Reisen bildet, aber verbeult die Hosen
Der Tourist ist immer der andere. »Seine Ferien verbringt er in Torremolinos, in Rimini oder auf Sylt. Er hat ein Wohnmobil oder einen geräumigen Campingwagen, der kaum hinter seiner teuren Einrichtung zurücksteht. Was kümmert es ihn, daß der Campingplatz überfüllt ist, von Autos verstopft und mit Abfällen übersät? Hat er doch seine Gewohnheiten. Manchmal reist er auch, aber immer organisiert. Beim Besuch der Pyramiden denkt er an Napoleon. Wie beim Anblick eines Filmstars, den er zum ersten Mal leibhaftig sieht, ruft er aus: Guck an, ich hab'' sie mir größer vorgestellt!
Er liebt die Abwechslung; deshalb benutzt er seinen Aufenthalt im Mittleren Osten dazu, vergnügt, hochrot und schmerbäuchig auf ein Dromedar zu klettern, das ihn auf den Markt oder an den Strand trägt. Aus Mexiko bringt er indianische Puppen heim, frisch aus der Fabrik, und Ponchos made in Hongkong.
Er heißt Tourist, ist der Kleinbürger in Slip und Unterhemd, ist die schweigende S.142 Mehrheit, die in die Sommerunterkünfte einfällt, er ist Herr Stereotyp auf Urlaub, der Herdenmensch, der den Alltagstrott gegen eine azurne Banalität eintauscht, und der -- welch ein Gipfel der Entfremdung -- damit so zufrieden zu sein scheint, daß er jedes Jahr aufs neue danach verlangt.
Ich dagegen suche unbekannte Pfade. Ich habe den touristischen Heerstraßen den Krieg erklärt, ich bin der Konsumasket. Ich hasse die klimatisierten Busse, die ihre stumpfsinnigen Ladungen vor den Sehenswürdigkeiten mit vier Sternen ausspeien. Ich verabscheue die protokollarische Bewunderung -- katalogisierter Pracht kann ich nichts abgewinnen.
Ich bin Freischärler, Pionier, Drauf- und Einzelgänger, Abweichler. Ich versage mir die leichten Vergnügungen und bequemen Abenteuer, ich bin Indianer bei den Cheyenne und Dogon in Mali. Wenn ihr Katmandu noch für einen tropischen Baum oder eine Sonnencreme haltet, komme ich bereits hingerissen und erschöpft von dort zurück. Ich habe Benares und Goa kennengelernt, bevor sich dort noch die anonyme Menge der Sommerfrischler breitmachte. Ich fahre dorthin, wo ihr nie gewesen seid, ob nach Island, dem Mato Grosso oder zu den Wasserfällen der Ardeche.
Ihr seid Beförderungsgut, ich bin Reisender. Der blinde, majoritäre, mechanische, willenlose, programmierte und einförmige Tourismus und meine abenteuerlichen Unternehmungen haben keinen gemeinsamen Nenner. Sie sind unversöhnliche Feinde.«
Gewiß wird sich niemand in dieser gereizten Suada wiedererkennen. Fest steht jedoch, daß heute alle Reisen polemisch sind -- den Ort wechseln heißt vor allem, unverwechselbar zu werden. Mit wem? Mit dem Touristen.
Ich brauche Neckermann weniger, um ihn zu bekämpfen, als um mich meines Wertes zu vergewissern. Wenn es die Touristen, diese schwerfälligen Herdentiere, nicht gäbe, wie sollte ich dann meiner Besonderheit habhaft werden, welches Prestige könnte ich dann aus meinen Reisen ziehen? Kein Abenteuer ohne den glücklichen Dummkopf in geblümten Bermudashorts.
Der Haß auf den Durchschnittsmenschen und die alte Verachtung für den Erfolg treffen sich in der Gestalt des Campers, dieses beispielhaften Antihelden unserer Zeit. Vom ersten -- so heißt es -- habe der Camper seinen Geschmack an dem, was alle anderen haben und sind, und seinen Haß auf alles, was stört und Abwechslung bringt. Vom zweiten habe er den Hang zu schmutzigen Orten, zu übervölkertem und morastigem Gelände geerbt.
