flüchtige Akademiker empfindet schließlich ähnlich. Nach einem mehrstündigen Fußmarsch zur österreichischen Grenze entschließt er sich zur Umkehr. Doch die Strapazen haben ihn so erschöpft, daß er im Schnee erfriert.
Offensichtlich hat Déry mit der Hauptfigur seiner Novelle eine Art Selbstporträt geliefert und in deren Handlungsweise seine eigene Haltung
während der Volkserhebung zu illustrieren versucht.
In einem Gespräch an der Grenze beispielsweise begründet der Professor seine Flucht: »Sie wollen wohl sagen, ich hätte das Maschinengewehr gar nicht benützt? Es ist aber, als hätte ich es benützt. Wenn ich es nicht getan habe, so nur, weil es nicht zu meinem Alter paßt oder weil ich nicht damit umgehen kann oder weil es gegen meinen Geschmack ist. Aber ich habe es virtuell benützt... mit allen meinen verschwiegenen Gedanken, den unausgesprochenen Worten, mit allen Fasern meines Wesens habe ich es benützt. Und im Namen dieser stillschweigenden Übereinstimmung wurde es auch an meiner Statt benützt. Hat man es falsch benützt, bin ich dafür verantwortlich.«
Ähnliches hatte Déry schon einmal niedergeschrieben. Am 2. November 1956, zwei Tage vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Budapest, veröffentlichte er einen Aufruf an die Revolutionäre, in dem er sich selbst beschuldigte: »Du hast das gesprochen, das Volk zu Taten angereizt... Nach jedem Schuß wurde ich halb verrückt und hatte das Gefühl: Es war dein Finger, der soeben am Abzug lag.«
Eben diese Sätze waren es, die dem Schriftsteller Déry im November 1957 vor Gericht als ein Beweis für seine konspirative Tätigkeit vorgelegt wurden. Es war nicht die erste Anschuldigung dieser Art, die dem Rechtsanwaltssohn unter den verschiedenen Staats- und Gesellschaftsformen Ungarns gemacht wurde.
Bereits 1917 brachten dem damals 23 jährigen erste lyrische Versuche eine Geldstrafe ein, weil sie von den Zensurbehörden der österreichisch-ungarischen Monarchie als »sittenwidrig« empfunden wurden. Ein Jahr später - Déry war mittlerweile Kommunist geworden - organisierte er als Angestellter in der Holzfabrik seines Onkels, den er nach dessen Tod beerben sollte, einen Lohnstreik. Zur Strafe wurde er an die Front des letzten Kriegsjahres abgeschoben.
Nach Niederschlagung der ungarischen Kommune Bela Kuns (1919) durchwanderte der ungarische Revolutionär achtzehn Jahre im Exil. In Berlin, wo er 1931 nach Aufenthalten in Wien, Paris und Rom eintraf, verfaßte er seinen ersten Roman, »Von Angesicht zu Angesicht«, eine Schilderung vom Parteikrieg zwischen deutschen Kommunisten und Nationalsozialisten.
In Wien, wo er nach Hitlers Machtübernahme Zuflucht suchte, begann er den Roman »Der unvollendete Satz«. Doch auch Wien bot dem militanten Dichter kein allzu sicheres Asyl, nachdem er 1934 beim Sozialisten-Aufstand gegen die Dollfuß-Regierung schießen gelernt hatte. Déry retirierte in das damals noch friedliche Spanien und kehrte 1937 nach Ungarn zurück.
Im Budapest des Reichsverwesers Nikolaus Horthy erwartete ihn neues Ungemach: Déry wurde wegen »kommunistischer Propaganda« zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt und gleichzeitig auch von der Kommunistischen Partei gerügt. Beiden Institutionen hatte seine Übersetzung der Reiseberichte mißfallen, in denen der französische Großbourgeois und Fellow-Traveller André Gide teils wohlwollende, teils kritische Notizen über seine Rußlandfahrt veröffentlichte und den Kommunisten seine Gefolgschaft aufkündigte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den Déry trotz jüdischer Herkunft und trotz kommunistischer Untergrund,arbeit mit Hilfe eines mittelamerikanischen Passes unbehelligt überstand, schien der aufsässige Romancier endlich arriviert.
