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ZWERENZ-ROMAN Reicht erst mal

aus DER SPIEGEL 48/1966

Zweierlei Bedürfnis drängte: »Ich

mußte«, so Schriftsteller Gerhard Zwerenz, 41, zum SPIEGEL, »endlich mal was machen, was sich gut verkaufen läßt, was Geld bringt.« Es ist«, so Zwerenz-Romanheld Michel Casanova, »zu wenig Wahrheit, zu wenig Gesang in unserer Literatur - und zu wenig fröhliche Pisse.«

Der neue Roman des in Köln lebenden Autors, Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden"*, hat da Abhilfe geschaffen: Die deutsche Gegenwartsliteratur ist nun auch um ein wenig Wahrheit und Gesang bereichert und Zwerenz wieder flüssig.

Sein 1961 erschienenes polemisches Tagebuch »Ärgernisse«, so klagt und erklärt Zwerenz, sei nur auf eine Auflage von 7000 Exemplaren gelangt; »von meinen letzten Büchern wurde noch weniger verkauft"**. Von der »Casanova«-Novität dagegen hat der Scherz Verlag bislang schon 25 000 Exemplare drucken können - was für den Autor nach Abzug der 11 000 Mark Vorschüsse, die er von Scherz erhielt, an Tantiemen übrigbleibt, »reicht erst mal für ein sorgenfreies Jahr« (Zwerenz).

Das Werk, das dem 1957 von Ost- nach Westdeutschland emigrierten sächsischen Arbeitersohn, ehemaligen Volkspolizisten, Leipziger Philosophiestudenten - Zwerenz war Schüler von Ernst Bloch - und rabiaten Allround-Polemiker endlich mal Geld bringt, ist als erfolgsträchtig schon durch jenen bewährten Bei-Zettel ausgewiesen, auf dem sich der Käufer unterschriftlich verpflichten muß, das Buch »nicht an Jugendliche weiterzugeben«.

Denn der Zwerenz-Held und Ich-Erzähler Michel Casanova, Sproß einer Sippe, die einem fiktiven letzten Liebesakt des historischen Casanova auf Schloß Dux in Böhmen entsprang, trägt seinen potenten »Kleinen Herrn« unter einem dreieckigen stählernen Schutzschild nicht nur unversehrt durch Krieg und Frieden, Drittes Reich, DDR und Bundesrepublik - er durchstößt zuletzt mit ihm sogar die Gefängnismauern des Kölner »Klingelpütz«, und er bringt sein bestes Stück auch heil durch rund zwei Dutzend speziell geschilderte Stelldicheins, so unter anderem

- mit der Schauspielerin Ellen kurz vor deren Hörspielaufnahme beim WDR und der WDR-Nachrichtensprechersgattin Heddy auf dem Teppich; mit der reichen Rene und dem Dienstmädchen Reni; mit Anne (im und nach dem Krieg) und Annes Mutter; mit der Bäckerstochter Loni sowie Lonis Schwester Gudrun und Mutter Lisa in Jüterbog und mit der Dichtertochter Julia in Unkel; mit der Ladendiebin Irma und der Gangsterbraut Amely; mit der Polin Marena im Erdloch, der Bundestagsabgeordneten Clelia im Auto und der Kölnerin Berta auf dem Dom.

Doch damit nicht genug: Berichtet wird außerdem, wie Michel Casanovas Vater mit Tante Hilde »auf den Dielen« lag und Michels Mutter hinterrücks mit einem Schraubenzieher zustach; wie das Mädchen Fanny in einer Kölner Privatbibliothek zwischen Großem Brockhaus und Lenins Werken gleichzeitig einem Catcher-Star und einem Minimax-Vertreter diente; und wie der Gebrauchtwagenkönig Kwiatowski seiner Frau mit Hilfe einer Hollywoodschaukel wohltat.

Denn »was zählt«, so Zwerenz-Casanovas Maxime wider Moralisten, Militaristen und Ästheten, »ist die unendliche gewaltige Lust«.

Was auch noch zählt in diesem Mischwerk aus teutonischem Schelmenroman, grobschlächtiger Zeitsatire und einigem Studenten-Jux, ist des Autors nicht endende Lust am literarischen Krakeel.

Zwerenz, kein Form- und Sprach-Artist, aber ein kaum jemals langweilender Erzähler, hat in seinem »Casanova« parodistische Anspielungen auf Ernst Jünger und Gottfried Benn, Sottisen gegen die »Gruppe 47«, gegen »Welt«, »Frankfurter Allgemeine« und SPIEGEL untergebracht. Er verspottet DDR-Kommunisten und schmäht, durchs nächtliche Köln streunend, das »Abendland": Ohne Lichtreklame ... nichts als ein einziger Scheißhaufen.«

Der Roman folgt dem Lebensweg seines Verfassers von der Pleiße an den Rhein, aber er profitiert nicht nur von des Autors Biographie. Was Michel Casanova mit seiner schwangeren Frau »Violine« im rheinischen »Kaff Kutzbach« erlebt, reflektiert Geschehnisse, die Zwerenz einst im rheinischen Dorf Kasbach miterlebte: als Freund des ebenfalls aus der DDR emigrierten Poeten Peter Jokostra ("Magische Straße"), dessen Frau dem »Casanova«-Autor inzwischen Ohrfeigen angedroht hat.