Was wirft man den Adepten der Zeltdörfer anderes vor, als daß sie den häuslichen Komfort reproduzieren und gleichzeitig zugunsten einer reichlich abstoßenden Promiskuität darauf verzichten? Ein widersprüchlicher Vorwurf, in dem zwei Verachtungen zusammenkommen: die für die entfremdeten Massen, die ihre Freizeit darauf verwenden, nach dem gleichen »Schema« zu leben wie in der Zeit ihrer Sklaverei, und die für die abstoßenden Massen, die sich im Schlamm wälzen, als sei es ihr natürliches Element.
Aber diesen Durchschnittsmenschen gibt es nicht. Die Geschichte vom »entfremdeten Camper« ist ein elitärer Mythos. Wenn die Leute jedes Jahr nach Rimini fahren, um sich ins Chaos, ins Gewühl und in den Gestank von Pizza zu stürzen, so deshalb, weil sie sich für den extremen Wechsel entschieden haben, für die Stadt ohne Mauern, für eine horizontale, chaotische, wimmelnde Stadt, ein städtisches Leben, das seine Urbanität zurückgewonnen hat.
Der Camper habe -- so heißt es -nicht die prachtvolle Leichtigkeit des Nomaden, sondern die Unbeweglichkeit der Schildkröte, die ihr Haus überallhin mitschleppt. Was für eine dumme Kritik!
Man mag das sommerliche Zuhause technisch noch so perfektionieren, es bleibt eine Behausung, die sich nicht abschotten läßt, ein verletzlicher und paradoxer Innenraum, eine private Welt, die kaum gegen das Außen abgeschirmt ist. An Komfort mangelt es nicht, abgesehen von der Möglichkeit, seine Nutznießer zu isolieren.
Der Öko-Robinson erteilt dem gemeinen Camper eine Lektion, und doch erschafft eine Zeltstadt einen utopischeren Raum als das einsame Zelt hoch oben auf einem Steilufer, denn nicht der Mangel, sondern das Übermaß an Privatheit ist das Übel unserer modernen Ballungsgebiete. Wer einen verlorenen Winkel ohne fließend Wasser sucht, wird unter dem Vorwand, städtischer Hektik zu entfliehen, zum exemplarischen Mieter und verinnerlicht geradezu wahnhaft den modernen Befehl des Jeder-für-sich.
Ob Mietskasernen oder Eigenheim, unsere zeitgenössischen Häuser sind alle mit dem Hintergedanken entworfen, jede Möglichkeit nachbarschaftlicher Begegnung zu verhindern. Diese Regel der familiären Abkapselung muß ja wohl mehr oder minder akzeptiert sein, wenn die Mehrheit der Menschen ihre gesamte Freizeit darauf verwendet, sie außer Kraft zu setzen.
Die Adepten der sommerlichen Einsamkeit sind so gründlich auf diese besondere Hygiene dressiert, daß Promiskuität niemals für sie in Frage kommt. Genau dies ist aber im antiprivaten Camping-Urlaub der Fall, wo die Handlungs- und Empfindungsweisen und die ganze vergessene Praxis der Nachbarschaftlichkeit wieder zum Vorschein kommen.
Der Tourismus ist bekanntlich eine ziemlich junge Erscheinung in der Geschichte des Reisens. Den Ortswechsel zum Vergnügen sucht man erst seit weniger als zwei Jahrhunderten. Zwischen 1800 und 1830 beginnt der europäische Adel, der Lockung der Ferne, dem herbstlichen Zauber der Ruinen oder, bescheidener, den Attraktionen der Thermalbäder nachzugehen.
In jener Frühzeit schämten sich die Reiseschriftsteller keineswegs, sich Touristen zu nennen. Zum Bedeutungsverfall des Wortes kommt es mit der Demokratisierung der Sache. Seit die nutzlose Reise dem Monopol der happy S.143 few entglitten ist und die traditionell seßhafte Bourgeoisie vom Reisefieber geschüttelt wird, verkündet die angewiderte Elite das Ende des Reisens.
