Russen gestrichen
Im Foyer flanierten zwei Polizisten. An den Wänden waren Zettel angeschlagen: Die Intendanz bat das Publikum, »auf Kundgebungen jeglicher Art während der Aufführung zu verzichten«.
»Sollte ein Teil des Publikums«, hieß es weiter, »eine Auseinandersetzung über das Stück oder sein Thema wünschen, so werden wir einen Termin für eine öffentliche Diskussion mit dem Autor vorbereiten. Bitte geben Sie uns Ihre Wünsche schriftlich bekannt.«
Die verheißungsvolle Mahnung galt dem Publikum, das sich am letzten Mittwoch im »Theater am Kurfürstendamm«, dem »Haus der Freien Volksbühne« in Berlin, versammelt hatte, um die Uraufführung des Erstlingsschauspiels eines bislang unbekannten deutschen Autors anzusehen: »Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth.
Der Stillhalte-Appell des Kurfürstendamm-Theater-Intendanten und »Stellvertreter«-Regisseurs Erwin Piscator schien begreiflich: Kaum ein Stück der letzten Zeit hatte so viel Skandal versprochen wie Hochhuths »Stellvertreter«. Im vergangenen Jahr hatte der 1931 im hessischen Eschwege geborene Autor, heute Lektor bei Bertelsmann in Gütersloh, für den »Stellvertreter« eine Förderungsprämie des vom Berliner »Volksbühnen«-Verein gestifteten Gerhart-Hauptmann-Preises erhalten. Bei der Preisverleihung wurde bekanntgemacht, daß Hochhuth ein »zorniger junger Mann« sei und sich »mit ungeheurem Ernst und äußerstem Fleiß an eines der heißen Eisen unserer jüngsten europäischen Geschichte herangewagt« habe, nämlich »an das Problem der vorsichtig zurückhaltenden Stellungnahme des Papstes (Pius XII.) zur Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs«.
Der protestantische Hochhuth, der sein Stück zwei katholischen Priestern, dem im KZ ermordeten polnischen Pater Kolbe und dem auf dem Transport ins KZ umgekommenen Berliner Dompropst Lichtenberg, gewidmet hat, konfrontiert die fiktive Figur eines jungen Jesuiten der historischen Papst-Gestalt Eugenio Pacellis.
Pater Riecardo Fontana bestürmt den Papst, er solle offen und scharf gegen Hitlers Juden-Massaker protestieren. Pius XII. weigert sich: »Die Staatsräson verbietet, Herrn Hitler als Banditen anzuprangern, er muß verhandlungswürdig bleiben.« Der Papst erklärt: »Hitler allein . . . verteidigt jetzt Europa. Und er wird kämpfen, bis er stirbt, weil ja den Mörder kein Pardon erwartet. Dennoch, der Westen sollte ihm Pardon gewähren, solange er im Osten nützlich ist.«
Als Pius XII. sogar angesichts der Verschleppung von Juden aus Rom nicht offen gegen Hitler Front machen will, geht Pater Riccardo ("Gott soll die Kirche nicht verderben, nur weil ein Papst sich seinem Ruf entzieht"), nachdem er sich einen Judenstern an die Soutane geheftet hat, mit den Juden nach Auschwitz und kommt dort um.
