Rubinstein-Memoiren: »90 Prozent Frauen«
Im ersten Weltkriegsjahr 1914, als die deutschen Truppen in Frankreich einruckten, überfiel in Paris den Pianisten Artur Rubinstein eine »grausige Vision« -- der Alptraum, »daß die Deutschen mich als Spion verhafteten und ihre Folterknechte meine Finger langsam rösteten«.
In »hilfloser Wut« über die Aggressoren und ihren Kaiser Wilhelm II., »den ich kalten Blutes erschossen hätte«, leistete der damals 27jährige Exilpole den Eid: »Nie wieder wirst du in Deutschland spielen.«
»Bis zu dieser Stunde«, rühmt sich Rubinstein jetzt, »habe ich den Schwur gehalten -- unseligerweise sind inzwischen noch zwingendere Gründe dazugekommen.«
Nichts hat den polyglotten Juden, der acht Sprachen (darunter Deutsch) fließend spricht, zum Bruch seines Boykotts bewegen können: weder der Respekt vor dem neuen Deutschland Willy Brandts ("Ein sehr guter Mann") noch Konzertagenten, »die mir Blankoschecks hingelegt haben«, nicht ein Bittbrief des Baritons Dietrich Fischer-Dieskau ("Ihr Kommen wäre großherzigstes Geschenk) und auch nicht der Enthusiasmus seiner deutschen Anhängerschaft ("Acht von zehn Fan-Brief en kommen aus der Bundesrepublik"),
Und wenn sich Rubinstein, 86, im Oktober doch noch einmal offiziell in Deutschland sehen läßt, dann nicht als »der Welt bester Pianist« ("Time"), sondern als Schriftsteller. Er sucht die Frankfurter Buchmesse auf, um für seine Memoiren zu werben.
In fünf Jahren hat der agile Greis 900 Seiten Papier handschriftlich mit Erinnerungen an seine »frühen Jahre« (Untertitel) gefüllt. In dieser Woche erscheint das Buch, das in Amerika seit Wochen bestsellert und dem Autor allein vom »Book of the Month Club« mehr als 60 000 Dollar Honorar einbrachte, auch in Deutschland*.
»Ich habe niemals Haß gegen alles Deutsche empfunden«, erklärt der alte
* Artur Rubinstein: »Erinnerungen. Die frühen Jahre«. S. Fischer Verlag, Frankfurt; 592 Seiten; 32 Mark.
Herr seine »private Reise« an den Main, »ich habe sogar im letzten Krieg stets deutsche Musik gespielt und deutsche Bücher gelesen, und mein Verhältnis zu diesem Land wird ja auch in den Erinnerungen deutlich.«
Tatsächlich gesteht das siebte, recht unwillkommene Kind eines Textilfabrikanten aus Lódz in seinem Rückblick eine frühe und feste Bindung an Deutschland ein:
Der Geiger Joseph Joachim war die erste Autorität, die dem Knaben in Berlin eine Zukunft als »bedeutender Musiker« prophezeite. Die Konzerte der Berliner Philharmoniker prägten Rubinsteins »musikalische Erfahrungen und Entwicklung«. Sein erster und langjähriger Lehrer war Deutscher, Brahms sein Lieblingskomponist.
Derlei privat-musikalisch-politische Einsichten vermitteln Rubinsteins Memoiren allerdings nur am Rande. Auch Musik klingt auf den 592 Seiten selten an. »Die frühen Jahre« enden nämlich 1917 -- vor dem eigentlichen Start in die bis heute dauernde Weltkarriere« und ihr Held ist »ein sehr böser, schlechter Junge, faul und alles mögliche«.
Vor allem alles mögliche. Nachdem sich der Halbwüchsige mit Charme, Glück und verblüffendem Fingerspitzengefühl auf der Tastatur bei Adeligen und Reichen Einlaß verschafft hatte, wurde ihm das Klavier immer lästiger.
Oft übte er zur Täuschung seines Lehrers nur mit einer Hand, um mit der anderen Kirschen und Schokolade essen zu können »Eine Menge falscher Noten« ließ ihn kalt: »Großzügiger Pedalgebrauch und meine angeborene Virtuosität überdeckten jeden musikalischen Mord.«
Das Salonpublikum hatte Spaß an dem frühreifen Playboy, und er nahm Kaviar und Champagner wichtiger als Triller und Oktaven, seine Auftritte verstand er als Horsd'oeuvre zu »lukullischen Orgien«, zielstrebiger als am Piano wurde er -- presto, presto -- im Bett ein Draufgänger: »Zu 90 Prozent interessierte ich mich für Frauen. Ich wollte jede haben« -- und fast jede ihn.
In der Warschauer Familie seines Freundes Harman erlagen ihm die Mutter und zwei Töchter. Seiner Berliner Wirtin legte der 14jährige die flinken Finger »auf ihre festen, runden Brüste, und sie erlaubte es«.
In Paris ließ er sich beim Chopin-Spiel von einer Gräfin »in wilder Leidenschaft« küssen, während der Graf auf dem Sofa döste. In Spanien riß ihn eine junge Witwe in Trauerkleidern »heftig, ja geradezu hysterisch« an sich, »und ohne zu zögern liebten, wir uns auf einer dunklen Bank«.