Die Klage reicht zurück bis zur Gründung der ersten Reisebüros. Schon Cook sah sich heftigen Angriffen der englischen Aristokratie ausgesetzt, die der Mittelschicht diese Usurpation adliger Genüsse nicht verzieh. So verlor die Bezeichnung »Tourist« das elitäre Prestige und begann ihre lange pejorative Karriere. Heute ist die Metamorphose vollendet: Dasselbe Wort, das einst die raffinierten Reisen einer winzigen Minderheit beschrieb, wird heute für die träge Massenwanderung der großen Mehrheit verwendet.
Um der Logik des Tourismus treu zu bleiben, muß man also auf den Tourismus spucken. Wer eine Ausnahme sein will, muß an der ursprünglichen Bestimmung der Vergnügungsreise festhalten. Die Wege der Norm sind paradox. Nie achtet man sie höher als im Augenblick der Übertretung oder des Verstoßes. Heute ist die Romantik -- das unablässige Bemühen um Unterscheidung -die wahre Ideologie des Tourismus.
Wir alle sind aber nur gewöhnliche Urlauber, besonders diejenigen unter uns, die aus ihrer Verachtung für den Tourismus keinen Hehl machen. Denn diese Ritter des Abenteuers sind Touristen in doppelter Hinsicht: zum einen, weil sie zu ihrem Vergnügen reisen, zum anderen durch ihren leidenschaftlichen Wunsch nach Besonderheit.
Als Reisende, die ihr Tun als einen harten Leistungssport verstehen, dulden sie nicht, daß Ferien schlicht zur Erholung verwendet werden. Echtes Reisen nennen diese als Dissidenten verkleideten Wächter des Zeitgeistes nur das spektakuläre Reisen.
Warum verachten sie den Camper oder Massenurlauber? Weil er, wenn er sich mit seinesgleichen auf den öffentlichen Stränden zusammendrängt, das Statusspiel nicht mitmacht. Er scheint sich um sein Image ebensowenig zu kümmern wie das Kleinkind, das selig im Wasser planscht oder seine ersten Sandburgen baut. Man könnte fast meinen, er habe über dem simplen Wert des Vergnügens die hierarchische Berufung der Muße vergessen -- und solche Amnesie ist natürlich zu verdammen!
Nichts darf sich den Zeichen entziehen, niemand hat das Recht, sich ihnen gegenüber gleichgültig zu verhalten -so lautet das Gesetz des Tourismus, und die Antitouristen sorgen für seine Anwendung. Wenn sie dem Sommerfrischler, der es sich gemütlich macht, die stumpfe und platte Dummheit seiner Untätigkeit vorwerfen, so ordnen sie ihn gewaltsam auf einer Skala ein, deren höchsten Rang sie selber einnehmen.
Er hat kein Image? Daran soll''s nicht fehlen: Flugs wird die Leere mit dem abwertenden Image des »Touristen« gefüllt; die Negation der Identität wird übersetzt in negative Identität. Der Urlaub ist wieder Abzeichen, der Tourismus ist gerettet und verdankt seine Rettung all diesen seinen Anklägern. Denn ihre Kritik stopft die Löcher, verkittet die Risse, spießt die Istmir-doch-schnuppe-Haltung auf, bringt die Ausreißer heim ins Reich des Prestiges und wacht mit besessenem Eifer darüber, daß keine Ferienreise sich der Herrschaft des Statusdenkens entzieht.
Tourismus ist im Grunde nichts anderes als die Gesamtheit der Kriterien und Methoden, die den Urlaubern dazu dienen, zwischen sich und ihresgleichen S.144 einen unüberwindlichen Graben auszuheben.
Der intelligente Urlauber kennt nur eine einzige Besessenheit -- sich nicht wie ein Idiot zu bräunen. Anders gesagt: Braunwerden ist wie gutes Essen ein dummes Vergnügen, weil es nichts als ein Vergnügen ist. Sich ihm hinzugeben, läßt sich durch nichts rechtfertigen. Keine kulturelle Gnade kann es verklären.
