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FERNSEHEN / Telemann RICHTFEST

aus DER SPIEGEL 30/1963

Wie war das doch all die Jahre mißlich mit der bundesdeutschen Television!

Gut, jede Länderanstalt hatte ihr Rundfunkgesetz, worin die Grenzen elektronischen Tuns und Lassens notdürftig abgesteckt waren. Man wußte allerorts: Vor 21 Uhr keine Dreiecks-Komödie, am Bußtag keine Kessler-Zwillinge und gar niemals, nicht einmal am Vatertag, einen Entkleidungstanz.

Aber wer Augen hatte zu sehen, der sah in den TV-Funkhäusern dennoch Direktorenmienen, aus denen die Existenzangst und die Unentschlossenheit sprachen; sah kopfhängerische Abteilungsleiter, sorgenzerquälte Regisseure, ratlos am Kugelschreiber knabbernde Autoren.

Sie alle waren beauftragt, Fernsehsendungen hervorzubringen. Doch niemand hatte ihnen mitgeteilt, was für welche.

Da endlich, am 11. Juli 1963, machte der ZDF-Fernsehrat der öffentlich-rechtlichen Unschlüssigkeit ein Ende und gab 25 »Richtlinien für die Sendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens« aus.

Schon der unmißverständliche Tagesbefehlston des Dokuments ("Es sind Sendungen zu veranstalten, die ...") brachte langersehnte Klarheit. Nun weiß man nicht nur in Mainz, sondern überall, wo Sendetürme ragen, was eines rechten deutschen TV-Programms Pflicht und Schuldigkeit ist.

Es hat zu dienen. Und zwar dem Frieden unter den Völkern, der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit und der Erhaltung der Freiheit Berlins.

Es hat zu fördern. Und zwar die Bemühungen um die Einigung Europas, das Verstehen zwischen den verschiedenen politischen, sozialen und landschaftlichen Gruppierungen, wie auch zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften, die gegenseitige Achtung zwischen allen Menschen und Gruppen, die Verantwortungsfähigkeit und die Verantwortungswilligkeit, die Toleranz, die Anerkennung der Rechtsordnung und die Bereitschaft zum Dienst am Gemeinwohl.

Es hat überzeugend zu vertreten: die Grundsätze des demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Es hat zu stärken: die politische Urteilsfähigkeit. Es hat zu schärfen: das Gewissen.

Es hat zu achten, zu wahren, zu ermöglichen, zu unterrichten, zu berücksichtigen.

Außerdem, versteht sich, soll das Programm umfassend informieren, anregend unterhalten, zur Bildung beitragen und zu Gespräch und Eigentätigkeit Anreiz bieten.

Und dies alles für 1,10 Mark je Monat und Mattscheibe.

Mag die eine oder andere Richtlinie ZDF-Subalternen ein wenig

vage erscheinen - in drei Punkten hat der Fernsehrat auch die Exkursion ins Detail nicht gescheut.

Punkt 1, Ehe und Familie: Sie dürfen als Institution nicht in Frage gestellt, herabgewürdigt oder verhöhnt werden. Analytische und kritische Auseinandersetzungen mit Ehe- und Familienproblemen sind »erlaubt«, wenn sie »nicht im Übermaß gesendet« werden.

Punkt 2, Verpflichtung zur Überparteilichkeit: Wenn in Einzelsendungen zu strittigen Fragen eine bestimmte Meinung vertreten wird, so ist in ihnen möglichst auf die ergänzende(n) Sendung(en) hinzuweisen.«

Punkt 3, Darstellung von Laster und Gewalt: Wiewohl »ethische Grundforderungen möglichst am Beispiel aufgezeigt« werden sollen, dürfen Verstöße gegen das Ethos nicht den Eindruck erwecken, daß sie »eine über das Maß der Wirklichkeit hinausgehende Verbreitung haben«. Und: »Hinweise auf Strafe, Reue oder Sühne sollen in der Darstellung nicht fehlen.«

Auf denn, zum fröhlichen Fernsehschaffen, Ihr, die Ihr bislang geglaubt habt, so ein TV-Netzwerk sei nur ein Transportmittel für aktuellen Massenjubel, antiquarische Spielfilme, Quiz-Gequassel, Provinztheatralik, Schlagerfestivals oder Volkshochschulweisheiten !

Lernt schleunigst um, Ihr habt den Weltfrieden herbeizufunken, Walter Ulbricht zu entthronen, Europa und die Kirchen zu einen und unser aller Gewissen so scharf zu schleißen, daß wir damit, wenn wir wollten, CSU-Vorsitzende werden könnten.

Gralsritter seid ihr fortan. Und Ihr, Fernsehspiel-Autoren, die Ihr Euch vordem der Wahrheit verpflichtet fühltet: Schreibt richtlinientreu! Macht, daß das Laster nicht auch noch im Fernsehen sein Haupt erhebe. Zeigt die außereheliche Sünde des Fleisches am Beispiel, jedoch nicht im Übermaß, vielmehr in einer »über das Maß der Wirklichkeit nicht hinausreichenden« Weise, und laßt ihr, statt süßer Filmverträge und Memoirenabdrucke, bittere Tränen der Reue folgen!

Wie sagte der stellvertretende Vorsitzende des Mainzer Fernsehrats, Fuchs, nachdem das Gremium der Sechsundsechzig die »Richtlinien« bei sechs Gegenstimmen und einer Enthaltung gebilligt hatte? Man habe die »Eigenverantwortlichkeit des Intendanten und seiner Mitarbeiter nicht gängeln« wollen.

Wer in aller Bundesrepublik wäre auf eine so absurde Idee gekommen!

Merke: »Gängeln - ein kleines Kind gehen lassen; liebevoll verziehen; in schaukelnde Bewegung versetzen« (Pekrun, »Das Deutsche Wort").

telemann
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