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GESELLSCHAFT Rascheln im Walde

Nach dem Sex suchen amerikanische Psychologen nun den verrückten Zustand, genannt Liebe, zu erforschen.
aus DER SPIEGEL 10/1980

Seit die Professorin Dorothy Tennov mit ihrem Buch »Love and Limerence«, einer Studie über die Auswirkungen starken Verliebtseins, in Amerika ganz groß herauskam, geistert das Wort »Limerence« durch die New Yorker Cocktail-Bars.

Dabei hat es die Professorin lautmalerisch selbst erfunden. Sie suchte nach einem »respektablen Wort« für ihr Forschungsobjekt: romantische Liebe, »jenes Gefühl, das sich in einer zwanghaften Orientierung auf eine einzige Person ausdrückt«.

Zu Beginn ihrer Studien hatte die 51jährige Psychologin noch vorwiegend Gelächter geerntet. Aber inzwischen stürzen sich Psychiater, Mediziner und Soziologen in Amerika schon fast so ausgiebig in jede Art »Liebesforschung« wie vor Jahren auf das Thema Sex.

»Wenn Limerenz mit voller Wucht zuschlägt«, hat Dorothy Tennov nach systematischem Befragen von über 1000 glücklich oder unglücklich Verliebten erfahren, »verdunkeln sich alle anderen Bereiche.« Zu ihrer großen Überraschung stellte sie aber auch fest, daß die Welt der Verliebten offenkundig in Limerenzler und Nicht-Limerenzler zerfällt: in jene, die sich mit starker Gefühlsaufwallung verlieben -- »in ultimativer, nahezu besessener Form« --, und andere, die sich seelenruhig damit begnügen, ihren Partner von Herzen gern zu haben.

Den leidenschaftlich Verliebten quält anfangs hauptsächlich eins: die Angst, ob sein Gefühl erwidert oder ob er abgewiesen wird. Unermüdlich deutet er deshalb Worte, Gesten und Handlungen der geliebten Person, die im Fach-Jargon der Professorin »Limerenz-Objekt« genannt wird, abgekürzt: »LO«.

Dabei vermeidet der Befallene sorgsam, direkt zu fragen. »Fragen wäre vorzeitige Preisgabe«, notiert die Autorin und erläutert »das delikate Zwischenspiel, wobei die Reaktion des einen allein vom Verhalten des anderen abhängt«. Und so lauscht der Verliebte denn, laut Tennov, »wie der Jäger auf jedes Rascheln im Wald«. S.245

Das Rascheln deutet er stets günstig, und er findet »logische Erklärungen« für weniger günstige Anzeichen, zum Beispiel schiere Gleichgültigkeit, die außenstehende Beobachter vermerken. Er entwickelt auch große Fähigkeiten, die bewunderungswürdigen Seiten seines LO zu betonen und die negativen in positive zu verkehren. Wenn eine Beziehung lange zu Ende ist, glaubt er noch, daß die einst geliebte Person ihre schlechten Eigenschaften erst nach der gemeinsamen Zeit erworben hat.

Da ihn die Furcht quält, er könnte zurückgewiesen werden, überkommt den Limerenzler in Gegenwart der geliebten Person häufig nervöse Schüchternheit. Außerdem befallen ihn: Herzklopfen, Erröten, Erbleichen, Stottern und linkisches Gebaren. »Denn der Limerenzler hat entsetzliche Angst«, bemerkt die Professorin, »daß er durch seine eigene Ungeschicklichkeit sein Unglück verursachen könnte.«

Bei starken Zweifeln quält ihn ein Ziehen in der Herzgegend. Wenn Hoffnung zu Gewißheit wird, erfüllt ihn ein ungeheurer Energieschub, seine Pupillen weiten sich, die Augen werden feucht. Nach Liebeserfüllung sinkt der Limerenzspiegel langsam um 70 Prozent, will Frau Tennov errechnet haben, und steigt erst wieder nach frischer Zufuhr an Zweifeln und Ungewißheit. »Limerenz entwickelt sich voll«, betont die Liebeskundlerin, »wenn eine Balance zwischen Hoffnung und Ungewißheit besteht.« Auch Hindernisse heizen tüchtig an, darunter, S.246 laut Tennov, »das meistverbreitete Hemmnis: der betrogene Ehepartner«.

