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POPMUSIK Rock mit Seele

Nach glanzvollem Comeback mit einem Platten-Bestseller geht jetzt die Rock- und Soulsängerin Tina Turner wieder auf Tournee. *
aus DER SPIEGEL 9/1985

Irdische Metaphern versagen, wenn von Tina Turner die Rede ist. So konnte die US-Zeitschrift »Record« in der Tatsache, daß Gott dieses Weib erschuf, kaum eine andere Absicht erkennen als die, »den anderen Frauen vorzuführen, wie man auf hohen Hacken tanzt«.

Seltsam übersinnliche Fähigkeiten dichtete die amerikanische Musik-Historikerin Gerri Hirshey der »Rock-Göttin« zu, als sie ihre Bühnenerscheinung beobachtete: »Sie versengte die Wimpern des Publikums von Las Vegas bis Manhattan mit ihren Lederanzügen und einem Paar Oberschenkel, die ein Autochassis zermalmen könnten.«

Auch als das britische Magazin »The Face« den Gesangsstil von Tina Turner beschrieb, kamen menschliche Maßstäbe abhanden: »Ihre bevorzugte Technik« sei es, »sich mit mehreren Megatonnen Energie in einen Song zu stürzen«.

Weil offenbar einer 45jährigen Frau kaum zugetraut wird, was die schwarze Rock- und Soulsängerin Tina Turner immer noch, und zur Zeit erfolgreicher denn je, auf die makellosen Beine stellt, werden ihr schier übermenschliche Kräfte zugeschrieben.

Denn Tina Turner feiert gegenwärtig ein erstaunliches Comeback. Mitte der siebziger Jahre verschwand der Star mit der gewaltigen Reibeisenstimme und der lasziven Bühnen-Erotik fast völlig aus dem Blick der internationalen Öffentlichkeit. Im vergangenen Jahr trat sie erneut an mit der LP »Private Dancer«, und sie wurde mit rund fünf Millionen verkaufter Exemplare zum Weltbestseller.

In schwarzem Leder, mit wilder Punk-Perücke und ungebrochenem Temperament startete die Turner in der vergangenen Woche in Helsinki eine neue Europa-Tournee; von Donnerstag an wird sie auch wieder über deutsche Bühnen fegen.

Obwohl sie heute ausschließlich die Berufsbezeichnung Rock-Sängerin für sich gelten lassen will ("Ich bin die erste schwarze Rockfrau, und die einzige"), verdankt Tina Turner ihren legendären Ruf vor allem der schwarzen Musiktradition des Soul und Rhythm & Blues.

Sie kam, als Anna Mae Bullock, im US-Süden auf die Welt und wuchs im Tennessee-Städtchen Nutbush auf, dem sie später, im Song »Nutbush City Limits«, ein Denkmal setzte. Ihr Vater war Vorarbeiter auf einer Baumwollplantage, und sie selbst ackerte als junges Mädchen auf den Feldern. Früh begann sie, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, zu singen und zu tanzen.

Als sich die Eltern trennten, ging sie mit der Mutter nach St. Louis. Noch als Teenager frequentierte sie die schärfsten Klubs der Stadt und war meist dort zu finden, wo der heißeste Rhythm & Blues geboten wurde. Den spielten damals der Gitarrist Ike Turner und seine »Kings of Rhythm«. Turner war der Star der Szene: Er hatte in der R-&-B-Metropole Memphis gearbeitet und Platten mit Blues-Heroen wie B. B. King und Howlin' Wolf produziert.

Anna Mae stieg als Sängerin ein bei Turner, der sie später heiratete, und als »Ike and Tina Turner Revue« begeisterten sie den schwarzen Süden mit einer entfesselten Show, einer furiosen Mischung aus anzüglich erotischer Choreographie, schneidendem Bläserblech, treibendem Rhythm & Blues und dem Fieber sehr erdverbundener Gospel-Rituale.

Und in diesem brodelnd swingenden Getöse behauptete sich die Urgewalt von Tinas schartiger Altstimme. Aber sie sang nicht nur. In ihren aufreizend winzigen Show-Fummeln ließ sie pausenlos die Beine fliegen und vollführte Spielereien mit dem Mikrophon wie in einem Striplokal.

Von dieser exzessiven Darbietung waren die Rolling Stones derart angetan, daß sie Ike und Tina Turner 1969 als Vorprogramm mit auf US-Tournee nahmen und ihnen damit auch den Durchbruch beim weißen Publikum verschafften. Mick Jagger nutzte die Gelegenheit, Tina Turners Bühnen-Artistik genau zu studieren und dann auch in seinem Tanzstil nachzuempfinden.

In England, wo schwarze Show-Künste längst in hohem Ansehen standen, war Tina Turner schon 1966 mit dem Song »River Deep, Mountain High« erfolgreich gewesen.

Während umjubelter Welt-Tourneen und der Produktion einiger großer Platten-Hits verkam die Ehe Ikes und Tinas immer mehr zum Schlachtfeld. Ike Turner behandelte die Gattin wie ein Tyrann. Er prügelte und überwachte sie unbarmherzig, und 1976 sprang sie ab vom Karussell. Sie rettete sich zu einer Freundin nach Los Angeles, und nach einem Jahr Pause fing sie wieder an zu tingeln. Ohne Plattenvertrag und von den Medien unbemerkt, schuftete sie neun bis zehn Monate pro Jahr auf kleinen Bühnen in Europa und Amerika. Sie tobte mit ihrer erotischen Bühnenshow über Las-Vegas-Bühnen oder garnierte damit Betriebsversammlungen.

»Wir hatten volle Häuser, und die Leute standen Schlange«, blickt Tina Turner auf die harte Zeit zurück. Aber für die Plattenindustrie schien sie nicht mehr zu existieren.

Doch viele Musiker, vor allem in Europa, verehrten die Volldampf-Entertainerin noch immer. Und als sie vor zwei Jahren von den Mitgliedern der englischen Synthipop-Band »Heaven 17« ins Studio geholt wurde und den Song »Ball Of Confusion« von den Temptations aufnahm, war dies der erste Schritt in die zweite Karriere.

Als darauf der ebenfalls in England produzierte Song »Let's Stay Together«, ein Stück des Soulstars Al Green, überraschend ein Bestseller wurde, lieferten noch andere Briten Kompositionen und Arrangements für eine ganze LP nach, und Tina Turner stand plötzlich wieder ganz oben - attraktiv wie immer, um kein Jota leiser und mit ihrer ganzen Seele in der Stimme.

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