Rolf Becker über F. C. Delius: »Ein Held der inneren Sicherheit«
Der Präsident des Arbeitgeberverbandes ist in Köln von Terroristen entführt, seine Leibwächter sind dabei erschossen worden. Die Polizei sucht sein Versteck, die Regierung verhängt eine Nachrichtensperre.
Der Entführte, den das Fernsehen »schon zum Denkmal erhoben« hat, »bevor er umgebracht war«, ist einst Nazi und SS-Mann gewesen, hat der deutschen Industrie in besetzten Gebieten gedient, saß nach 1945 in alliierter Internierung und ist schließlich, erster Schritt seines Aufstiegs zum demokratischen Würdenträger, »einwandfrei entnazifiziert« worden.
Diese repräsentative Führungsfigur der Bundesrepublik, dieser gekidnappte Oberarbeitgeber, »der von seinen Feinden noch am Leben gehalten und von seinen Freunden schon zum Tod verurteilt war, was keiner wissen durfte und jeder ahnte« -- er heißt nicht Hanns Martin Schleyer, sondern Alfred Büttinger.
Der von ihm geleitete Verband heißt auch nicht BDA, nicht BDI, noch heißen die Mitglieder dieses Verbandes Arbeitgeber oder Industrielle oder Unternehmer -- Alfred Büttinger, Bild von einem Boß, so souverän wie jovial, ist »Präsident des Verbandes der Menschenführer«.
Büttinger, der öffentlich »nie ein Wort gegen Arbeiter ... aber immer gegen Funktionäre« zu äußern pflegt, ist eine Romanfigur, und »Ereignisse der Zeitgeschichte waren ein Ausgangspunkt, sind jedoch nicht Gegenstand dieses Romans«, vielmehr sind dessen »Personen und Institutionen die Produkte der poetischen Phantasie des Verfassers«.
Der Verfasser, der dies seinem Roman »Ein Held der inneren Sicherheit« -- sicherheitshalber? -- vorangesetzt hat, ist der 37jährige Friedrich Christian (früher: »F. C.") Delius, ein Poet, der sich in einem seiner Gedichte als »freier Mitarbeiter der Klassenkämpfe« vorstellt und nicht zum erstenmal mit Lust und List das literarische »Handwerk des Zersetzens« ausübt.
Die er ironisch in seinem neuen Buch als »Menschenführer« hochtraben läßt, Deutschlands Unternehmer, waren schon immer die Vorzugsopfer seiner vor allem sprachkritischen Destruktionslust. Bisher hatte er sie allerdings zumeist bei ihren richtigen Namen genannt.
1966 machte Delius, bis dahin nur als Lyriker hervorgetreten, in der bei Wagenbach erschienenen Broschüre »Wir Unternehmer« das geschwollene »Originalmarktdeutsch« der Redner eines CDU-Wirtschaftstages durch eine »denkbar ungerechte« Zitatenlese lächerlich. Untertitel der sogenannten Dokumentar-Polemik: »Über Arbeitgeber, Pinscher und das Volksganze«.
Weithin bekannt wurde er 1972 mit der »Dokumentar-Satire« auf »Unsere Siemens-Welt«, bei der er sich parodistisch »in einen Fest-Schriftsteller versetzt« hatte, »der die stolze Geschichte der Firma und ihre gegenwärtigen Aktivitäten im Sinne der Konzernleitung darstellt«.
Die Firma fühlte sich durch diese »Festschrift zum 125jährigen Bestehen des Hauses S.« alles andere als geehrt, durch hinterlistige Delius-Elogen wie etwa, Siemens sei »bei Bedarf« zur Atombombenherstellung fähig und bereit, sogar verleumdet und geschädigt und prozessierte -- nur teilerfolgreich, aber auflagensteigernd -- drei Jahre gegen die »'antikapitalistische' Tendenzschrift«.
1979 wurde der Linksliterat, auch Lektor des Rotbuch-Verlages, dann von dem Kaufhausbesitzer und Steuer-Emigranten Horten verklagt, der sich durch eine Delius-»Moritat auf Helmut Hortens Angst und Ende« (im Lyrikband »Ein Bankier auf der Flucht") beleidigt sah. Gegen ein Hamburger Gerichtsurteil vom Mai letzten Jahres, das zwei Zeilen der Moritat verbietet, hat er inzwischen Revision beim Bundesgerichtshof beantragt.
Solcherart juristische Verwicklungen -- fast immer eher ruhmmehrend als rufschädigend -- mögen Delius zu seinem neuen Werk nicht beschert werden. Diesmal also ist er Ereignisse, Institutionen und Personen der Zeitgeschichte nicht im Klartext angegangen, strebt er überhaupt übers Dokumentarisch-Polemisch-Satirische hinaus.
»Ein Held der inneren Sicherheit«, sein erster Roman, mit dem er bei Rowohlt debütiert, zeichnet, vor dem Hintergrund einer Prominentenentführung a la Schleyer, das Psychogramm eines bundesdeutschen Aufsteigertyps.
Delius' Titel-»Held« ist nicht jener als Geisel gefangene Verbandspräsident Büttinger, sondern dessen ergebener Redenschreiber und »Referent Personalführung« Roland Diehl, der seinen Arbeitgeber zum Beispiel mit schlagkräftig S.184 formulierten Argumenten gegen den »Forderungsterror des Partnervereins«, so nett heißen hier die Gewerkschaften, oder gegen »Ökopessimismus« und »Verschmutzungsphobie« der Leute mit dem »Umwelttick« versorgt.
