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AUTOREN Rebellin mit Leib und Seele

Ein Erzählfragment aus dem Nachlass von Brigitte Reimann belegt die frühe kompromisslose Haltung der DDR-Autorin - ein eindrucksvolles Prosastück.
aus DER SPIEGEL 48/2003

Die Junglehrerin, gerade 19 Jahre alt, wollte zu gern an die junge DDR glauben, an die Versprechen und Hoffnungen, die mit dem sozialistischen deutschen Weg Anfang der fünfziger Jahre verbunden waren. Und sie wollte - viel lieber, als an die Schule zurückzukehren - eine berühmte Autorin werden, ganz wie ihr Vorbild Anna Seghers, der sie im Oktober 1952 erwartungsvoll den Anfang einer längeren Erzählung zukommen ließ.

Brigitte Reimann (1933 bis 1973) machte sich die ersten Schritte ihrer literarischen Laufbahn nicht leicht. Ein Prosastück, das im alten Rom spielen sollte (Titel: »Sklavin Claudia"), brach sie ab, um sich an eine Geschichte über die schöne neue DDR-Welt zu wagen, angesiedelt im vertrauten Milieu einer Schulklasse. Heldin: eine überzeugte Anhängerin des sozialistischen Wegs, die attraktive Schülerin Eva, die aus politischem Eifer auch vor der Anschwärzung eines beliebten Lehrers nicht zurückschreckt.

Riskant ist schon das Konzept, ausgerechnet diese Eva als Vorbildfigur zeichnen zu wollen, die am Ende sogar ihre Mitschüler überzeugt. Provokativ auch der geplante Titel: »Die Denunziantin«. Die für Anna Seghers gedachte Probe blieb im Archiv des Aufbau-Verlags erhalten, ob sich die Kollegin dazu geäußert hat, ist nicht bekannt.

Zu einer Veröffentlichung kam es nicht, weder bei Aufbau noch im Mitteldeutschen Verlag, wo man dem jungen Talent erst Avancen machte, dann offenbar die Erzählung für zu linksradikal und heikel hielt, auch im Verlag Neues Leben, wo die Autorin im April 1955 das fertige Manuskript abliefern sollte. Sie selbst zog es wieder zurück.

Warum? Aus ihren Tagebüchern (SPIEGEL 17/1998) ist dazu nichts zu erfahren: Sie beginnen erst im August desselben Jahres - die früheren wurden von Brigitte Reimann vernichtet. Dass sie sich mit dem Stoff gequält hat, dass zwischen 1952 und 1955 verschiedene Fassungen entstanden, weiß man (Material liegt im Brigitte-Reimann-Archiv in Neubrandenburg).

Kürzlich aber sind bei der Schwester der jung an Krebs gestorbenen Schriftstellerin zwei bisher unbekannte Manuskripte aufgetaucht: darunter der Versuch, die Geschichte von Eva, der Denunziantin, ganz anders zu erzählen, unter einem neuen Titel, der an den in der DDR verpönten US-Autor Hemingway gemahnt: »Wenn die Stunde ist, zu sprechen ...«

Beide Prosafragmente - bei dem zweiten handelt es sich um einen als verschollen geglaubten Romananfang mit dem Titel »Joe und das Mädchen auf der Lotosblume« aus dem Jahr 1957 - sind in einem jetzt veröffentlichten Buch nachzulesen*.

Faszinierend ist vor allem die Neufassung der Schülergeschichte, die ahnen lässt, wohin die Erzählung nun steuern sollte (das Fragment umfasst sechs Kapitel): Brigitte Reimann erzählt atemlos und spannend vom Eintritt der Neuen in die Klasse, vom Auftritt Evas als dogmatische FDJ-Ideologin, die sich das eingeschüchterte Verhalten der Schüler nicht erklären kann und nicht erklären lassen will, worum sich ihr Mitschüler Klaus bemüht.

Der leidenschaftslose Führer der FDJ-Gruppe ist von dem schönen Mädchen sofort angetan. Was er ihm aber zu erzählen hat, ist ein Stück erschreckender, deprimierender Realität aus den frühen Tagen der DDR: Ein Schulkamerad ist aus dem Unterricht heraus verhaftet worden.

Mehr noch: Alle tapferen Versuche der Mitschüler, etwas über sein Schicksal zu erfahren, sind ergebnislos. Ihr kollektives Aufbegehren, an dem sich sogar kurzfristig der Direktor beteiligt, führt am Ende zu brutalen Drohungen der Partei. »Seit jenen Herbsttagen«, heißt es in der Erzählung, »hat das Schweigen sich über die Schule

gebreitet: keine Auflehnung mehr gegen Ungerechtigkeiten, keine ehrliche Diskussion im Gegenwartskunde-Unterricht ...«

Brigitte Reimann ließ hier endlich ihrer Empörung über einen Vorfall freien Lauf, den sie selbst in ihrer Schule erlebt und der sie seither zunehmend bedrückt hatte. Das neue Konzept der Erzählung lässt eine fundamentale Kritik an der DDR-Realität zu, dramatisch gespiegelt und zugespitzt in der aussichtslosen Liebesgeschichte zwischen Eva und Klaus - mit guten Aussichten, einer der wichtigsten Prosatexte aus der frühen DDR zu werden. Doch dazu gab es keine Chance: Nach anfänglicher Begeisterung im Verlag Neues Leben über diese ersten Kapitel kam 1957 eine ideologisch formulierte Absage.

Die Autorin brach die Arbeit an dem Werk endgültig ab. Sie schrieb andere Bücher, die auch veröffentlicht wurden, ihr Ruhm einbrachten. Gleichzeitig wurde sie mehr und mehr zur Rebellin, notierte in ihrem Tagebuch fortan unverhohlen, was sie an staatlichem Druck (sie wehrte sich mutig und erfolgreich gegen die Zudringlichkeit der Stasi), an Duckmäusertum und Opportunismus registrierte. Eine Rebellin war sie auch in der Liebe: Sie scherte sich wenig um eheliche Moral, um kleinbürgerliche Sitten à la DDR und üble Nachrede, löste damit Eifersuchtsdramen und seelische Katastrophen aus.

Das zweite Erzählfragment gibt eine Ahnung davon: Es ist die Geschichte einer Malerin zwischen zwei Männern. Was Brigitte Reimann hier weitgehend autobiografisch erzählt, hat sie allerdings andernorts, in ihren Tagebüchern, unendlich präziser, mit mehr Witz und Verzweiflung dargestellt. VOLKER HAGE

* Brigitte Reimann: »Das Mädchen auf der Lotosblume. Zweiunvollendete Romane«. Aufbau-Verlag, Berlin; 240 Seiten;18,90 Euro.

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