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PHILOSOPHEN Recht zur Revolution

Zwei neu entdeckte Vorlesungsnachschriften erweisen: Hegel blieb als Sozialphilosoph in Heidelberg und Berlin progressiv und sprach im Winter 1819/20 sogar von einem Notrecht der Armen. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Hegel hat zwar gesehen, daß die Industrialisierung einen ''Pöbel'' oder ein Proletariat erzeugen mußte; welche Sprengkraft in diesem Vorgang lag, das hat er nicht wahrgenommen.«

Dieses Urteil über Hegels Sozialphilosophie fällt Otto Pöggeler, 55, Philosophieprofessor an der Universität Bochum und verdienstvoller Mitherausgeber der historisch-kritischen Hegel-Gesamtausgabe.

Er tut es in der Einleitung zu einer neuentdeckten Nachschrift von Hegels »Ur-Rechtsphilosophie«, Heidelberger Vorlesungen im Wintersemester (WS) 1817/18. Sie wird Anfang 1984 im Rahmen einer neuen Studienausgabe von Vorlesungen (ein erster Band zur Religionsphilosophie ist schon erschienen) im Hamburger Felix Meiner Verlag herauskommen, ediert von den Forschern des Bochumer Hegel-Archivs. _(G. W. F. Hegel: »Vorlesungen. Band 1: ) _(Vorlesungen über Naturrecht und ) _(Staatswissenschaft (1817/ 18). ) _(Nachschrift P. Wannenmann«. Felix Meiner ) _(Verlag, Hamburg; 300 Seiten; ca. 112 ) _(Mark. )

Nicht genug damit: 1983 wurde bereits eine in den USA aufgespürte Nachschrift des Rechtsphilosophie-Kollegs aus dem Berliner WS 1819/20 publiziert, die der Münchner Philosophie-Ordinarius Dieter Henrich, 56, herausgegeben hat. _(Georg Wilhelm Friedrich Hegel: ) _("Philosophie des Rechts. Die Vorlesung ) _(von 1819/20 in einer Nachschrift«. ) _(Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 392 ) _(Seiten; 38 Mark. )

Die völlig überraschende Duplizität der Entdeckungen kann der Hegel-Forschung nur nützlich sein. Trotz des teutonisch traditionellen Gelehrten-Hickhacks um Edition und Interpretation geht es letztlich um die entscheidende Frage: Haben Hegels Gegner recht, die ihn - vor allem wegen des 1820 gedruckten Handbuchs zur Rechtsphilosophie - als preußischen Staatsphilosophen, als Lakaien der Restauration verdammten?

Im gleichen Jahr 1820 hatten die Staaten des Deutschen Bundes nach den Karlsbader Beschlüssen (1819) damit begonnen, politisch mißliebige Hochschullehrer zu entlassen und engagierte Studenten zu verfolgen. Auch die Bücher von Professoren wurden fortan einer strengen Zensur unterworfen.

Dieser Druckzensur hat sich Hegel gebeugt. Er ließ vor allem in der berüchtigten Vorrede zu seinem Handbuch eine »philosophische Einsegnung der bestehenden Verhältnisse« durchblicken, wie der Saarbrückener Hegel-Forscher Karl-Heinz Ilting in seiner Edition der bis dato bekannten Berliner Vorlesungsnachschriften zur Rechtsphilosophie (SPIEGEL 13/1973) bemerkt hatte.

Doch Ilting schrieb ebenso: »Nur in vertraulichen Gesprächen und in seinen Vorlesungen hat Hegel seine wirklichen politischen Überzeugungen deutlich zu erkennen gegeben.«

In der Tat dachte Hegel politisch anders, als er es 1820 drucken ließ. Sein politisch verheerender Satz: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« lautete in der Vorlesung von 1819/20 noch optimistisch: »Was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig.« Ebenso steht in der Heidelberger Vorlesung mehrfach: »Was vernünftig ist, muß geschehen« oder »sein«.

In Heidelberg umschrieb Hegel ebenso klar seine Theorie der Revolution. Eben sie gründet darauf, daß es auch in der Welt vernünftig und freiheitlich zugehen muß und daß es nicht genügt, »wenn der Geist für sich fortschreitet«.