1945 wurde sein früher Roman »Von Angesicht zu Angesicht« zum erstenmal als Buch veröffentlicht, zwei Jahre später erschien »Der unvollendete Satz«, den Dérys Landsmann und Freund Georg Lukács als »einen der größten Romane unseres Jahrhunderts« rühmte. Die ungarische Regierung honorierte das Buch mit der höchsten Staatstrophäe des Landes, dem Kossuth-Preis.
Das Lob des bedeutenden marxistischen Literaturwissenschaftlers Lukács war nicht unbegründet. Dérys Mammutroman verwirklicht den ehrgeizigen Plan, die psychologische Entwicklungsgeschichte eines sensiblen Bürgersohnes
zum engagierten Kommunistenfreund in das minutiös beschriebene Gewimmel einer Großstadt - in das Budapest der klaseenkämpferischen dreißiger Jahre - einzubetten und so den herkömmlichen individualistischen Bildungsroman mit dem soziologischen Querschnittbericht einer weniger antiquierten Epik effektvoll zu verbinden.
»'Der unvollendete Satz'«, rühmte erst kürzlich die »Frankfurter Allgemeine«, sei »einer jener wenigen Romane, die uns - wie Prousts 'Suche nach der verlorenen Zeit' - bedauern lassen, daß sie eine letzte Seite haben«.
Doch Dérys Ruhm und Popularität in der Volksrepublik Ungarn waren bald gefährdet. Bereits im Frühjahr 1948, bei den Vorarbeiten zur Romantrilogie »Die Antwort«, in der Déry die Biographie eines jungen Arbeiters bis zu seiner Ernennung zum Direktor einer nationalisierten Fabrik beschreiben wollte, kamen dem Altkommunisten erste Bedenken.
Einem Freund vertraute er damals an: »Ich fürchte mich nur ein wenig vor dem Jahr 1945. Das Auftauchen der ersten sowjetischen Soldaten in Ungarn... Die Frauen, die Vergewaltigungen... Glücklicherweise kommt das Jahr 1945 erst im dritten oder vierten Band vor. Am Anfang stellen sich sehr viel weniger Probleme. »
Der Partei schien jedoch schon der zweite Band der »Antwort« problematisch genug. Sie warf Déry »bürgerliches Moralisieren« vor und beanstandete, daß der Held des Romans viel zu lange gezögert habe, bevor er der ungarischen KP beigetreten sei. Der dritte Band der »Antwort« blieb ungeschrieben; der Romancier resignierte.
Drei Monate vor dem ungarischen Aufstand wurde Déry schließlich sogar aus der Partei ausgeschlosen: Während einer Sitzung des Petöfi-Klubs, einer Vereinigung von liberalistischen Intellektuellen, hatte er vor über 6000 Zuhörern
die Folgen des Stalinschen Personenkults allzu freimütig kritisiert.
Anfang Oktober 1956 erhielt Déry einen Paß für eine Besuchsreise in die Schweiz. Die Behörden erhofften sich, daß er im Ausland bleiben und damit die vorrevolutionäre Reformbewegung in Ungarn diskreditieren würde. Aber der halsstarrige Autor ("Dieses Vergnügen will ich ihnen nicht bereiten") kehrte zurück, ließ die Revolution über sich ergehen und ging ins Gefängnis. Eine Revision seiner Gedanken schien ihm nicht erforderlich.
Heute, nach drei Jahren Haft und weiteren zwei Jahren literarischer Enthaltsamkeit, scheint dem 68jährigen Schriftsteller eine Auslandsreise noch unverfänglicher: Déry will im März auf Einladung der »Österreichischen Gesellschaft für Literatur« nach Wien fahren und dort aus seinen Büchern lesen.
Déry in seiner jüngsten »Rechenschaft": »Sind Sie etwa der Meinung, man wird nicht auch hier irgendwann einmal anständig leben können?«
* Tibor Déry: »Niki oder Die Geschichte eines Hundes«. 146 Seiten; 9,80 Mark. »Die portugiesische Königstochter«. 348 Seiten; 16,50 Mark, »Der unvollendete Satz«. 952 Seiten; 29 Mark. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
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