ZENSUR Reich des Unsinns
Noch vor Ansicht von Oshimas »Reich der Sinne« schlug Springers »BZ« mit einem »simplen Urteil« Alarm: »Der größte Porno aller Zeiten.« Und berief sich dabei auf eine unglückliche Formulierung des Forum-Chefs der Berlinale, Ulrich Gregor: »Es ist der Porno, um alle Pornos zu beenden.«
Berlins Justiz reagierte wie auf Bestellung. Schon in der ersten, seit Tagen ausverkauften Vorstellung des Oshima-Films auf der Berlinale saß nicht nur der einschlägig bekannte Staatsanwalt Finder ("Porno-Killer"), er hatte auch gleich einen zuständigen Richter und zwei Kriminalbeamte mitgebracht.
Die Beschlagnahme erfolgte prompt nach der Vorstellung. Damit war der Eklat da: Zum erstenmal hat auf einem internationalen Festival die Zensur ein-
* Mit Tatsuya Fuji und Eiko Matsuda.
gegriffen. Den Finder-Lohn der Porno-Angst bezahlt Berlin mit Prestigeverlust. Der inzwischen zurückgetretene Justizsenator Oxfort drückte es noch milde aus: »Das Ansehen Berlins ist berührt.« Oxfort weiter: »Wenn es nach mir ginge, würde ich den ganzen Paragraphen abschaffen.«
Die Justizaktion, die im Ausland das Zerrbild vom »häßlichen Deutschen« nicht gerade verschönen wird ("Le Figaro": Die Bundesrepublik reagiere »überempfindlich"), fußt auf der Neufassung des sogenannten Pornoparagraphen 184, Absatz 3, wonach »pornographische Schriften, die Gewalttätigkeiten ... zum Gegenstand haben«, in Herstellung Und Verbreitung strafbar sind.
Diesem Gummiparagraphen, der anstelle des früher normierten »Schamgefühls des durchschnittlichen Beschauers« die »im Einklang mit allgemein gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstands« setzt, fiel kürzlich erst Pasolinis »Saló oder die Tage von Sodom und Gomorrha« zum Opfer.
Inzwischen hat die 17. Strafkammer des Berliner Landgerichts die Beschwerde gegen die Beschlagnahme verworfen. Obwohl dem Gericht eine Dokumentation mit Kritiken vorlag, die Oshimas »Reich der Sinne« durchweg positiv als Kunstwerk würdigten, mochte die Kammer den im Grundgesetz garantierten »Kunstvorbehalt« nicht anwenden.
Gegen diese Entscheidung, die ohne Anhörung von Sachverständigen nach mehrstündiger Beratung gefällt wurde, gibt es keine Rechtsmittel mehr. Nach
Angaben des Sprechers der Berliner Justizverwaltung werde die Staatsanwaltschaft nunmehr ermitteln und eventuell Anklage gegen »eine oder mehrere Personen« erheben. Kommt es zur Verhandlung, droht den für die Vorführung Verantwortlichen eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr.
Der Film selbst ist nun »endgültig vorläufig« und bundesweit beschlagnahmt. Eine derartige Spruchpraxis ist selbst unter Juristen umstritten. Dazu heißt es in einem Aufsatz der »Neuen Juristischen Wochenschrift": »Die umfassende Beschlagnahmebefugnis.
erscheint außerordentlich weitgehend und gefährlich, weil sie dazu führen kann, daß die Rechts- (und Moral-) auffassung des jeweils strengsten Richters maßgeblich für das ganze Bundesgebiet wird.«
Tatsächlich trifft der Film durch sein Thema mit dem Buchstaben des Gesetzes haargenau zusammen. Der als »Japanischer Godard« bezeichnete 44jährige Regisseur Nagisa Oshima ("Tod durch Erhängen«, »Die Zeremonie") hat im »Reich der Sinne« eine wahre Begebenheit aus dem Jahre 1936 verfilmt: die Geschichte eines Geisha-Mädchens, das ihren Chef buchstäblich zu Tode liebte. Auf seinen Wunsch strangulierte und kastrierte sie ihren Freund -- der Liebestod war die Konsequenz einer wochenlangen orgiastischen Leidenschaft. Oshima reizte an dieser auf die Sexualität reduzierten »Tristan und Isolde«-Geschichte die Konsequenz, »daß Gesten und Wörter von einer einzigen Sprache regiert werden: von der Sprache des Sexus«.
In Cannes, wo der Film in dreizehn Vorstellungen unbehindert lief, fand er begeisterte Zustimmung: »Direkt und rein wie eine erotische Zeichnung von Utamaro«, befand die Londoner »Times« und urteilte: »Etwas Einmaliges in der Geschichte des Films.« »Le Monde« zog deutlich den Trennungsstrich zum üblichen Schmuddelkino: »Keines dieser eiskalten Bilder fordert den Voyeurismus heraus.« Und die »FAZ« attestierte Oshimas Film »klinischen Ernst": »Dem zuzuschauen ist wahrlich kein Vergnügen.«
Für Deutschland erweist sich an Oshimas Film allerdings wieder einmal die Armseligkeit juristischer Nomenklaturen gegenüber den Dingen des Lebens. Die Justiz ist offenbar durch die ihr vom Gesetzgeber auferlegte Scheidung zwischen Kunst und Pornographie nach wie vor überfordert.
Zwar sollte die Neufassung des Paragraphen 184 die Justiz vor Zensurblamagen, wie sie früher mit dem Prozeß um Schnitzlers »Reigen« und dem zeitweiligen Verbot der Fanny Hill unausweichlich waren, bewahren -- doch die Praxis mit Pasolini und Oshima zeigt: Es bleibt alles beim alten.
Vielleicht mochte der scheidende Leiter des offiziellen Wettbewerbs der Berlinale, Dr. Alfred Bauer, den Film deshalb nicht in sein »gehobenes Durchschnittsprogramm« liften. Er überließ Film und Risiko dem weniger offiziellen Forum-Programm. Der frisch dekorierte Träger des päpstlichen Silvester-Ordens, der nach der Beschlagnahme zwar pflichtschuldigst protestierte, hatte den Film vorher schlicht als »Schweinkram« gekennzeichnet.
In Frankreich hat die (der deutschen FSK vergleichbare) Zensurbehörde Oshimas »Reich der Sinne« inzwischen einstimmig freigegeben.