Hegel diktierte: »Die Fortbildung des Geistes ohne gleichmäßige Fortbildung der Institutionen, so daß jener mit diesen in Widerspruch kommt, ist die Quelle nicht nur der Unzufriedenheit, sondern der Revolutionen.«

Alles menschliche Unglück, meinte Hegel zudem, komme aus »der Abhängigkeit von zufälligen Umständen« - und

seit Heidelberg beschrieb er »die bürgerliche Gesellschaft« als die Sphäre, in der »alle Zufälligkeit der Natur und des Glücks ihren Spielraum« habe.

Eben deshalb maß Hegel dem Staat als Träger substantieller Sittlichkeit und Vernünftigkeit so große Bedeutung bei: Er sollte die auseinanderstrebenden Kräfte der Gesellschaft versöhnen und so die soziale Explosion durch den vernünftigen Fortschritt der Institutionen mäßigen, wenn nicht verhindern.

Mochte Hegels Glaube an den Vernunftstaat auch utopisch sein, seine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Konflikte war es nicht.

Hegel wußte, daß soziales Elend keineswegs notwendig ist. Er erklärte daher schon den Not- und Verstandesstaat der bürgerlichen Gesellschaft in Heidelberg für zuständig, auch das Lebensrecht des Armen, »der entweder kein Kapital besitzt oder keine Geschicklichkeit«, zu sichern: »Das Recht des Lebens ist das absolut Wesentliche im Menschen, und für dies Wesentliche muß die bürgerliche Gesellschaft sorgen.«

Dieses Recht ist keineswegs allein das negative Recht auf den Schutz des eigenen Lebens, sondern auch »das positive, erfüllte Recht«, am »Zweck« der bürgerlichen Gesellschaft teilzuhaben: an der »Wirklichkeit der Freiheit«.

In Heidelberg verfocht Hegel daher so etwas wie soziale Chancengleichheit, die auch dem Armen erlauben sollte, am sozialen Reichtum teilzuhaben, indem er sich bilden und die Eignung für sein Berufsleben erwerben konnte: »Die Möglichkeit aber, sich diese Bildung zu geben, erfordert wieder ein Kapital, welches zu haben wieder ein Zufälliges ist, welche Zufälligkeit durch den Staat aber aufgehoben werden muß.«

Schon in Heidelberg sprach Hegel vom »Gefühl des erlittenen Unrechts und der Ungleichheit mit anderen«, die in Armen und Müßigen eine »Gesinnung der Arbeitslosigkeit und der Bösartigkeit« erwecke, innere Empörung. Und Hegel wußte auch, daß »ganze Stände, ganze Gewerbszweige ... in diese Armut fallen« können; die ökonomischen Ursachen der sozialen Mißstände waren ihm geläufig.

Als Abhilfe empfahl Hegel immer wieder »die Kolonisation, die bei einem Volke von fortschreitender Industrie notwendig wird«, um allen Menschen »die Realisierung ihrer Forderungen an den Staat« zu gewährleisten, »ihre Subsistenz zu erwerben«. Die deutsche Auswanderung begriff er hingegen als Folge von Übervölkerung und Not, »wo nun der Staat ... nicht für seine Bürger sorgt«.

So sprach er auch im WS 1819/20 von einem Notrecht der Armen, das Herausgeber Henrich umschreibt: »Es gibt keine andere Stelle in Hegels Werk, an der er Revolution nicht nur als historische Tatsache und Notwendigkeit begreift, sondern ein Recht zu ihr aus der systematischen Analyse einer auch für ihn gegenwärtigen Institution gewinnt und erklärt.«

Diese Analyse gilt der Situation von Armen und Reichen, einem doppelten Verderben, das die sittliche Substanz der Gesellschaft zu zerstören droht.

So untersuchte Hegel in Berlin - wie schon in Heidelberg - nicht nur die äußere Not der Armen, sondern auch deren »moralische Degradation«, die daraus entsteht, daß Arbeitslose und Arme in der Gesellschaft auch um die Ehre des Berufsstandes wie die »Anerkennung in der Vorstellung der anderen« betrogen sind, die erst dem »Individuum sein Dasein« gibt.

In Berlin griff Hegel dabei wieder wie in seiner Jugend die Kirche an, die den Armen um die Tröstungen der Religion bringe. Denn besuche der Arme schon einmal trotz Sonntagsarbeit und schlechter Kleidung den Gottesdienst, dann langweile er sich beim gelehrten Gerede (und moralischen Salbadern) der Prediger, das »für ein gebildetes Publikum hauptsächlich berechnet ist«.

