Thomas Fischer

Kritik an Steinmeiers Russlandpolitik Irrtum und Schuld

Thomas Fischer
Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer
Der Mensch irrt, solange er lebt. Das ist Bedingung des Menschseins, im Strafrecht wie in der Politik. Wer nie irrt, ist immer dumm.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Wobei hat er versagt?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Wobei hat er versagt?

Foto: Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpa

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Leisten

Gelegentlich wird mir von Fachleuten im Leserforum empfohlen, bei meinen Leisten zu bleiben. Damit sind Fragen der materiellen Strafrechtsdogmatik und des Strafprozessrechts gemeint, während die Leserleisten gern in Politologie, Philosophie und Virologie, seit Kurzem auch aus Militärgeschichte, Geostrategie und Volkskunde zu Hause sind. Im Schatzkästlein des Straf-Schuhmachers geht es heute um Irrtum und Schuld, zwei Stichworte, die unverdächtig sind, einem Themenbereich zu entstammen, von welchem der Autor nichts, seine Leser aber besonders viel verstehen.

Grundlagen

Nehmen wir als Beispiel den Herrn Bundespräsidenten. Er wurde kürzlich in »Bild« zitiert mit: »Wir haben versagt«. Dazu war ein Porträtfoto von ihm abgedruckt, das ihn mit einem sehr versagt habenden Gesichtsausdruck zeigte. Die Visualisierung ist schon ein Schritt zur Erkenntnis. Denn »Versagt-Haben« ist kein Zustand, den man unmittelbar erfahren und ungefiltert mimisch darstellen kann. So manche und so mancher versagen alle Tage und sind froh dabei; anderen wiederum, gar nicht so wenigen, fällt ihr Lebtag überhaupt nicht auf, dass sie versagen.

Zum Versagt-Haben gehört neben einer objektiven Aufgabe, einem subjektiven Ziel, einem persönlichen Handeln und einem messbaren Ergebnis immer auch ein Dritter, der das alles erstens bemerkt, zweitens beurteilt. Er kann sich außerhalb der Welt befinden (z.B. Gott, die Cloud oder das Archiv der Konrad-Adenauer-Stiftung), mitten in der Außenwelt (z.B. ein guter Feind, ein lieber Partner oder eine kritische Presse) oder in uns selbst (z. B. das Gewissen, das Über-Ich oder Papas Stimme am Ohr der Seele). Kompliziert wird es dadurch, dass es auf die tatsächliche Existenz des Dritten gar nicht ankommt. Es reicht, irrtümlich oder nicht, die Annahme seiner Anwesenheit. Deshalb speist Herr Robinson Crusoe, allein mit sich und der Leitkultur, mit Messer und Gabel, während die SUV-Fahrerin im Stau in der Nase bohrt. Ob der Kriegsminister versagt, wenn er statt mit den Gefreiten im Graben mit einer Gräfin im Pool liegt, oder die Katastrophenministerin, wenn sie im Stil einer 18-Jährigen um Vergebung bittet, weil sie das Kinderzimmer nicht aufgeräumt hat, ist Geschmackssache und kommt darauf an.

Stets stellt sich die Frage: Was ist/war die Aufgabe? Hier ist das Leben unüberschaubar, sind die Möglichkeiten unendlich: Klassisch sind das Versagen in der Schule, in der Liebe oder im entscheidenden Moment, funktional das Versagen der Stimme, des Gedächtnisses oder der Kontrolle, tragisch das Versagen vor der Herausforderung, der Zukunft oder der Wirklichkeit. Wobei hat der Bundespräsident Steinmeier versagt, und mit ihm jene, die er »wir« nennt? Es soll sich, wie zu lesen war, um eine Selbstbezichtigung allergrößter steinmeiergeschichtlicher Bedeutung gehandelt haben, vergleichbar dem Schrei des Vaters, der, aus seiner Facharztpraxis auf die Straße tretend, seinen lieben Sohn einmal mehr im Vollrausch unter der Brücke liegend findet und schluchzend niedersinkt: »Ich habe versagt!«