Der subtile Sonnenanbeter schließt sich der Sekte der raffinierten Leute an, weil er die Materialität des Vergnügens ablehnt. Als alter Puritaner duldet er die Lust nur in idealisierter, sublimierter, vergeistigter Gestalt. So zieht er angesichts der Freuden des Strandlebens die gleiche angewiderte Grimasse wie eine Gouvernante angesichts eines Pornofilms.
Der Tramper, der Prinz in Lumpen, ist eine Zwittergestalt. Halb Aristokrat, halb Vagabund, knüpft er gleichzeitig an den aufwendigen Tourismus der jungen Lords des 18. Jahrhunderts an und an das Nomadenleben der Tippelbrüder. In ihm auferstehen und vereinigen sich zwei versunkene Traditionen: äußerste Bedürfnislosigkeit und höchster Luxus.
Er unternimmt ausgedehnte Reisen wie jene Kaste von Privatiers, deren jahreszeitliche Migrationen sich fast übers ganze Jahr erstreckten. Er reist mittellos und kokettiert mit der Not wie jene umherziehenden Bettler, die im 19. Jahrhundert den Schlaf der anständigen Menschen heimsuchten. Zugleich der Muße des Reisenden früherer Tage und der Revolte des Landstreichers verpflichtet, verkündet er laut seine Absage an den Urlaub.
Denn einen Urlaub gibt es nur in einer arbeitenden Gesellschaft, die sowohl von ihren kleinen Nomaden wie von ihren großen Parasiten gesäubert wurde. Was ist Urlaub? Vielleicht weniger eine Errungenschaft der Arbeiter als ein Triumph der Arbeit, die nun das ganze Leben bestimmt. Wann Zeit unproduktiv konsumiert werden darf, ist im Kalender festgeschrieben, im Zeitplan vorgesehen. Um jede Ansteckung der Arbeit durch den Geist der Muße zu verhindern, wird der Wunsch nach Nichtstun auf einen festen und regelmäßig wiederkehrenden Zeitraum eingegrenzt.
Als Aufstieg der Freizeit wird beschrieben, was in Wahrheit ihre Zähmung ist. Die Tramper empören sich gegen dieses unbarmherzige Entweder-Oder. Sie lehnen ab, daß eine äußere Instanz für sie entscheiden soll, in welchem Zeitraum des Jahres sie sich davonmachen dürfen. Es kann für sie keine geordnete Freizeit geben, weil das ein Widerspruch in sich wäre.
Die feudale Elite verfügte, es sei vornehm, nichts zu tun, und erniedrigend zu arbeiten. Die Elite in Lumpen will die Reise dem Urlaub entreißen, weil dieser die Muße zum Negativ der Arbeit herabwürdigt. Fügsam, sparsam und emsig bricht der Urlauber auf, um seine Gesundheit wiederherzustellen, um sich auszuruhen, um ordentlich was zu erleben, um anderenorts und für die Dauer eines Monats all die Vergnügungen zu genießen, um die sein gewöhnliches Leben ihn bringt. Was der Tramper am Urlaub anprangert, ist die versteckte Präsenz der Arbeit.
Die Reisenden auf großer Fahrt, die im Reichtum eine Erpressung zur Seßhaftigkeit sehen, brechen mittellos auf, um aufbrechen zu können, wann immer sie wollen. Die Hippies der Straße errichten zwischen ihren Reisen und den Kreuzfahrten der großen Masse eine doppelte Barriere -- die des Urlaubs und die des Geldes.
Es gibt eine Askese der Straße. Man muß sich plagen, um in diese Brüderschaft aufgenommen zu werden. Die Weichlinge, die Gegner des Schlafens im Freien, die Liebhaber der klimatisierten Paläste, die bedingungslosen Parteigänger des sauberen Bettzeugs, die Erforscher der Folklore aus der Dose (oder aus dem Nachtklub) werden unbarmherzig abgewiesen.