Über drei Jahre lang hatte Hochhuth an seinem historischen Tendenzstück geschrieben, hatte er zeitgeschichtliches Dokumentenstudium betrieben, verbürgte Vorgänge und Äußerungen dramatisch verarbeitet. Er wertete beispielsweise Reitlingers »Endlösung«, Poliakov/Wulfs »Das Dritte Reich und die Juden«, den »Osservatore Romano«, Protokolle der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, die Tagebücher von Goebbels und die Reden von Pius XII. aus. Er zitierte einen Brief des deutschen Vatikan-Botschafters von Weizsäcker an das Auswärtige Amt: »Der Papst hat sich, obwohl dem Vernehmen nach von verschiedenen Seiten bestürmt, zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden hinreißen lassen.«
Hochhuth modellierte seinen Bühnen-Pius unter anderem nach Urteilen und Auskünften von Francois Mauriac, Heinrich Brüning und dem Jesuitenpater Robert Leiber. Er notiert in einer Regieanweisung: »Die Kälte und Härte seines Gesichts, von den Werbetextern der Kirche gern als 'überirdische Vergeistigung' bezeichnet, haben gleichsam den Gefrierpunkt erreicht - er blickt, wie er sich gern photographieren ließ, über alle Umstehenden hinweg.«
Der Autor korrespondierte mit Beteiligten, Augenzeugen und Historikern, und er kam zu dem unsinnigen Schluß: »Vielleicht haben niemals zuvor in der Geschichte so viele Menschen die Passivität eines einzigen Politikers mit dem Leben bezahlt.«
Der junge Autor füllte sein Stück - weniger ein Drama als eine effektvolle theatralische Illustration kompilierter Zeitgeschichte - mit historischen und erfundenen Figuren an, mit Nazis, SS -Schergen, Repräsentanten der deutschen Industrie, Klerikern und Juden; er ließ den protestantischen Widerständler in der SS Kurt Gerstein, den Nuntius des Vatikans in Berlin, Orsenigo, er ließ Adolf Eichmann und den NS-Professor Hirt auftreten, der in Straßburg afterwissenschaftliche Studien an Schädeln »jüdisch-bolschewistischer Kommissare« trieb.
Und er hatte sogar für die Mitteilung des Jagdfliegers Galland szenische Verwendung, daß manche Offiziere sich ihre Ritterkreuze an Damenstrumpfbändern um den Hals zu schnallen pflegten.
Hochhuth: »Der Verfasser des Dramas (hat) sich die freie Entfaltung der Phantasie nur soweit erlaubt ... als es nötig war, um das vorliegende historische Rohmaterial überhaupt zu einem Bühnenstück gestalten zu können. Die Wirklichkeit blieb stets respektiert, sie wurde aber entschlackt.«
Im Herbst 1962 plante der Hamburger Verlag Rütten & Loening, seit 1960 ein Zweig der Bertelsmann-Verlagsgruppe, das monströse Erstlingsstück des Bertelsmann-Lektors Hochhuth in Buchform zu veröffentlichen. Der Text war schon gesetzt, als den Verlag der Mut zur Veröffentlichung verließ. Autor Hochhuth fand jedoch einen anderen Interessenten: Rowohlt war bereit, den »Stellvertreter« als Paperback herauszubringen.
Verleger Ledig-Rowohlt fand auch den für das problematische Stück geeigneten Regisseur. Er schickte das Anti-Pius-Drama an Erwin Piscator, und der alte Vorkämpfer eines links-»politischen Theaters« erkannte »schon nach der Lektüre der ersten Seiten« in Hochhuths Erstlingswerk ein »bestürzendes, erregendes, großes und notwendiges Stück«, in dem Autor Hochhuth einen »bedeutenden Dramatiker«, mehr noch: einen Bekenner«.
Während Rowohlt das Schauspiel drucken ließ, begann Piscator es zu inszenieren. Trotz strenger Geheimhaltung sickerten Details des Bekenner-Dramas in die Öffentlichkeit. Anfang Februar meldete das Berliner »Petrusblatt« Bedenken gegen die gemutmaßte Tendenz des Hochhuth-Werkes an. Die katholische Wochenzeitung wies vorsorglich darauf hin, daß »wenige Männer... so wie Pius XII. unmittelbar nach dem Kriege - als es noch sehr unpopulär war! - die Stimme für Berlin erhoben« hätten.
Bald darauf machte die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) gegen Hochhuth Front: »Hochhuth tut so, als habe es zwischen der Reichsregierung bzw. der SS und der katholischen Kirche mit Kriegsbeginn eine Art Waffenstillstand, ein (ASCIIDEC-130)Gentlemen's Agreement' gegeben. Er überschätzt die Möglichkeiten der Kirche und bagatellisiert demgegenüber die Macht des totalen Staates.«
Fünf Tage vor der Premiere schließlich verschickte der »Katholiken-Ausschuß des Bistums Berlin« an Theaterkritiker »dokumentarisches Material«, darunter Jüdische Stimmen«, zur Entlastung des zwölften Pius. Im Foyer des Kurfürstendamm-Theaters brachte Piscator diese Schriftstücke, in Glasvitrinen, auch den Premierenbesuchern zur Kenntnis.
