AUTOMOBILE Raub im Krämerladen
William Mitchell, 64, Chefstylist bei General Motors, ist nicht zimperlich, wenn es um die Autos der anderen geht.
»Als hätte ihn einer gemacht, der in der Schule immer Papierschwalben gebastelt hat«, so findet er den VW Golf. Den mit seinem klassischen Design seit zwölf Jahren erfolgreichen Porsche 911 tat Mitchell ab mit der Vokabel »häßlich« ("ugly"). Am meisten aber erregte sich der Mann, der all die bauchigen Flundern und den Heckflossenzierat der General-Motors-Flotte entworfen hat, über die Produkte von Mercedes-Benz. Mitchell über das jüngste Mercedes-Design: »Total antiquiert.«
Der Kritiker aus dem größten Automobilkonzern der Welt wird freilich widerlegt durch den US-Verkaufserfolg der Stuttgarter. Im letzten Jahr konnte sich Mercedes-Benz in den USA auf einen Jahresabsatz von 40 000 Autos steigern. Und mittlerweile ist auch bei amerikanischen Autokonstrukteuren »der Mercedes-Stil« zu einer Art Erfolgsformel für kompakte Luxusautos geworden. Hauptmerkmal: europäisches. an Mercedes erinnerndes Styling mit Wabenkühler.
Freimütig räumte beispielsweise Ford-Präsident Lee lacocca ein, der neueste, im April 1977 auf dem Markt zu erwartende Ford sei speziell als »Auto vom Typ Mercedes« entwickelt worden -- handlich, komfortabel und kompakt.
Der Siegeszug des Mercedes-Benz in Amerika hatte vor drei Jahren begonnen. Binnen Jahresfrist konnte damals die Stuttgarter Firma ihren Jahresabsatz in den USA verdreifachen. Und das US-Sonntagsblatt »The National Observer« schrieb schon 1972: »Unmerklich ist der Mercedes-Benz zu jenem Auto geworden, das unter Bewohnern feinerer Gegenden »in« ist, Quintessenz des Modischen zu einer Zeit, da das Automobil im allgemeinen als Symbol des persönlichen Erfolges längst ausgedient hat.«
Geradezu als Kontrastprogramm dagegen las sich, was GM-Stylist Mitchell unterdes, meist in Zeitungsinterviews. über die Stuttgarter Linie urteilte: Die Mercedes-Typen würden insgesamt »zu massiv« aussehen. Ins Detail gehend. verwarf Mitchell besonders das Pagodendach. mit dem die Stuttgarter bei ihren flachen SL-Sportwagen fast acht Zentimeter der Einstiegshöhe gewannen: »Mit diesem japanischen Pagodendach« sehe beispielsweise der MB 350 SL »geradezu lächerlich aus
Auch über die Ursachen des angeblichen Stil-Übels äußerte sich der Gestrenge: Die Mercedes-Stylisten, wie auch jene von VW und einigen anderen Firmen. »leiden an Verkalkung«. Mitchell bezweifelte gar, ob die Stuttgarter Styling-Abteilung überhaupt in irgendeiner Weise tätig sei: »Es würde mich wirklich interessieren, was dort den ganzen Tag über getan wird.«
Mitchell hatte damit ein Tabu der Branche verletzt, denn zumindest für Europa galt, daß sich Konkurrenten nicht öffentlich befehden. Der damalige Mercedes-Stylingchef Karl Wilfert: »Unkollegial« so was tut man nicht.«
Einmal noch, zum Genfer Automobilsalon, konnte der damalige Mercedes-Pressechef Artur Keser dem Kritiker aus Detroit eine versöhnliche Geste abringen: Mitchell kniete, vor Pressephotographen, in Büßerhaltung vor dem Mercedes-Stern.
Keinesfalls aber will Mitchell auch nur ein Quentchen von dem wahrhaben, was mittlerweile für Betrachter offenkundig ist: Auch sein Konzern, General Motors, ist mit seiner neuesten Luxuskarosse, dem Cadillac Seville. vom Straßenkreuzerformat auf den Mercedes-Zuschnitt umgeschwenkt.
Als amerikanische Journalisten dem GM-Stylisten dieses vorhielten, verfiel Mitchell sogleich wieder ins Poltern: Nicht bei Mercedes, sondern bei Rolls-Royce habe man sich inspirieren lassen, denn: »Wer rauben will, raubt eine Bank aus, nicht einen Krämerladen.«
Der Stuttgarter Krämerladen darf auf weiteren Markterfolg in den USA hoffen. Ford-Chef Iacocca sieht in dieser Klasse einen amerikanischen Markt von 100 000 Autos pro Jahr, von denen sich Cadillac und Mercedes-Benz je 40 000 gesichert hätten.
Um die Chance des von der Ford-Division Lincoln gebauten Neulings zu stärken, bekam er außer einem an Mercedes erinnernden Wabenkühler einen europäischen Namen: Versailles. Und jedes fertige Auto soll vor seiner Auslieferung so getestet werden, wie sich das Amerikaner offenbar bei Mercedes-Benz vorstellen -- auf einer besonderen Rüttelbühne sollen die Autos gründlich durchgeschüttelt und auf Quietsch- und Knarztöne abgehorcht werden.