Selten projiziert der Limerenzler seine Sex-Phantasien auf die angebetete Person. Im Gegenteil, mitunter stehen die leidenschaftlichen Gefühle dem Sex anfangs sogar im Wege. »Manche Männer halten beim ersten Mal die Erektion nicht«, weiß die Psychologin, und viele Frauen wollen erst mal nur, »daß er bei mir liegt, und ich fühle, er liebt mich«.

Auch der französische Schriftsteller Stendhal, ebenso wie Heinrich VIII., Shakespeares Othello, Goethe, Liv Ullmann, Tolstois Anna Karenina, Ovid und der Filmboxer »Rocky« (Sylvester Stallone), von der Autorin als »geradezu glühende Limerenzler« identifiziert, beschreiben die Fiaskos, die viele schon erlitten, wenn sie zum ersten Mal ins Bett des Partners schlüpften. Ein Husarenleutnant brachte es in den ersten drei Nächten immer nur zu Küssen und Freudentränen.

Eine gute Limerenz dauert angeblich anderthalb bis drei Jahre. »Wenn Limerenzen zu kurz sind«, urteilt die Liebeskundlerin, die offensichtlich von Quickies und Betthüpfern nichts hält, »kann eine maximale Intensität nicht erreicht werden.« Meistens bleiben die Gefühle eines Partners länger virulent. »Limerenz kann von bescheidenen Krümeln leben«, tröstet Dorothy Tennov. »Wie Labor-Tauben, die immer noch am Napf picken, obwohl ihnen das Futter schon weitgehend entzogen wird.«

Natürlich ist Limerenz bei jungen Leuten fast ständig abrufbereit. Bei Älteren nimmt sie mit der Hoffnung ab, daß die Gefühle erwidert werden. Vor »inaktiven Perioden« warnt die Autorin. Damit werde zwar oft eine unglückliche Liebe, aber auch der Zustand überwunden, »in der Limerenz noch erwünscht ist«.

Besonders auskunftswillig waren bei den Interviews die »heimlichen Limerenzler«, die sich sonst stumm in Liebe verzehren. Diese Kategorie gedeiht: bei Angestellten im gleichen Büro, Professoren und Studenten, Psychiatern und Patienten sowie Homosexuellen, denen es Heterosexuelle angetan haben. Dorothy Tennov behauptet: »Bi-Limerenz gibt es nicht.«

Nahezu »umwerfend« war für die Professorin, daß es Scharen von Leuten gibt, denen jede Form von Limerenz fremd ist und bleibt: Sie halten »das ganze Getue um romantische Liebe für absolute Übertreibung«.

Die Nicht-Limerenzler wollen, so fand die Forscherin heraus, Zuneigung, Freundschaft und Sex. Zweifel und Angst schnüren ihnen nicht die Kehle zu, und sie bewahren ihre Unverletzbarkeit. Die leidenschaftlichen Gefühle ihrer Partner bleiben ihnen fremd, jeder Ausschließlichkeitsanspruch ist ihnen lästig. S.247

»Wenn mich jemand mit solchen Blicken ansieht«, gestand bei der Befragung eine Daisy, »dann hau ich ab.« Und ein Joe erläutertc: »Die meisten Frauen wollen, was ich nicht geben kann. Ich weiß nicht was, aber ich kenne die Anzeichen. Wenn das anfängt, dann kratze ich die Kurve.«

Daß Nicht-Limerenzler gleichwohl Liebesromane verschlingen, wundert die Professorin nicht. »Warum soll jemand, der nie auf einem Ozeandampfer fuhr, nicht gerne von Seeabenteuern lesen?«

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