Eine notorische Versagerin ist neben der Medizin die Strafjustiz. Kaum haben 1000 Strafgefangene ihre Strafe verbüßt, träumen 300 von ihnen vom schnellen Geld auf Kosten anderer. Kaum entlässt die forensische Psychiatrie zehn persönlichkeitsgestörte Kindesmissbraucher, schleichen zwei wieder um Spielplätze herum. Und manchmal passieren schlimme Dinge. In der Wirklichkeit von Richtern oder Psychiatern, Staatsanwälten oder Verwaltungsbeamten ist solch prognostisches Versagen relativ: Die Prognose hat sich zwar nicht verwirklicht. Richtig »falsch« wäre sie nur, wenn sie gelautet hätte: »100 Prozent Sicherheit«. Das sagt aber keiner, denn es verstieße gegen rationale Erkenntnis und Erfahrung. Rückfallwahrscheinlichkeit, Kriminalprognose, Sicherheit sind stets nur Wahrscheinlichkeitsaussagen.

Allerdings scheint mir die Frage noch nicht ernsthaft beantwortet, ob 50 Jahre Frieden in Mitteleuropa als »Versagen« durchgehen können.

In der Lebenswelt von Bundespräsidenten, Fraktionsvorsitzenden oder Talkshow-Moderatoren, fühlt sich das anders an. Die Prognose als tatsachengestützte Wahrscheinlichkeitsaussage über die Wirklichkeit ist hier an einen inneren Prozess gekoppelt, in welchem die ungeheure Verantwortung des Protagonisten selbst zum Faktor der Voraussage-Bedingungen wird. Falls Sie, Leser, das nicht verstehen, können Sie erahnen, was Herr Steinmeier meinen könnte, wenn er vielleicht sinngemäß sagt:

»Wir haben, meine Damen und Herren, und ich sage dies an dieser Stelle auch ganz bewusst an unsere eigene Adresse, die wir alle seit Jahren und immer wieder in einer vielleicht verständlichen, aber heute umso schmerzlicheren Weise uns selbst beruhigt und auch, ja, weggesehen haben, in unserem Bemühen um eine friedlichere Welt für unsere Bürgerinnen und Bürger und die Menschen in Europa, auf die wir hofften, am Ende versagt.«

Irrtum

Der Mensch ist nicht allwissend. Sagen wir: Er könnte alles wissen, weiß es aber nicht. Was ihn auszeichnet, ist sein Zwang zur Kausalität. Der Hering nimmt die Welt, wie sie kommt. Der Schimpanse zweifelt. Der Mensch ist sicher, dass alles im Universum eine Ursache hat. Wenn er sie nicht kennt, ändert er diese Ansicht nicht: Er kennt die Ursachen dann eben »noch« nicht. Wenn alle Wissenschaft vollbracht ist, werden wir alle Ursachen und Folgen des Kosmos kennen. Wer das nicht glaubt, kann immer noch an Gott glauben. Nur wer die Welt für ursachenlos hält, ist verrückt.

Das Leben ist aus genau diesem Grund eine Kette von Irrtümern. Da der Mensch mit Fantasie ausgestattet ist, hat er Motive, Pläne, Vorstellungen und »Vorgestalten«. Die meisten davon sind nicht oder nur schwer steuerbar; das Bewusstsein und das Vorbewusstsein sind ohne Unterlass damit befasst, »Vorstellungen« mit Wirklichkeiten, Gefühle mit Erfahrungen abzugleichen, um eine Orientierung in der Wirklichkeit zu ermöglichen. Eine jede neue Wahrnehmung beweist, dass alle abweichenden Vorstellungen Irrtümer waren.

Der Hering nimmt die Welt, wie sie kommt. Der Schimpanse zweifelt.