Die Kölner Verlagslektorin und Ulbricht-Biographin Carola Stern, die Zwerenz ursprünglich auch in seinem Buch verschlüsseln wollte, ließ er freilich doch lieber aus dem Spiel: »Ich hatte schon mal Ärger mit ihr wegen einer meiner Kurzgeschichten.«

Die rüde Simpliziade des Gerhard Zwerenz, der sich selber auch als Randfigur »Gawrilowitsch Zwerenz« auftreten läßt, als »ein Kerl, der von den anderen meist im Zusammenhang mit dem Philosophen E. B. genannt wurde«, erinnert in mehr als einer Beziehung an die »Hundejahre«, des Günter Graß.

Kulminierten die »Hundejahre« in der Vogelscheuchen-Allegorie im niedersächsischen Kalibergwerk, so übernimmt sich der »Casanova« schließlich mit einer ähnlich konstruierten Sinnbild-Welt ("Germa Nija") im Tunnel der Erpeler Ley. Zwerenzens Roman, so urteilte der Kritiker Heinrich Vormweg im Hessischen Rundfunk, sei »der bisher wohl einzige Fall eindeutiger Graß-Nachahmung«.

Doch der Sachse will den Danziger nicht gelesen haben. Zwerenz: »Ich kann mir als freier Schriftsteller nur Taschenbücher leisten, und die ,Hundejahre' gibt es noch nicht als Taschenbuch«; Vorbilder für seinen »Casanova« seien vielmehr der »Ulenspiegel«-Roman des Belgiers Charles de Coster (1827 bis 1879) und die sächsische Volksmär vom wilden »Stülpner Karl« gewesen.

Gleichwie, mit Graß kann Zwerenz sich ohnehin nicht messen: Er seinerseits mißt die deutsche Gegenwartsliteratur an seinem »Kleinen Herrn« auf diese Weise: Romanheld Michel Casanova erinnert sich in Köln, eine Rezension gelesen zu haben, in der Enzensbergers Lyrik als zu unerotisch, zu wenig »schwanzlastig« bemängelt wurde, und nun überlegt er, »wie's damit bei den andern steht":

Heinrich (Böll) versteckt ihn, Wohmann und Bachmann haben keinen, Walser ist wütend darüber, Sohn John ist jeweils gesellschaftspolitisch verhindert, Hochhuth verhält sich neutral, Frisch und Dürrenmatt sind Schweizer und scheiden damit aus. Groß schwingt ihn drohend in der Hand und erschreckt die Leute mit Sinn fürs Detail.

Mir wird ziemlich trist zumute, da hellt mich ein Name auf: Arno Schmidt hat einen und weiß damit umzugehen - na und jetzt wird mir besser: Robert Neumann freut sich dran und Hermann Kesten ... womit die Sinnlichkeit der deutschen Literatur als gerettet betrachtet werden könnte.

Am »Kleinen Herrn« des Gerhard Zwerenz - das konnte nach solchen Zeilen als gesichert betrachtet werden - freute sich vor allem Robert Neumann, 69. Er pries den Priapoeten Zwerenz im Fernsehen. Weiteres Lob kam (brieflich an Zwerenz) von Alfred Kantorowicz, 67, und von Ludwig Marcuse, 72, in »Twen": »Hier fließt's aus dem Vollen.« Und Ernst Bloch, 81, schrieb, »streckenweise bewundernd«, über »Casanova« an den Autor: »Das ist ganz Blick von unten auf die Bagage und allwegs mit der tieferen Bedeutung.«

»FAZ«-Kritiker Karl Korn, 58, hingegen befand, daß ein Lektor das zur Hälfte hochbegabte Manuskript vor der Kloake hätte retten« sollen.

»Casanova«-Autor Zwerenz ("Ich neige zum anarchischen Schreiben") erträgt solche wie jede Kritik mit Fassung. Denn notfalls kann er sich mit einem weiteren Bloch-Wort trösten. Schrieb der Philosoph an seinen ehemaligen Studenten: »Die Rezensenten des Kleinen Herrn werden wohl auch dadurch determiniert werden, wie sie selber einen haben.«

* Gerhard Zwerenz: »Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden«. Scherz Verlag. München; 532 Seliten; 28 Mark.

** 1962 und 1964 erschienen von Zwerenz »Gesänge auf dem Markt und »Heldengedenktag«.

»Casanovo«-Autor Zwerenz: Blick von unten auf die Bagage

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