Dieser von Kollegen auch »Chefdenker« genannte Halbintellektuelle im Dienst der Wirtschaftsmacht, so alt wie sein Autor, sieht sich durch den plötzlichen Ausfall seines Chefs der gewohnten Orientierung beraubt und tief verunsichert. Diehl, abgebrochener Volkswirtschaftsstudent und Ex-Journalist, der frühzeitig gelernt hat, »wie man Überzeugungen leidenschaftlich vertritt, auch wenn man sie nicht hat«, bangt bis zur Hysterie um seine von Büttinger abhängige Position.
Aus der bewußtlosen Angestelltenroutine gerissen, taumelt der »Mann ohne Interessen« außer dem einen, »oben zu bleiben«, durch ein »schweißtreibendes Gedankenfieber« voller Ohnmachtgefühle und Machtphantasien, Verfolgungsängste und Aggressionslüste.
Er würgt an subalterner Sympathie für Büttinger und am klammheimlichen Wunsch, ihn als schon todgeweiht abzuschreiben. Er hat Alpträume, findet auch bei der ohnehin nur mit der Vorsicht eines »sachlichen Menschen« geliebten Hosteß Tina keinen Halt, fühlt sich von Kollegen-Intrigen bedroht, versucht seine existentielle Unruhe in ziellosen Spritztouren mit dem silberblauen BMW-Cabrio, seinem »einzigen Schatz«, auszurasen, plant den Absprung vom Verband, einen Stellungswechsel.
Er halluziniert sich mal als Büttinger-Befreier und Nationalheld, mal als Spitzenkraft auf der anderen Seite: »Du bist nicht mal sicher, ob du das Angebot des Verbandes der Terroristen ausschlagen würdest, mit ihnen Karriere zu machen ... management by adventures, das wär doch nach deinem Geschmack ...«
Am Ende, giftige, wenn auch vorhersehbare Pointe, erweisen sich seine Karriereängste als unbegründet, profitiert er sogar vom Unglück des Chefs: Diehl wird zum Abteilungsleiter befördert, wird »endlich Vorgesetzter«. Seine innere Sicherheit ist restauriert, er tickt wieder richtig.
Roland Diehl, der »verhinderte Amokläufer«, ist eine mit kaltem Spott, aber auch beachtlicher Einfühlung gezeichnete traurig-komische Gestalt, durchaus keine Karikatur. Mit der Geschichte dieses Karrieristen erweist sich ihr Autor nicht gerade als ein neuer Großromancier, aber er zeigt doch, daß er mehr drauf hat als satirische Kleinkunst.
Delius hetzt seinen negativen Helden durch eine mit bösem Blick beobachtete S.185 und schneidigem Strich skizzierte Bundesrepublik aus Beton und Stahl, Markt und Macht, Managerstreß und Angestelltenfrust, PR-Machern und PS-Freaks, Polizisten und Lobbyisten, »Pharmatöchtern« und »Hochpreismietern«, »V-Dateien« und »Edel-Trimm«, Hochhäusern und Steakhäusern, BMW und ARD -- ein Modell Deutschland von eindrucksvoller neurotisierender Unwirtlichkeit.
Dennoch, stärker als der Erzähler ist nach wie vor der Formulierer Delius. Der Erzähler, etwas kurzatmig, kommt manchmal nur auf den Krücken eines abstrakten Kommentierens vom Fleck: »Wenn er weitergedacht hätte, dann hätte er vielleicht gemerkt, auf welchem Tiefpunkt er sich schon bequem eingerichtet hatte ...«
Der Formulierungskünstler, der flotte, gewitzte Texter Delius ist meistens gut in Fahrt. Bei der Schilderung eines Liebeslebens: »Kurze Ausflüge in einen fremden Körper«; bei der Beschreibung eines Freundes: »Ein Kamerad aus besseren Rallyetagen, mit dem man aber mehr konnte als Benzin reden.«
Ganz in seinem vertrauten Element ist Delius, wenn er das Markt- und Machtdeutsch der Verbandsstrategen ironisch imitiert oder parodistisch verfremdet, wenn er dessen Schön- und Verschleierungsrednerei zersetzt, jene Sprachkosmetik von »Menschenführer«, »Partnerverein«, »Grundwerte« bis zur Kenntlichkeit der durch sie überschminkten Interessen entstellt.
Da soll aus dem Schock der Büttinger-Entführung für die Verbandssache Public-Relations-Kapital geschlagen, die öffentliche Empörungs- und Sympathiewelle zu »expansiver Konsolidierung« des Menschenführer-Einflusses genutzt, eine ordnungspolitische »Werte-Offensive« gestartet werden. Die Abteilung, zu deren Chef Roland Diehl am Ende bestellt wird, heißt famos »Abteilung Medien Öffentlichkeit Versachlichung«.
Unsachlich, »denkbar ungerecht« das alles natürlich wieder mal. Dieser Delius ist wie sein Diehl, wenn auch auf etwas andere Art, wahrhaftig »kein Gefühlsheini«. Sein schmissiger kleiner Roman kommt ohne Deutschland-im-Herbst-Sentimentalität und ohne positive, den Leser zur Identifikation anheimelnde Gegenfiguren aus. Schön ungemütlich das alles.
Ganz undokumentarisch-romanhaft ist, übrigens, aber auch dieses Delius-Werk nicht. Seinem Büttinger hat der Autor, so sagt er, durchaus einige verbürgte Äußerungen Hanns Martin Schleyers in den Mund gelegt, neben Sätzen »von anderen solchen Herren«, beispielsweise des denkwürdigen Schleyer-Vorgängers Fritz Berg, und neben »von mir erfundenen«.
Kein Grund zu Klagen.