Im Strafrecht hat der Irrtum einen besonderen Ehrenplatz: Er sitzt im Subjekt, das mal »Täter«, mal »Opfer«, mal »Werkzeug«, mal »Beteiligter«, am Ende gar »Richter« heißt. Ein Täter, der sich bei seinem Täter-Tun irrt, ist immer noch Täter, aber vielleicht nicht verantwortlich für das, was herauskommt: Wer einen fremden Geldbeutel einsteckt, den er für seinen eigenen hält, nimmt zwar eine fremde Sache weg, hat aber keinen Diebstahls-»Vorsatz«, weil er sich irrt (§ 16 StGB ). Und wer meint, ein Gläubiger dürfe dem Schuldner dessen Geldbeutel wegnehmen, irrt sich über ein vermeintliches Recht (§ 17 StGB ). In beiden Fällen verfährt das moderne Strafrecht gnädig mit dem Irrenden: Seine Fehlvorstellung mindert die Schuld oder führt gar zur Unschuld. Kehrseite der Rücksicht auf subjektive Fehlvorstellung ist die Vollendungs-Strafbarkeit auch des untauglichen Versuchs.

Schuld

Eine Katze, der die Maus entwischt, hat weiter Hunger, entschuldigt sich aber nicht für ihr Versagen, sondern zielt beim nächsten Sprung besser. Weltpolitisch ausgedrückt: Herr Selenskyj und sein famoser Botschafter sind von Herrn Doktor Steinmeier enttäuscht, deuten dies jedoch nicht als Zeichen eigenen Versagens, sondern als Ansporn zur Erhöhung der Unverschämtheit.

Versagen als Schuld ist Verantwortlichkeit für ein Übel. Sie kommt in die Welt, wenn Ereignisse retrospektiv betrachtet, Kausalitäten rekonstruiert und Verhaltensfolgen »zugerechnet« werden. Hätte die Mutter den Täter nicht geboren, so wäre er kein Mörder geworden. Hätte die Straßenbahn ihn nicht zum Tatort gebracht, so wäre er später angekommen und das Opfer nicht mehr dort gewesen. Und so weiter: Fahrradketten-Theorie.

Die Menschen sind daran gewöhnt, aus Kausalitäten nicht ohne Weiteres »Verantwortlichkeiten« zu generieren, denn sonst kämen sie vor lauter Versagen und Strafen zu nichts anderem mehr. Man muss eine Auswahl vornehmen: Wie viel Kausalität reicht noch für das »Zurechnen«; ab wann wird aus Ursache & Folge nurmehr Zufall & Schicksal? Im Allgemeinen funktioniert das recht gut, weil es permanent auf allen sozialen Ebenen diskutiert und verhandelt wird: 90 Prozent der »Leitkultur« bestehen daraus. An den Rändern gibt es Ausnahmen: Die Mörder-Mutter zum Beispiel bekommt, anders als der Straßenbahnfahrer, durchaus noch ein bisschen soziale Rache für ursächliche Verantwortung ab: Verachtung, Ausgrenzung, Misstrauen. Wenn jemand Rastafari, Rumäne oder Russe ist, reichen oft schon ein paar Löckchen oder eine Staatsangehörigkeit, um mit unvordenklicher Verantwortlichkeit beladen zu werden. Das empfindet man im christlichen Abendland, wo Schuld als etwas Individuelles gilt, in ruhigen Zeiten als ungerecht. Steigt der Angstdruck, ist’s aber weiterhin schnell vorbei mit der Einzigartigkeit des würdetragenden Individuums.

