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ARCHITEKTUR / BRUTALISMUS Rauh und rissig

aus DER SPIEGEL 47/1967

Zornige Architekten machen Front gegen die gläsernen Fronten. In der Ära stahldurchwobener Rasterfassaden rufen sie eine neue Stein-Zeit aus.

Ihre Bauten erinnern an mittelalterliche Burgen, an Kerker und Kasernen. Aber die Urheber der Bauwerke aus Backstein und Beton verstehen sich als Sachwalter einer neuen Freiheit, als Wegbereiter einer zukunftssicheren Moderne. Programmatischer Titel der neuen Baubewegung: »Brutalismus«.

Das Wort ist mittlerweile in fast einem Dutzend Landessprachen heimisch. Auf englischen Rasenhügeln und in den Studentenvierteln amerikanischer Universitäten, aber auch in dem Kölner Villenvorort Müngersdorf, in Japan und in der Schweiz wurden Bauwerke in brutalistischer Manier errichtet -- Wohnbauten und Schulen, Kirchen und Fabriken. Und vielfach wurde von kritischen Betrachtern als »ungeschlacht« oder gar »unbeholfen« abgetan, was nach Meinung der Eingeweihten »das Gesicht der Architektur unserer Tage bestimmt« (so der Architektur-Kritiker Hans Eckstein):

>Einer von Wind und Wetter genarbten Felswand -gleicht die Fassade des Instituts für Kunst und Architektur an der Yale-Universität in New Haven (US-Staat Connecticut) -- geformt aus rauhem und rissigem Beton.

> An heidnische Kultstätten oder auch an ein Speicherhaus erinnern die Betonbalken und klobigen Quadern der Kirche »Madonna dei Poveri« in Mailand.

> Eher einem Fabrikationsbetrieb als einer Behausung ähnelt der Wohnblock Harumi in der japanischen Hauptstadt Tokio -- ein schartiger Kloben mit einem Wassertank und sperrigen Rohrleitungen auf dem Dach.

An Scheunen, die wahllos mit einigen Fenstern versehen sind, erinnern brutalistische Einfamilienhäuser, wie das der britischen Architekten Smithson im südenglischen Watford. Einem Bunker, in dessen Wänden lediglich Sehschlitze ausgespart sind, ähnelt das Wohn-»Haus Alder« im schweizerischen Rothrist, und einen bombensicheren Unterschlupf scheint auch die Kölner Villa »Ungers« zu gewähren, die Deutschlands entschiedenster Brutalist entwarf und bewohnt: Oswald Mathias Ungers, 41, Professor und Prodekan an der West-Berliner Technischen Universität.

Kritik an solchen Bunkerbauten äußern indes nicht nur unkundige Passanten, die selbst in dem Fassaden-Einerlei der nachkriegsdeutschen Geschäftsstraßen mitunter (etwa auf dem Kölner Hansaring) unvermittelt auf stilrein brutalistische Klinkerbauten treffen können. Umstritten ist der neue Baustil auch in der Fachwelt.

»Albern«, so verhöhnte der englische Architektur-Kritiker Nikolaus Pevsner den neuen Backstein- und Betonfanatismus. »Paradox und romantisch« fand ihn der dänische Baumeister Arne Jacobsen, und die »Neue Zürcher Zeitung« tat die ganze Richtung rundweg als »dummes Wort« ab.

Den »Beginn einer neuen Epoche« dagegen sah die Fachzeitschrift »Baumeister« mit dem Brutalismus aufdämmern, »Umsturz und Revolution« witterte der Münchner Architekt Werner Nehls. Und in zwei Büchern, die unlängst in der Bundesrepublik erschienen, ist gar von einer »Erneuerung der moralischen Imperative« (Jürgen Joedicke) und vom »moralischen Kreuzzug für ein besseres Habitat« (Reyner Banham) die Rede*.

* Jürgen Joedicke: »Für eine lebendige Baukunst«. Karl Krämer Verlag, Stuttgart; 160 Seiten; 19,80 Mark. -- Reyner Banham: »Brutalismus in der Architektur«. Karl Krämer Verlag, Stuttgart; 200 Seiten; 68 Mark.