Der Tramper macht Jagd auf Imitationen und exkommuniziert die Fälscher. Den Ritterschlag der Straße verweigert er kategorisch allen, die sich irgendwelchen Führungen anvertrauen (auch und vor allem denen des Trampers), die sich an Hummel oder an Scharnow halten, statt ihre Reisen dem Zufall zu überantworten.
Am Ende findet niemand Gnade vor seinen Augen. Er ist das einzige Mitglied S.145 einer Sekte von Rittern der Straße, der einsame Bewohner einer uneinnehmbaren Burg, von deren Zinnen er verächtlich auf die Masse der Mieflinge und Sesselfurzer herabblickt.
Elitäres Denken mündet in Paranoia: Ihr seid alle Touristen, nur ich nicht, der ich genügend Entbehrungen durchgemacht habe, um als letzter sprechen zu können und meine Überlegenheit zu verkünden. Ein exemplarischer Wahn. Denn mit dem Reisen verbinden sich stets zwei widersprüchliche Wünsche. Man strebt zwei Dinge zugleich an, und man tut es mit gleicher Kraft und Inbrunst: eine Identität mit anderen und eine unwiderrufliche Differenz.
Der eingeweihte Reisende kommt begeistert von seinem Aufenthalt in den »Staaten« zurück. In Frisco hat er gejoggt, in L. A. hat er einen wahnsinnigen Acid-Trip erlebt und in den Lofts von SoHo und des Village hat er New York lieben gelernt. Sein Reisebericht ist eine Aneinanderreihung von Codenamen, die genußreiche Freude an einer chiffrierten Sprache. So duzt er Amerika, nennt es beim Vornamen und läßt uns, seine staunenden Zuhörer, wissen, daß er dem banalen Touristen die enorme Überlegenheit des Kenners und Eingeweihten, ja des Einheimischen voraus hat.
Er hat die Rückseite des Spiegels gesehen, er ist tief in das Land eingedrungen, das die Menge der Besucher nur oberflächlich streift. In den Auswanderungszeiten ging man nach Amerika, in der Epoche des touristischen Viehauftriebs kommt man aus den Staaten zurück. Der Wunsch nach Exklusivität setzt sich gegen die Kollektivmythologie durch. Nicht mehr eine Utopie, sondern einen Traum von Unterscheidung projiziert man auf die Neue Welt.
Amerika war eine kindliche Phantasie; die Amerikanisierung ist eine Arroganz des Erwachsenen. Man reiht sich in die Minderheit der Kenner ein, der unterrichteten Leute. In den Vereinigten Staaten gehörte man zu den Europäern, zurück kehrt man als Botschafter der Vereinigten Staaten.
Dem gerissenen Reisenden macht man nichts vor. Er gehört nicht zu den Leuten, die man ungestraft übers Ohr hauen kann. Er geht allen einschlägigen Fallen so gewieft aus dem Wege, daß man ihn beim besten Willen nicht mit dem typischen einfältigen Touristen verwechseln kann. Mit einem Hohnlachen geheimer Befriedigung registriert er, wie die anderen auf die dümmsten Tricks hereinfallen und sich widerspruchslos anschmieren lassen.
Er ersetzt die Naivität des typischen Touristen durch ängstliche Wachsamkeit und ständiges Mißtrauen. Je billiger ein Lokal ist, desto argwöhnischer wird er. »Wenn die Pizza hier 3000 Lire kostet, gibt es bestimmt ein Lokal, das es nicht so auf Touristen abgesehen hat und wo man sie 500 Lire billiger kriegen kann. Schnall den Riemen enger, Liebling, wir suchen weiter. Das kann man mit diesen Dummköpfen machen, mit uns nicht!«
Der Gerissene erfindet eine neue Form der Abgrenzung. Er gehört zur unzugänglichen Kaste der Verstopften, der Mißtrauischen und der Geizigen. Zwischen ihm und dem Durchschnittstouristen liegt die ganze Distanz einer grenzenlosen Paranoia.