Wir

Hätte Herr Präsident Steinmeier Herrn Präsidenten Putin nicht die Hand gegeben, hätte Putin die Ukraine nicht überfallen. Hätte Frau Merkel im Jahr 2013 einhundert Milliarden Euro für die Bundeswehr ausgegeben, hätte Russland die Krim nicht annektiert. Hätten Gorbatschow und Jelzin nicht die Sowjetunion ins blanke Chaos geführt, wäre Putin nicht Präsident geworden und der wertegetränkte Westen des Freihandels bräuchte gar keinen Frontstaat gegen ihn. Wer weiß? Ausgeschlossen ist es nicht; andererseits aber auch nicht wahrscheinlich.

In diesen Wochen erleben wir in Deutschland eine wundersame Bewegung der inneren Einkehr, Selbstreflexion und Bußfertigkeit. Seit 1945 hat man kein solches Maß an Betroffenheit vom eigenen Irrtum erlebt. Nach WK II wurde die Erkenntnis, der gute Glaube habe versagt, durch die Gewissheit gemildert, aus purer Gutmütigkeit zum Opfer von Wahnsinnigen in Reichskanzlei und Reichspropagandaministerium geworden zu sein. Das klappt angesichts Ukraine II nicht ohne Weiteres.

Gnadenlos das neue Erforschen des Versagt-Habens: Reihenweise Politiker-, Industriellen-, Dichter- und Publizistenleben sinken im Rückblick in den Staub. Generationen von Ingenieuren, Geigern, Abgeordneten und Puschkin-Lesern bekennen unter Tränen, seit 60, 40 oder 20 Jahren geirrt zu haben. Zum Glück kennen die meisten der ehedem Gutgläubigen genügend Dritte, die noch mehr versagt haben als sie selbst. So hilft man sich gegenseitig beim Erinnern.

Nur wenige sind ohne Schuld geblieben. Auf der Suche nach beispielhaft Versagensfreien folgten wir unserer Eingebung und wurden fündig auf Seite 2 einer großen Sonntagszeitung , wo der Kolumnist bko nach einer kleinen Toskana-Denunziation von Frau Merkel samt Busenfreundin bekennt:

»Allerdings warnten wir schon immer vor Putin (…) Das Märchen unserer Politiker, (das Gas) aus Sibirien sei eine Brücke in unsere Zukunft wie auch zu unseren russischen Nachbarn, haben wir freilich keine Sekunde lang geglaubt.«

Wohl dem, der solches von sich sagen kann! Nimmt man Frau Emcke dazu, die in der SZ wie stets die ewige Maximalbetroffenheit aller fordert , so gilt das Wort des Dichters:

»In den Armen liegen sich beide/ Und weinen vor Schmerzen und Freude/ Da sieht man kein Auge tränenleer…«

Schuldsprüche

Gerichtsbarkeit: Man hat sich an die Meinung gewöhnt, dass die Justiz immerzu versage. In Alltagsfragen des Irrtums über Tatbestandsmerkmale, Rechtsfertigungs- oder Entschuldigungsgründe schaffen es deutsche Volljuristen aber durchaus, jahrealtes Versagen so aufzuklären, dass ein Schuldspruch dem Volk akzeptabel erscheint; notfalls helfen ein Untersuchungsausschuss, eine Schirach-Abstimmung oder Hart-aber-Fair.

Nur in ganz schwierigen Fällen muss die Geschichte selbst anrücken: gelegentlich als Tribunal, später gern als Habilitation. Angerufen wird sie meist vom Versagensbeauftragten nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG , also der freien, unabhängigen und kritischen Presse, die die Urteilsfindung gern miterledigt. Insoweit wird seit sechs Wochen Vorbildliches geleistet. Die Liste der Versagt-Habenden, die zusammengestellt wurde, ist lang. Dass sie erstaunlich wenige Journalisten aufzählt, ist gewiss nur ein Flüchtigkeitsfehler.

Die Bekundung, in der Vergangenheit bei der Voraussage der Zukunft versagt zu haben, mag für die Psychotherapie aufschlussreich, die Magenschleimhaut stressfördernd und die soziale Umwelt anstrengend sein, hat aber im Übrigen keine große Bedeutung. Diese gewinnt sie erst, wenn aus vergangenem »Versagen« Schlussfolgerungen für Verhalten in der Zukunft gezogen werden sollen.