Als er der Sopranistin Emmy Destinn von ihrer »perfekten Atemkontrolle« vorschwärmte, wurde die Diva ungehalten: »Ich bin auch eine Frau.« Und obwohl den Nimmermüden der Anblick einer tätowierten Riesenschlange auf dem Bein der Primadonna »restlos verstörte«. bewies er auch ihr, wenngleich »nicht in bester Form«, seine schier grenzenlose Manneskraft.
Wenn er nicht flirtete, tafelte er und chauffierte etwa mit Freunden in vier Rolls-Royce und »drei oder vier Lastwagen« zum Picknick. Ausgerechnet im deutschen Marburg wurde er durch Forelle blau, frische Gänseleber, Krebse in Dillsauce und Ente à la Rouennais »für den Rest meines langen Lebens zum Gourmet gemacht«.
Diesen »luxuriösen Müßiggang« kreuzten die VIPs der Belle Epoque. Er begegnete Rasputin und dem jungen Marcel Proust, spielte mit der jungen Colette in Monte Carlo Roulette, spottete mit dem neuen Bürgerschreck Igor Strawinski über die Musik von Richard Strauss, zerstritt sich mit dem kaum 30jährigen, »bereits kahlköpfigen« Cellisten Pablo Casals über gepumpte zehn englische Pfund und stieß am Buffet des Madrider Teatro Real auf einen »kleinen dunkelhaarigen Mann im Straßenanzug«, der sich Pablo Picasso nannte und der ihn dann 1958, nach zwei durchzechten Nächten »voller Bouillabaisse«, in Samt-Tropez gleich 24mal porträtierte.
Am Ende der »frühen Jahre« betrat ein argentinischer Kakaopflanzer Rubinsteins Hotelzimmer und schüttete 500 Goldstücke aufs Bett -- Anzahlung für eine Südamerika-Tournee.
»Mit voller Überlegung«, so der Glückspilz in seinem Bestseller-Nachwort, »lasse ich hier den Vorhang fallen. Nun wechselte mein Leben seine Farbe und verlief in einem »ruhigeren Schritt.«
Er heiratete mit 45 die 22 Jahre jüngere polnische Dirigententochter Aniela Mlynarski, und auch die Karriere bekam er, nach monatelangem Drill in einem Stall der Savoyer Alpen, »endlich in den notwendigen Griff«. Aber für eine Fortsetzung der Memoiren blieb sein Leben farbig und unruhig genug und Rubinstein als Künstler und Lebenskünstler allemal Weltidasse.
In Hollywood, wo er sich während des Zweiten Weltkriegs Tür an Tür mit Ingrid Bergman niederließ, plauderte er mit Thomas Mann, musizierte er mit Albert Einstein, arrangierte spiritistische Sitzungen, gab rauschende Gartenfeste, bei denen er sogar zum Akkordeon griff, und ließ sich für den Klavierpart in dem Film »I've Always Loved You« -- Arbeit: drei Tage -- mit 85 000 Dollar entlohnen.
»Ich halte mich für den glücklichsten Menschen, dem ich je begegnet bin«, resümiert der »Oscar«-Preisträger, Ritter des Ordens von Oranien-Nassau, Träger des Sterns der französischen Ehrenlegion, Mitglied der Pariser Akademie der Schönen Künste und Namenspatron eines Lehrstuhls an der Universität Jerusalem, einer holländischen Tulpe und einer spanischen Dattelpalme. Aber
* Links oben: als Pariser Akademie-Mitglied in einer Uniform von Pierre Cardin. Rechts oben: mit Ehefrau Aniela. Links unten: 1906 auf der ersten US-Tournee. Rechts unten: 1966 in Chicago.
er weiß noch nicht, ob er nun auch den Rest seines Lebens ausplaudern soll. »Wissen Sie, im ersten Buch verzeiht man vieles meiner Jugend, aber später?«
20 Blätter seines Blocks hat er im spanischen Sommersitz »La Rueda« bei Marbella schon wieder vollgeschrieben. Aber noch zweifelt und zögert er.
»Ich habe niemals im Leben irgendeinen Kompromiß geschlossen«, sagt er im Hinblick auf ein zweites Buch, auf seine Karriere, auf sein Publikum. Wenn die Fortsetzung der »Erinnerungen« »nicht amüsant wird«, will er aufhören. Wenn seine Finger oder sein Gedächtnis ihn mal im Stich lassen sollten, »ziehe ich mich zurück, selbst wenn Golda Meir mich unter Druck setzt«.
Und vor Publikum kann er nur treten, »wenn ich es liebe wie eine schöne Frau« -- also nicht in Deutschland.
Rubinstein letzte Woche zum SPIEGEL: »Wenn ich jetzt in Frankfurt ein Konzert geben würde, dann säße da vielleicht ein Sechzigjähriger, der für Hitler gestimmt hat. Das würde ich sofort sehen und könnte nicht spielen, aus, vorbei. Ein einziger Nazi und Schluß! Deshalb werde ich auch nie Herbert von Karajan die Hand geben!«