So schien alles aufs beste für einen zünftigen Premierenkrach gerichtet. Indes, es langte nur zu vergleichsweise zaghaftem Buh-Gebrumm und wenigen einsamen Pfiffen. Der Appell der Intendanz, das Publikum möge sich nicht zu »Kundgebungen« hinreißen lassen, erwies sich als ebenso überflüssig wie die Polizei im Foyer.
Hauptgrund für den überraschend gesitteten Verlauf des Hochhuth-Debüts: Piscator hatte das Stück, das im Programmheft als »christliches Trauerspiel« bezeichnet wird, radikal beschnitten.
Von den 212 Seiten Text, die der zum Premierentag erschienene Paperback"Stellvertreter« umfaßt, wurden höchstens 90 Seiten gespielt; von den 42 Personen des Originals blieben bei der Uraufführung 17 übrig. Piscator im Vorwort zur Buchausgabe: »Jedenfalls habe ich mit dem Rowohlt Verlag vereinbart, daß gleichzeitig mit der Berliner Uraufführung die Buchausgabe an die Öffentlichkeit gelangt als notwendige Unterstützung und Ergänzung*.«
Piscators dramaturgische Destillierkunst verhalf dem Stück des jungen Autors zum Erfolg. Sein Gesinnungseifer, das leitartikelhafte Pathos seiner Dialoge, die schulfunkähnliche Deutlichkeit gereichten ihm nicht zum Schaden.
Gestrichen hatte Piscator Stilblüten wie die Riccardo-Replik »Soll ich mit dem berühmten Glasauge des Begriffs souverän und versöhnend Vernunft in dieses Morden hineinhegeln?« Auf der Strecke blieben - durchaus zum Vorteil des Stückes - Szenen, in denen Hochhuth makaber-triviale Freizeitvergnügungen von NS-Bonzen, erotisches Geplänkel zwischen einem dämonischen KZ-»Doktor« ("Am Dienstag habe ich die Schwester von Sigmund Freud durch den Kamin gepfiffen") und einem »Blitzmädel« namens Helga (Regieanweisung: »Das weiße Höschen ist links oben mit schwarzen SS-Runen verziert") oder das Leiden eines »sehr schönen« und »blassen« Judenmädchens darstellt.
Der diabolische »Doktor«, im Original eine Hauptfigur, tritt in Piscators Bühnen-Kurzfassung erst in der letzten Szene auf. Ein verruchtes Chanson über eine »prallhüftige Madeleine«, das er seinen Spießgesellen auf der Kegelbahn vorträgt, blieb dem Theaterpublikum erspart. Eichmann und der schwäbelnde Schädel-Professor Hirt kamen überhaupt nicht vor.
Doch auch Figuren und Dialogdetails von anderer Art wurden den Berliner Premierengästen vorenthalten. Piscator eliminierte die Protagonisten der deutschen Rüstungsindustrie, er strich fast alle Erörterungen über Ausbeutung und Mißhandlung von KZ-Häftlingen, von polnischen und russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in den Krupp-Werken. Er milderte die Invektiven gegen Pius XII. (präzise dargestellt von Dieter Borsche), den Autor Hochhuth in seinem über 40 Seiten langen dokumentarischen Anhang zur Buchausgabe des »Stellvertreters« noch schlechter macht, als er ihn im Stück erscheinen läßt.
Hochhuth: »Wenn hier im Stück sein Schweigen den Anschein eines bewußten, sich schmerzlich abgerungenen Verzichts erhält - die historischen Fakten sind leider kaum so schön ... So tief, so quälend kann dieser Papst die in Europa jahrelang inszenierte Hetzjagd auf Wehrlose nicht empfunden haben ... er war ein Neutrum.«
Neutralisiert hatte Piscator auch den Schlußsatz des Hochhuth-Schauspiels, das der Autor in keinem Land, in dem die Kirche verfolgt wird, auf keinen Fall in der DDR aufführen lassen will. »Zwei Monate später«, so lautet dieser Satz im Original, »wurden die letzten Häftlinge in Auschwitz durch russische Soldaten befreit.«
»Zwei Monate später«, so hieß es am Kurfürstendamm, »wurden die letzten Häftlinge in Auschwitz befreit.«
* Rolf Hochhuth: »Der Stellvertreter«. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg; 276 Seiten; 8,80 Mark.