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Pop Reißnägel im Hals

Die Kreuzung von Jazz und Tanzmusik ist der Hit der Pop-Saison. Zwei britische Pioniere der neuen Jazzwelle kommen nun auf Tournee nach Deutschland.
aus DER SPIEGEL 13/1991

Der Stadtteil Camden ist ein ziemlich häßliches Stück London, und niemand weiß, warum es unter jungen Menschen als schick gilt, hier zu wohnen oder auszugehen. Der Musikvideo-Sender MTV residiert hier, ein paar Boutiquen und Kneipen gibt es - und manchmal einen Tanzklub, der für ein paar Wochen Furore macht im schnellebigen Londoner Nachtleben, bis er wieder vergessen wird.

Der »Talkin' Loud«-Klub in Camden brachte es nie zu solchen Ehren: ein Treffpunkt für strenggläubige Jazzfans, die hier Charlie Parkers Blaskünste diskutierten, dabei stundenlang am gleichen Glas Bier nippten und mit dem Fuß den Takt mitklopften.

Bis eines Abends Gilles Peterson Platten auflegen durfte im »Talkin' Loud«. Am Mischpult mixte er klassischen Jazz mit wummerndem Tanzbeat, ließ die Rapper von Public Enemy gegen John Coltrane anbrüllen. »Jazz ohne die grauen Bärte der Puristen«, nannte Peterson das Resultat seines schonungslosen Feldversuchs. Die Reaktion der Probanden schildert Petersons Musikerfreund Rob Galliano so: »Viele sahen drein, als hätten sie Reißnägel verschluckt.«

Soweit die Legende, wie Rob Galliano sie erzählt. Dreieinhalb Jahre sind seitdem vergangen, und der Name »Talkin' Loud« schmückt mittlerweile ein Plattenlabel. Peterson ist der Boß und der Rapper Galliano sein prominentester Künstler. Wenn die beiden vom 2. April an in fünf deutschen Städten auf Klubtournee gehen, der Plattenchef am Mischpult und sein Star am Mikrofon, werden nicht nur Jazzfreaks den Weg in die Konzerthallen finden: Die Kreuzung von Jazz und Tanzmusik ist der meistdiskutierte Trend im Popgeschäft. »Über diese Liebe spricht die Welt«, meldet die deutsche Musikzeitschrift Spex.

»Wir brechen endlich wieder die Barrieren zwischen Jazz und Pop«, glaubt Galliano. Er ist nicht der erste: Die Wiederkehr des Jazz in die zunehmend einfallslose Popbranche wurde schon oft beschworen - zuletzt Mitte der achtziger Jahre, als britische Bands wie Working Week und Style Council Jazz und Soul zusammenzwingen wollten und damit auch in der Hitparade Erfolg hatten. Doch die Ehe zwischen Jazz und Pop hielt nur einen Sommer lang.

Diesmal soll es möglichst für immer sein. Die jüngsten Jazzrevolutionäre wollen nicht unbedingt in die Hitparade, vielmehr möchten sie die Diskotheken erobern. Dazu kombinieren die Helden der Szene, etwa Massive aus Bristol oder die Young Disciples aus London, harten Tanzbeat mit schrägen Saxophoneinlagen, den Sprechgesang der Rapper mit den Melodietrümmern des Bebop.

Quincy Jones, der Pate der schwarzen Popmusik, hat die Ähnlichkeit zwischen klassischem Jazz und der zeitgenössischen Musik der Gettos schon vor Jahren erläutert: »Hip Hop und Bebop, beide mußten ihre eigene Sprache entwickeln. Beide sagen im Prinzip: Wenn ihr uns nicht in eure Kultur aufnehmt, starten wir eben unsere eigene.«

Inzwischen haben die Hip-Hop-Bopper losgelegt. Das kanadische Duo Dream Warriors landete mit dem Reinlichkeitsappell »Wash Your Face In My Sink« einen Hit, die beiden Kameraden von Gang Starr brachten es mit einem Filmmusikbeitrag für Spike Lees »Mo' Better Blues« zu Ruhm und Geld.

Zum »Megatrend« (Spex) aber wurde die neue (Kon-)Fusion in Großbritannien ausgerufen. Gilles Peterson, heute 26 Jahre alt, proklamierte bereits 1988 den »Acid Jazz«. Weil der Name dreist dem Erkennungsschlagwort der gerade aktuellen Tanzmode abgekupfert war, wurden die Musikjournalisten neugierig. Später gab Peterson zu Protokoll, der ganze Trubel sei aus einem Partywitz entstanden: »Was Acid Jazz sein soll, weiß ich selbst nicht.«

Derlei Definitionsnöte plagen Peterson zwar bis heute, trotzdem konnte er für seine Mix-Idee ein festes Klublokal ("Dingwalls") und einen mächtigen Geldgeber finden: Petersons »Talkin' Loud«-Label wird mittlerweile vom Plattenmulti Polydor vermarktet, der eine erste CD mit Werken der »Talkin' Loud«-Künstler nun im Rahmen einer »Jazz Edition« auf den deutschen Markt gebracht hat. Noch suchen die Popmanager nach einem griffigen Namen für die Bewegung - »diese Philosophie läßt sich nicht einfach festnageln«, heißt es gewunden bei Polydor.

Dem Musiker Rob Galliano geht der Kategorisierungswahn stark auf die Nerven. »Wir verkaufen schließlich keine Ideologie. Wir machen einfach unsere Musik.« Galliano, ein bleicher, ernster Mensch, zupft bei solchen Worten seinen Kinnbart und sinkt in sich zusammen. Er will seine Auftritte am Mikrofon weniger als musikalische Höchstleistung gewürdigt wissen, eher als poetisches Gesamtkunstwerk. Galliano ist wie viele seiner britischen Mitstreiter kein muskelbepackter Getto-Revolutionär, sondern ein intellektueller Rebell.

Das merkt man auch seinen Songs an. Zu genialisch zusammengetüftelten Versatzstücken aus Soul- und Reggae-Standards skandiert Galliano lyrische Texte; von den Alltagsnöten des Künstlers ist darin die Rede und vom ewigen Stillstand. »Nothing Has Changed« heißt Gallianos bester Song, und der Wunsch, daß seine Welt unverändert bleiben soll, entspringt Gallianos Empfindsamkeit: »Manchmal bin ich selbst ganz verwirrt von so vielen komplizierten Fragen.« Wenn die Verwirrung zu groß wird, springt ihm sein Begleiter bei, der schwarze Diskjockey Norman Jay. »Jazz ist keine Musikrichtung«, sagt Jay dann mit bedeutungsvoller Stimme, »Jazz ist eine Lebenshaltung.« Das hätten auch die alten Meister unterschrieben. o

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