La Bruyere hätte wohl lange und ausführlich über jenen Reisenden moralisieren können, den soziales Geltungsstreben in den Orient treibt, der Wunsch, für die Dauer eines Monats Reicher unter Armen zu sein -- und der, kaum daß er im Land seiner Träume angelangt ist, zur Beute einer geradezu zwanghaften Sparsamkeit wird. Nie hat er soviel gerechnet wie in diesem Urlaub, nie soviel Angst gehabt, betrogen zu werden. Und die ganze Aufregung nur, um die triumphierende Gewißheit mit nach Hause zu bringen, daß man ihn nicht ein einziges Mal zum Narren gemacht hat.
»Reisen Sie abseits der Horden!« verkündet bereits die Tourismus-Werbung. Das System verdankt seine Kraft seiner Anpassungsfähigkeit. Jede Kritik wird sofort in Innovation übersetzt, jede Form der Auflehnung in eine neue Spielart. Es gibt kein Abenteuer, mag es auch noch so rein oder echt sein, das man zum Tourismus in einen Gegensatz bringen könnte. Die entschiedenste Absage erhält sogleich einen Platz im Katalog.
Das Andere des Tourismus ist immer nur ein anderer Tourismus. »Wir machen das nicht mit,« rufen im Chor der raffinierte Intellektuelle, der mittellose Tramper, der Mann, der sich nie reinlegen läßt, und der eingeweihte Reisende. Dabei vergessen sie alle, welchen Pferdemagen der Tourismus hat und welche besondere Vorliebe für die Widerspenstigen und die Feinschmecker.
Ach, wäre doch die agenturvermittelte Freizeit ein Gesetz, das man übertreten und gegen das man die Kraft und Einzigartigkeit seines besonderen Reisens behaupten könnte! Doch wie soll man es anstellen, einen Prospekt zu unterlaufen? Der Katalog ist prinzipiell unendlich -- man kann immer noch ein Blatt hinzufügen.
Verläßt man die ausgetretenen Pfade, so kommt das nur dem Katalog zugute, den man um eine pittoreske Alternative für den die Einsamkeit Suchenden oder den kühnen Wanderer erweitert. Sich dem Massenbetrieb entziehen, heißt zwangsläufig, die Sphäre eben dieses Betriebes zu erweitern. Gegen seinen Willen wird der wahre Reisende zur Vorhut der Tourismus-Industrie. Er ist der ehrenamtliche Pionier, der den Weg für größere Expeditionen bahnt. Die einsame Unternehmung von heute ist die Massenunternehmung von morgen.
Die Welt als Menü und Weinprobe -- nichts anderes verkündet die Tourismusphilosophie, und dieses Menü ergänzen die schulmeisterlichen Minderheiten ständig durch die Würze nie dagewesener Gerichte. Die Alternativ- und Antitouristen erneuern die Karte und machen das Geschäft mit dem Sommer zu einem Restaurant, das man gern immer wieder aufsucht, weil man sicher sein kann, stets was Neues vorgesetzt zu bekommen.
Wir sind alle Touristen -- diese Feststellung ist nicht als Klage zu verstehen. In wessen Namen sollte man diese Verallgemeinerung auch beklagen? Seit der Tourismus universell geworden ist, ist das Abenteuer nicht mehr fixierbar und folglich seiner ursprünglichen Bestimmung -- dem Zufall -- zurückgegeben. Von nichts mehr das Gegenteil, ist es überall möglich geworden, bei einer Afrika-Durchquerung auf dem Fahrrad ebenso wie beim Faulenzen in Travemünde.
Und was den Hochmut des Draufgängers betrifft, so sieht er sich immer schon dementiert durch ein profanierendes System, das alle unterschiedslos zu Kunden macht, den biederen Sommerfrischler ebenso wie den unerschrockenen Abenteuerurlauber. Der Katalog hat für jeden Geschmack etwas.
S.141Oben: Gemälde von du Gardner, 1910;*unten: Touristenstrand in Jugoslawien.*