GOETHE Ruhm in Raten
Als Goethe starb, 1832, erschien im »Litteraturblatt« des Goethe-Verlegers Cotta kein Nachruf. Der Dichter aus Weimar war dem »Litteraturblatt« -Redakteur Wolfgang Menzel für einen Nekrolog nicht prominent genug. Auch der hundertste Geburtstag Goethes, 1849, wurde in Deutschland kaum gewürdigt (während Schillers hundertster Geburtstag, 1859, bereits mit nationalem Pomp bis in die letzte Schulaula drang). Heute wiederum ist die vom Nimbus des Olympiers geschützte Goethe -Gesellschaft die nahezu letzte Vereinigung Deutscher, die noch einwandfrei zwischen Ost und West funktioniert.
Informationen solchen Stils, die das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Renommier-Klassiker Goethe in neue Perspektiven rücken, bilden den Inhalt eines Buches über »Das Goethe-Bild der Deutschen«, das der 39jährige amerikanische Literatur-Professor Wolfgang Leppmann kürzlich in England veröffentlichte*.
Leppmann, von Hause aus mit Goethe vorbelastet - die erste Frau seines Vaters war die Tochter Bielschowskys,
des Verfassers der wohl erfolgreichsten, in weit über hunderttausend Exemplaren verbreiteten Goethe-Biographie -, sammelte die Unterlagen für sein Goethe-Buch in Stuttgarter und Berliner Archiven und Bibliotheken. Zu den erstaunlichsten Dokumenten, die Leppmann in die Hände bekam, gehört eine Verlautbarung des Polizeipräsidenten von Königsberg, im Interesse der »öffentlichen Sicherheit« wäre es das Beste gewesen, wenn Goethe seinen »Faust« nicht geschrieben hätte.
Um seinen englischen und amerikanischen Lesern die volle Skalenbreite der Reaktionen vorzuführen, die Goethe in Deutschland hervorrief, hat Leppmann Zeugnisse für Nachahmung - etwa die Selbstmordserie nach der Veröffentlichung des »Werther« -, für Ablehnung und für bis ans Religiöse grenzende Verehrung Goethes zusammengestellt. Zu Goethes Hauptwerk, dem »Faust«, zitiert Leppmann sowohl den bekannten Satz Nietzsches, es sei lächerlich, daß »die Verführung einer kleinen Näherin« durch »einen großen Gelehrten« wirklich »Deutschlands größte tragische Idee« sein sollte, wie die weniger bekannte Äußerung des »Litteraturblatt«-Redakteurs Menzel: »Wenn Faust die Rettung verdient, nachdem er Gretchen verführt und verlassen hat, dann verdient jedes Schwein, das sich auf einem Blumenbeet wälzt, zum Gärtner gemacht zu werden.«
Der Dramatiker Friedrich Hebbel ("Gyges und sein Ring") billigte zwar den »Faust«, aber nicht das epische Werk Goethes. Hebbel urteilte, Goethe hätte nach der Niederschrift des Romans »Die Wahlverwandtschaften« »gehängt werden sollen«.
Zur Zeit des Biedermeier, im halben Jahrhundert zwischen 1820 und 1870, erreichte nach Leppmanns Ermittlungen das Interesse der bildungsbeflissenen Deutschen für Goethe seinen Tiefstand. Goethes Sympathie für den Fremdherrscher Napoleon und seine Kritik an der deutschen Kleinstaaterei, konstatiert Leppmann, hätten den Biedermeier -Deutschen den Geschmack an ihrem Klassiker verdorben.
Bismarcks Reichsgründung brachte endlich die Inthronisierung des National -Klassikers. Leppmann: »Gott war in seinem Himmel, Bismarck in seinem Reichstag und Goethe auf seinem Parnaß.«
Seitdem ist Goethe endgültig zu einer Instanz geworden, deren Autorität von niemand mehr bezweifelt und deren Autorität daher von allen in Anspruch genommen wird.
Thomas Mann erhob den Napoleon -Verehrer Goethe zum Ahnherrn der Republik, im Dritten Reich bewahrte nur der Propagandaminister Goebbels eine heimliche Reserve - Goebbels: »Ein fragwürdiger Charakter« -, die Männer des deutschen Widerstands beriefen sich auf Goethe, und 1948 erschien in Berlin das Buch »Goethe in Dachau«, das den Olympier als KZ-Häftling vorstellt: »Er würde natürlich Sondererlaubnis erhalten haben, sich die Haare lang stehen zu lassen.« Der in Ungnade gefallene marxistische Literatur-Theoretiker Georg Lukács deutete Goethe zum Vorkämpfer sozialistischer Ideen um.
Heute aber ist Goethe, Leppmann zufolge, nicht mehr als deutscher Dichter einzustufen, sondern als Klassiker der Weltliteratur; von nun an scheine er »dazu bestimmt, nicht nur zeitlos, sondern auch heimatlos zu sein, nicht stärker an Deutschland gebunden als Homer an Griechenland oder Shakespeare an England«.
Als Indiz für die Richtigkeit dieser These führt Leppmann an: Zum zweihundertsten Geburtstag Goethes im Jahre 1949 hätten Wissenschaftler in Paris, London und Aspen in Colorado (USA) wertvollere Beiträge zur Goetheforschung geleistet als Weimar oder Frankfurt.
* Wolfgang Leppmann. »The German Image of Goethe«. Clarendon Press, Oxford; 220 Seiten; 38 Shilling.
Forschungsobjekt Goethe
Heimatlos 1