Rhapsodie in Grün
Jedes Kind will ein Indianer werden. Der kleine Tommy, der sich, einem Ameisenpfad folgend, ein paar Schritte weit in den Urwald hineingewagt hat, erschrickt nicht vor den buntbemalten nackten Wilden, die ihn plötzlich und lautlos umstellen; er schreit nicht um Hilfe, antwortet nicht, obwohl die Mutter ihn ganz nah vom Waldrand her zum Picknick ruft. Und die Indianer sind von dem blonden, blauäugigen Kind so entzückt, daß sie es »retten« wollen, »retten« aus der Welt des Todes. Denn was die Menschen da draußen treiben, die den Urwald mit Reißketten und Bulldozern zu Wüste gemacht haben, ist in den Augen der Indianer Arbeit am eigenen Tod: »Sie ziehen der Erde die Haut ab, wie soll die Erde da noch atmen können?«
Es soll manchmal vorkommen, in den tiefen Regenwäldern Lateinamerikas, daß Indianer kleine Kinder entführen, wenn auch wohl nicht aus so poetischen Gründen, sondern ganz praktisch als Ersatz für ein gestorbenes.
Der Film »Der Smaragdwald« beruft sich auf einen authentischen Fall aus Peru: Der Vater dieses geraubten Jungen gab nicht auf, drang auf Expeditionen Jahr um Jahr tiefer in den Dschungel vor, wurde im Fortgang seiner fanatischen Suche selbst zum Indianerexperten und fand den verlorenen Sohn nach zehn Jahren tatsächlich wieder. Doch da er sah, daß der inzwischen Herangewachsene glücklich war, Steinzeitmensch unter Steinzeitmenschen, ließ er ihn dort und kehrte getröstet allein ins 20. Jahrhundert zurück.
In dieser Anekdote einen Filmstoff wittern konnte wohl nur ein so querköpfiger Kinoabenteurer und Mythomane wie der Engländer John Boorman - die »New York Times« vergleicht ihn mit Werner Herzog, nur ist Boorman, anders als Herzog, nicht nur ein gläubig Naiver, sondern zugleich ein wirkungsbewußter Show-Stratege. Boorman hat es geschafft - den Erfolg seines düsteren Märchens »Zardoz« und seines König-Arthur-Epos »Excalibur« im Rücken -, in Hollywood 13 Millionen Dollar für einen Film lockerzumachen, der unter riskanten Bedingungen in den Amazonaswäldern Nordbrasiliens gedreht wurde, an Schauwerten hauptsächlich Dschungel und nackte Wilde zu bieten hat und großenteils in einer Sprache gesprochen ist, bei der es sich um den Indianerdialekt Tupi handeln soll.
Boorman hat sich viel Mühe gegeben, um mit Ethnologenhilfe seiner aus »zivilisierten« Indianern rekrutierten Darstellerschar eine gewisse »Authentizität« beizubringen. Natürlich bleibt das, bei Schamanenzauber und rituellem Getanze, die schöne Scheinauthentizität einer Folklore-Show - doch Boorman will ja, andererseits, überhaupt nicht jenen »authentischen« Fall rekonstruieren, sondern ein indianisches Heldenlied anstimmen; und so verkörpert sein friedfertig-glückseliges Dschungelvölkchen das europäische Wunschbild der »guten Wilden« so hold und ungetrübt,
wie es das lange nicht mehr gegeben hat.
Wäre dieser Begriff nicht schon besetzt, so könnte der Film mit aller Feierlichkeit »Greenpeace« heißen. Tommy, nun siebzehnjährig, begibt sich zum Abschluß der Initiationsriten, die ihn vollends zum Indianer gemacht haben, auf die »Große Suche« nach einem magischen Ort, den er im Trance-Traum fliegend erschaut hat. Am Ziel aber, in den schäumenden Wassern eines Katarakts, findet er seinen Vater: Der, von Beruf Ingenieur bei einem riesigen Amazonas-Staudammbau, war seinerseits quasi am Ziel seiner zehnjährigen »Großen Suche«, als er einem blutrünstigen Nachbar-Indianerstamm in die Hände fiel - und so kommt der Sohn, den er retten wollte, nun eben recht, um den Vater aus Todesnot zu befreien.
So viel sinnfällige Macht des Schicksals, vor so grandioser Naturkulisse und mit so feierlicher Indiomusik verklärt: Man will seinen Augen nicht trauen. Kleinmütig ist Boorman wahrhaft nicht, doch die pathetische Naivität seiner Geschichte wird von der dunklen Pracht der Bilder aufgefangen, in denen er und sein Kameramann Philippe Rousselot sie erzählen: Was so schön ist, braucht doch nicht auch noch wahr zu sein.
Wie sehr für Boorman im zähen Ringen um dieses Projekt das Vater-Sohn-Drama zur ganz eigenen Sache geworden ist, zeigt sich daran, daß er schließlich den eigenen Sohn Charley aufs Spiel gesetzt hat. Der stellt, mit blonder, blauäugiger Anmut, den jungen Helden dar, und während nun Tommy nach guter Steinzeitart heiratet - man verpaßt der Braut mit einer Keule eins über den Schädel und schleppt die Selig-Ohnmächtige dann zur Hochzeitsnacht in den Dschungel -, hat der Vater (Powers Boothe) seine »Initiation« nachzuholen: Der Stammesschamane schickt ihn mit einem kräftigen Drogenstoß auf den Trance-Trip, der ihm die Sinne öffnet für das tiefere Glück des Indianerseins.
Im Schlußdrittel des Films - im blutigen Kampf der guten Indianer gegen den bösartigen, schon durch die weiße Zivilisation korrumpierten Nachbarstamm - gewinnt der scharfe Actionkino-Profi Boorman einigen Vorsprung über den Visionär, aber am Ende siegt doch die Sehnsucht nach Mythen. Der Vater selbst zerstört sein falsches Lebenswerk, um das richtige Leben des Sohnes zu retten, das heißt, er hilft, zum Öko-Partisanen geläutert, mit ein paar Stangen Dynamit nach - doch in Wahrheit sind es wohl die indianischen Flußgötter, die, unterstützt durch den Gesang sämtlicher Frösche des Amazonas, den gigantischen Staudamm zum Bersten bringen: Triumph der heilen Wildnis über die tödliche Technologie.
Boorman hat über sein »Smaragdwald«-Abenteuer ein Buch geschrieben, und er hat es dem alten Schamanen gewidmet, bei dem er auf einer vorbereitenden Amazonas-Reise ein paar Tage zu Gast war. Der habe ihn einmal gefragt, erzählt Boorman, was er da draußen in der anderen Welt eigentlich mache, und nach langwierigen Erklärungen über das Herstellen sinnvoller Träume habe der weise Mann schließlich begriffen: »Ach so, dann haben wir ja denselben Beruf.«
Dieser naive Irrtum und der naive Stolz, mit dem Boorman ihn sich zu eigen macht, erklären etwas von der paradoxen Wirkung seines rauschhaftschwärmerischen Heldenlieds in Grün: Man muß ihm nicht glauben, aber man glaubt ihm, daß er daran glaubt.