Auch mangelnde Solvenz bei Advokaten und Ärzten bedrängten den Armen. In Heidelberg sagte Hegel: »Der Arzt steht ihm nur barmherzig bei, und die Spitalverwalter entziehen dem Kranken vieles noch zu ihrem eigenen Gewinn.«

Aus dieser Situation der Armen folgerte Hegel im WS 1819/20 ihren »Zwiespalt des Gemüts mit der bürgerlichen Gesellschaft«, ihre berechtigte »innere

Empörung«. Denn auch der Arme habe »das Bewußtsein seiner als eines Unendlichen, Freien, und damit entsteht die Forderung, daß das äußere Dasein diesem Bewußtsein entspreche«.

Genauso hatte Hegel in Heidelberg 1817/18 das Entstehen der Revolutionen beschrieben: Sie brechen aus, wenn die Institutionen des sozialen Daseins nicht mehr dem Selbstbewußtsein der Vernunft, des seiner Freiheit gewissen Menschengeistes entsprechen.

Der Arme, so Hegels Berliner Analyse, sieht sich eben nicht nur »bloßer Naturnot« ausgesetzt, sondern auch »menschlicher Zufälligkeit« und »Willkür« der Reichen. Damit hat der Arme »keine Rechte mehr«, seine »Freiheit (hat) kein Dasein«. Wird jedoch die Freiheit des einzelnen unterdrückt, so schwindet auch »das Anerkennen der allgemeinen Freiheit« aus der bürgerlichen Gesellschaft.

An seine Stelle tritt bei Armen und Reichen zugleich »die Gesinnung der Pöbelhaftigkeit«, »die Nichtanerkennung des Rechts«. Während jedoch die anarchische Gesetzlosigkeit der Armen - so läßt sich Hegel deuten - aus Unfreiheit und Rechtlosigkeit entspringt, macht sich der reiche Pöbel gesetzlos durch Rechtsverachtung.

Gegen das ebenso zufällige wie zwangsweise Entstehen der Armut macht Hegel hier, im WS nach den Karlsbader Beschlüssen - und nur hier -, ein permanentes Notrecht der Armen geltend. Denn ihre Not hat keinen »momentanen Charakter« mehr, entspringt nicht mehr natürlicher Not, dem Bedürfnis des Augenblicks, sondern fremder Willkür - laut Henrich der »Organisationsform der Gesellschaft als solcher«.

Und Henrich deutet Hegels Notrecht als »Erklärung des Rechtes, gegen die Gesellschaft selbst, welche dem Willen des Armen sein Dasein verweigert, dessen Verwirklichung durchzusetzen«.

Für Hegel, meint er, sei »die Krise der bürgerlichen Produktionsgesellschaft die Krise ihrer Unvollkommenheit«, ihres Wachstums gewesen: Hegels Widerstandsrecht der Armen war kein verfrühter Marxismus, kein Aufruf zum Kampf für die Diktatur des Proletariats.

Trotzdem erstaunt ein seltsamer Satz aus der Heidelberger Vorlesung, ein Satz von Hegel, dem Verteidiger der konstitutionellen Monarchie, dem Gegner der Volkssouveränität: »Die Demokratie ist der Anfang der Freiheit des Willens, aber die Demokratie kann nicht mehr bestehen im geregelten Staate, denn sonst entstehen fürchterliche Kämpfe. Oder das Prinzip der Arbeit ist die Bedingung der Demokratie.«

Das Prinzip Arbeit als Bedingung moderner Demokratie, schon diese Ahnung Hegels - wenn sie nur das ist - läßt daran zweifeln, daß er nichts von der sozialen Sprengkraft der Industriellen Revolution wahrgenommen haben sollte.

Rudolf Ringguth

G. W. F. Hegel: »Vorlesungen. Band 1: Vorlesungen über Naturrechtund Staatswissenschaft (1817/ 18). Nachschrift P. Wannenmann«. FelixMeiner Verlag, Hamburg; 300 Seiten; ca. 112 Mark.Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Philosophie des Rechts. DieVorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift«. Suhrkamp Verlag,Frankfurt am Main; 392 Seiten; 38 Mark.

Rudolf Ringguth

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