Rezepte vom Spielmeister
Das Thema des Wochenendseminars heißt »Neues Lernen -- Einübung in Selbstvertrauen und Kontaktfähigkeit«. Die Teilnehmer sehen sich freitags beim Abendessen zum erstenmal. Es gibt eine gemischte Wurstplatte, Geflügelsalat, Schnittkäse, Butter-Rosetten und zwei Sorten Brot. Der Augenblick, in dem jemand sagt: »Das ist aber liebevoll angerichtet«, und ein anderer fortfährt: »Ja, das sieht sehr appetitlich aus«, überschneidet sich fast mit meiner Gewißheit, solche Huldigungen zu hören.
Alle teilen dieses Lob, was als die erste nachweisbar gemeinsame Empfindung an unserem Tisch angesehen werden kann. Mehrere Mädchen schenken Tee aus, jeweils schwarzen oder roten. Der rote ist Malventee; er gilt, den Schlaf betreffend, als ungefährlich. Ich registriere, wer roten trinkt.
Obwohl ich von einer bestimmten Person nichts kenne außer ihrer Erscheinung und die Tatsache, daß sie um 18.30 Uhr ein schonendes Warmgetränk einem nervlich antreibenden vorzieht, habe ich sie sortiert. Vielleicht handelt es sich schon um ein Vorurteil.
Die Teilnehmerliste führt außer den Namen und Adressen auch die Berufe an, was eine üble Verführung ist, für flüchtige, zwischenmenschliche Eindrücke nach passenden beruflichen Kulissen zu suchen. Eine Frau begleitet jede Aussage über sich selbst mit knetenden, töpfernden Fingerbewegungen. Wendet sie sich inhaltlich von ihrer Person ab, scheinen ihre Hände eine bauchige Vase zu streicheln. Nach der Begegnung mit ihr gehe ich die Liste nach pädagogischen Berufen (weiblich) ab und belaste erst mal alle. Ich versuche, den unbebilderten Steckbrief mit Auffälligkeiten zu bebildern.
Teilnehmer, die das von der Seminarleitung zugedachte Namensschild an die Brust geheftet haben, verkürzen die Mutmaßungen.
Nach dem Abendessen versammeln wir uns in einem ansteigenden, dreiviertelrunden Raum mit künstlerisch gestalteter Stirnseite. Weil dieses Seminar auch »Hilfen zu sich erweiternder und vertiefender Erlebnisfähigkeit« anbietet, betrachte ich die Schmuckwand nicht arglos.
Unter dem Kunstwerk sitzt der Psychologie-Professor, ein farblich exponiert gekleideter Mittfünfziger: Er trägt hellblaue Jeans, Hemd und Strümpfe orange. Lachend gleicht er Herbert Wehner. Er schiebt die offenen Lippen aus der Gesichtsmitte hin zum linken Ohr, verliert dadurch den Rahmungseffekt der Zähne und zeigt ein schiefes Loch.
Wir haben uns im Saal verteilt. Etwa die Hälfte der Teilnehmer reiht sich mit Ellbogenkontakt auf den unteren Bänken nahe an der Feuerstelle, die in diesem Fall der Psychologe ist. Ein Drittel sitzt jeweils auf Nachbarschaft mit nur einer Person. Der Rest hat sich so sehr vereinzelt, daß die Gemeinde, handelte es sich bei diesen Teilnehmern um ein Gehöft, ihren Briefträger mit einem Fahrrad ausstatten müßte.
Ich setze mich zuerst auch ab und maße mir Deutungen über die Placierungsmanöver der anderen an. Auf den Außenposten glaube ich weniger scheue als raritätsbewußte Solisten zu erkennen, sich selber aufsockelnde Charaktere, die entdeckt und gewählt werden möchten. Ich verlasse deshalb meinen isolierten Platz.
Der Professor erklärt das erste Spiel. Wir sollen auf Personen unserer Wahl zugehen und eine sechsköpfige Gruppe bilden. Personen, die mich deutlich anziehen, meide ich wie früher bei Damenwahl. Zumindest drossele ich die Offensive und rekrutiere die Gefährten für dieses Spiel in der engsten Nachbarschaft.
Kaum sind wir komplett, haben wir auch schon einen Führer. Er scheint »gruppendynamisch« erfahren zu sein. Und ich unterstelle ihm, daß er jede erreichbare Lichtung anfährt, auf der ein spontaner Reigen getanzt wird. Dabei langweilen ihn die »Prozesse« eher, die der Reigen »freisetzt«. Ihm geht es mehr um neue Spielregeln für seelisch lockernde Tänze, um die Beipackzettel der psychologischen Anwendung.