Unausgegoren aber ist diese Diskussion auch noch im Kreise der Architekten selber. In Seminaren, die Anfang nächsten Monats in West-Berlin beginnen und von den englischen Architekten Alison und Peter Smithson sowie dem Berliner Bauprofessor Ungers geleitet werden, sollen deutsche Architekturstudenten den Brutalismus als Stilrichtung überdenken.

Protest gegen das Establishment der Stadtarchitektur und das Unbehagen an der geometrisch glatten Glasschachtel-Bauweise, die in Tokio und London, Berlin und Düsseldorf gleichermaßen ganze Geschäftsviertel bis zur Austauschbarkeit uniformiert hat, waren Ausgangspunkt der brutalistischen Bewegung. Als »Wohnblocks wie Schulen, Schulen wie Verwaltungsgebäude und Verwaltungsgebäude wie Fabriken aussahen«, so formulierte Professor Ungers, habe sich die Avantgarde auf die neuen Ausdrucksmittel besonnen -- auf Rauhbeton und Ziegel zweiter Wahl.

Ungers und seine Mitstreiter konnten sich auf zwei bedeutende Baukünstler des 20. Jahrhunderts berufen, die das Architekturfach zwar nie auf dem vorgeschriebenen Weg erlernt, es aber mit nachhaltigem Erfolg gelehrt haben -- auf den Stukkateur Mies van der Rohe und den Maler Le Corbusier. Denn Mies van der Rohe ebenso wie Le Corbusier hatten die Aussagekraft des rohen Materials entdeckt.

Mies vermauerte schon in den zwanziger Jahren unverputzte Steine (so 1926 in Berlin bei einem Denkmal für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg) und verwendete später Metall (wie bei seinem Seagram Building 1958 in New York) -- die Struktur der Steine wie die Schweißnähte im Metall dienten ihm als Ausdrucksmittel.

Le Corbusier hingegen entdeckte die ästhetisch reizvolle Wirkung von Beton, vor allem bei seinem Wohnriesen »Unité d'Habitation« in Marseille. Er prägte den Begriff »béton brut« ("roher Beton") für jene grobgegossenen Wände, bei denen sich Maserung und Astlöcher der Holzverschalung abgezeichnet hatten -- sie wurden nicht weggeschliffen und nicht verputzt.

Aber Le Corbusier, noch immer als Pionier des Brutalismus-Stils erachtet, wurde von seinen Anhängern entthront -- wenn auch vornehmlich wegen seiner Ansichten über den Städtebau.

Le Corbusiers These, man müsse in Großstädten gesonderte Bereiche für Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr schaffen, wurde 1956, auf der zehnten Tagung des »Internationalen Kongresses für moderne Architektur«, zum Hauptstreitpunkt zwischen Meister und Schülern.

Die Abtrünnigen gründeten ihren eigenen Kongreß ("Team X"). Und die britischen Architekten entwarfen ein Drei-Punkte-Programm für Brutalisten:

> Konstruktionen müssen »ablesbar« sein -- Träger und Balken bleiben sichtbar, auch Leitungen und Installationen werden stets äußerlich, nie unter Putz, verlegt.

> Baustoffe müssen roh und unbearbeitet verwendet werden -- sie dürfen nachträglich weder verkleidet noch verschönt, weder vergipst noch übertüncht werden.

> Bauwerke dürfen nur ihrer Bestimmung entsprechend geplant werden, niemals als Denkmal für ihren Erbauer.

Indes, knapp ein Jahrzehnt nach dieser Magna Charta des Brutalismus droht das Bekenntnis zur Ehrlichkeit schon wieder in brutalistische Effekthascherei umzuschlagen.

Mit dem Schmähwort »Exhibitionistische Exzesse« umschrieb Brutalismus-Kritiker Jürgen Joedicke diesen Trend. Ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten verdeutlicht ihn: Paul Rudolph, Erbauer des Instituts für Kunst und Architektur in New Haven, ließ den allzu glatt geratenen Beton, der brutalistischen Wirkung wegen, nachträglich von Steinmetzen aufrauhen.

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