Die Gruppenmitglieder sollen eine spannende Geschichte erzählen, danach, sich mit den Augen fassend, ihrem Gegenüber die Hobbys auf den Kopf zusagen. (Ja, »Hobbys« hat der Professor gesagt.) Ausufernde, abweichende, die Tagesordnung verlassende Gespräche strafft unser Anführer. Er ist mit einem leberkranken Weinkenner vergleichbar. der, weil er den Rausch nicht riskieren darf, nur noch lexikalisch tankt.
Wir sollen einen aus der Gruppe entlassen. Ich denke an den Dynamiker, sage es aber nicht. Dieser schlägt sich aber schon selber vor. Ich unterstelle ihm, daß er uns weniger das Kreuz der Entscheidung abnehmen als vielmehr auf einer neuen Wiese grasen, führen. straffen möchte. Schließlich bleibt er.
Wir einigen uns, das heißt, unser Dirigent einigt uns, und schicken eine Frau weg. Während der Stunde, die unsere Gruppe besteht, haben wir von dieser Frau erfahren, daß sie ungewöhnlich schüchtern sei. Der Pfarrer zu Hause. sagt sie, habe ihr die Broschüre von diesem Kontakt-Seminar zugesteckt. Unser Anführer nimmt ihre Schilderung als therapeutischen Aufhänger, sie aus dem Nest zu stoßen, ihr mal ein bißchen Wind von vorn zu verpassen.
Sie hat sich einer anderen Gruppe zu stellen. Statt ihrer kommt ein Freiwilliger zu uns. Er zieht die Teilnehmerliste aus der Jacke, sagt: »Ich bin der da«, und wir lesen, daß er Diplom-Physiker ist. Obwohl ihm die Zutaten eines Saalfüllers nicht gegeben scheinen, wirkt seine Schüchternheit. die er uns als Motiv seines Wanderns angibt, auf mich etwas schelmisch.
Nach kurzer Zeit dürfen die Fremdlinge wieder umkehren. Ihrer Stammgruppe sollen sie erzählen, wie"s draußen war und ob es schön ist, wieder daheim zu sein.
Während dieser Wärme-Übungen gibt der Psychologie-Professor überall mal ein stummes Gastspiel. Plötzlich und leise wie auf Strümpfen ist er da, kniet auf der Polsterbank, die Arme auf die Rückenlehne gestützt, und horcht in die nächst höher gelegene Trasse der weinbergartigen Sitzlandschaft. Seine Anwesenheit gilt als »verstärkend«, auch wenn aus seinem Lächeln höchstens die Morsezeichen für Zustimmung herauszulesen sind.
Zum Schluß des Abends sollen wir unser Gruppengefühl demonstrieren. In manchen Gruppen wird laut gelacht, was mir wie die Abschirmsignale einer satten Clique in die Ohren geht. Damit hat sich wahrscheinlich die Falltür dieser psychologischen Aufführung unter mir schon geöffnet: Ich unterscheide zwischen uns und den anderen.
Sicher handelt es sieh um Bindung, zumindest um eine kurzlebige Zugehörigkeit, wie sie sich bei ausgelosten Mannschaften für ein Ballspiel einstellt. Die Mittel, solche Regungen darzustellen, stehen uns frei.
Unser Anführer will da symbolisch ran. Wir könnten, sagt er, auseinanderlaufen und in aller Deutlichkeit wieder zusammenfinden. Dieser kreativen Lösung sperre ich mich. Einmal aus Geniertheit. Aber auch aus Opposition gegen die gestalterischen Rezepte, dic unser Spielmeister gesammelt zu haben scheint. Wir teilen unser Gemeinschaftsgefühl dann nur mündlich mit.
Am folgenden Morgen spaziere ich früh durch den Schloßpark der Akademie. Er liegt direkt am Starnberger See. Die herbstlichen, nach erdkundlicher Vielfalt ausgesuchten Bäume. der Dunst über dem Wasser und die Berge, die in mittlerer Höhe eine Nebel-Banderole tragen, bringen mich in den Zustand einer Lachgasnarkose: äußerst schön, aber als Wirklichkeit nicht ernst zu nehmen.
»Der Mensch«, hat der Psychologie-Professor gesagt, und ich habe das als unverzichtbaren Punkt notiert, »muß sich wieder sich selbst, seiner Umgebung und dem Kosmos integrieren.«
Dieser Aussage stimme ich zu, wenn ich auch nur imstande bin, ihr ahnend zu folgen. Umsetzen kann ich sie jedoch nur ganz platt: In einer Souterrain-Wohnung, denke ich, ist der Kosmos ferner als auf einer ins Wasser vorgebauten Terrasse am See.
Wer bis zur Taille eingekellert lebt, stelle ich mir vor, sollte sieh keinesfalls seiner Umgebung integrieren. Schadlos und ohne Chantré schaffen das nur Leute, die in die Ästhetik »urbaner Strukturen« verknallt sind und sieh durch das Photographieren von Millitonnen-Sgraffiti dann eine Villa, verdienen.
Der Psychologie-Professor spricht von der »Psychosomatik der Freude«. In einem Krankenzimmer, sagt er, liegen zwei Menschen mit der gleichen Krankheit. Der positiv eingestellte der beiden heile schneller. Möglich. Möglich auch, daß der Positive sieh aufs Heimkommen freut und der Durchhängende keinen Grund dazu hat. Beim negativen Menschen, sagt der Professor ganz allgemein, verkümmerten auch die Wahrnehmungen.
Zu dieser Behauptung fallen mir massenweise Gegenbeispiele ein. Eines davon. Auf einem Touristen-Fährboot durch Venedig sagt eine Frau: »Das Wasser stinkt.« Durch die Bemerkung wird die Erau zum Spielverderber für die anderen, die das nicht riechen wollen für ihr Geld. Ich vermute, es sind die Wahrnehmungen der Spielverderber. die der Professor verkümmert findet.
Um acht Uhr gibt es eine kurze Andacht in der Hauskapelle. Sie zu besuchen bleibt den Seminar-Teilnehmern überlassen. Daß der Geistliche vor den eisblumenhaft-explodierenden Blattgoldsternen des Barockaltars ein großkariertes Sakko trägt, kommt mir nicht ungelegen. Das Sakko bringt ein bißchen Gemeinheit in den harmonischen Ausnahmezustand.
Nach dem Frühstück versammeln wir uns zu einem kleinen Psychologie-Seminar. Der Professor räumt ein, daß »jeder sein kleines Neurösli« habe.
Unter anderem seien Neurotiker unfähig zur Entspannung. Ich erinnere mich, am letzten Abend bei dem »Air« genannten Stück von Johann Sebastian Bach nicht entspannt zu haben. Wir lagen alle flach. Die Männerstimme auf der Schallplatte wollte uns auf ein bewegtes Floß versetzen. Das Floß schaukelte mich nicht einen Moment lang.
Bei den pantomimischen Übungen, weiß ich noch, war ich froh, nur über ein fiktiv geschlagenes Seil springen zu müssen. Das war eine glatte Sache im Vergleich zu einem Freudentanz, zum lebhaften Dirigieren eines Orchesters. zur Darstellung eines Nachtgespenstes oder eines Pianisten. Auf dem Klavierhocker hatte der Diplom-Physiker Platz genommen. Er ritt wie ein Teufel darauf und schlug das abwesende Klavier.
Die Erkennungsmerkmale ausgewachsener Neurosen schreiben wir mit. Eine Karriere-Neurose äußert sich auch darin, daß Liebe und Sexualität an festgelegten Plätzen zu festgelegter Zeit stattfinden, Ich denke an ein Ehepaar mit zwei schulpflichtigen Kindern in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Wo soll, außer in den Ehebetten und frühestens am späten Abend, die Sexualität stattfinden?
Neurotisch ist, dessen Gewohnheiten zu Grundbedürfnissen werden. Hinter mir sitzt die Frau, die, spricht sie von sich, die knetenden und töpfernden Fingerbewegungen macht. Dem Professor beipflichtend, sagt sie »genau!« und streichelt die imaginäre bauchige Vase.
Simultan spricht sie die Titel der psychologischen Bücher mit, aus denen der Professor immer mal zitiert. Ich bitte sie, das weniger laut zu tun. Darauf sagt sie: »Entschuldigung, das passiert mir immer wieder. Das Reden ist mein kritischer Punkt.« Darin sei sie ein gebranntes Kind. Jetzt stört ihre lange Erklärung die anderen. Einer macht »pst«.
Ich habe ein unbrennbares Kind kennengelernt.