Die Liste der Versagt-Habenden, die zusammengestellt wurde, ist lang. Dass sie erstaunlich wenige Journalisten aufzählt, ist gewiss nur ein Flüchtigkeitsfehler.

Das setzt erstens voraus, dass die Aufgabe, bei welcher versagt wurde, präzise definiert wird. Das freilich ist das Problem! Bei den derzeit genannten Politikern, Denkern und Schreibern hieß die Aufgabe, soweit ich sehe, »Putin durchschauen«, »Russland misstrauen« oder »Krieg vorbereiten«. Blättert man in den Geschichtsbüchern, so ergibt sich, dass es durch die Jahrtausende meistens anders kam, als zuvor angenommen worden war. Wenn die Aufgabe der Mächtigen darin bestand, den Lauf der Dinge jeweils so vorauszusehen, dass sich ihre strategischen Pläne erfüllten, so muss man die Weltgeschichte geradezu als fortgesetztes Desaster des Versagens beschreiben. Das Tröstliche an dieser Erkenntnis ist ihre weitgehende Banalität. Auf den Herrn Bundespräsidenten bezogen, mag das beruhigen.

Strafe

Zweitens ist allerwichtigst am Versagen und Zurechnen die Strafe, mal als vollstreckte, mal als erlassene. Reinigung von Schuld findet statt durch Bestrafung des Schuldigen, auch als Selbstbestrafung mit allgemeinem Segen. Suboptimal sind insoweit beispielsweise ein Rücktritt »auf politischen Druck« oder der gewöhnliche Alkoholismus. Auch starkes Weinen hilft nicht immer, wie man an Herrn Smith aus Hollywood sehen kann.

Nun zeichnet sich das gegenwärtige Rennen um den Wanderpokal des betroffensten Versagt-Habers dadurch aus, dass die Strafen von den Schuldigen selbst festgesetzt werden und diese zudem nichts kosten. Denn pflichtgemäß zahlen und sterben sollen ja andere. Zwar behauptet die »FAZ«, nun müssten »harte Fragen« gestellt werden: »Wer hatte welche Kontakte?«; aber ich ahne schon, dass Herr Steinmeier, Frau Merkel und ich zum Kampfeinsatz nicht mehr herangezogen werden.

Herr Stoltenberg, der Generalsekretär, trat seine Strafe an, indem er zu bedenken gab, einen echten Unterschied zwischen Defensiv- und Offensivwaffen gebe es gar nicht. Andere bestrafen sich, indem sie zur Auslegung von Art. 87a Abs. 2 Grundgesetz  auf den berühmten Staatsrechtler Peter Struck verweisen. Rheinmetall hat als Sühnegabe 50 Leopard Eins im Keller gefunden, und im »Morning Briefing« aus Berlin hörte man unken, der US-Präsident wolle, um seine Irrtumsschuld abzutragen, sich nicht länger von Herrn Putins Atomkriegsdrohung abschrecken lassen. Das kommt uns, die wir das Strafen von Berufs wegen betreiben, bekannt vor. Ein bisschen leidet die Menge ja immer mit, wenn die Henker ihres Amtes walten. Und wie das Fallbeil, Schrecken und Erlösung zugleich, das Versagen aus dem Körper des Zuschauers reißt, so träumen sich andere wieder das erprobte Stahlgewitter als Reinigung herbei.

Wer sicher ist, versagt zu haben, mache den Platz frei!

Wenn es zuträfe, dass diejenigen, die das jetzt von »uns« behaupten, »versagt« haben, wären sie ungeeignet für eine weitere Verwendung für dieselbe oder eine entsprechende Aufgabe. Sie sollten dann alsbald von irgendetwas »zurücktreten« und uns nicht mit Geschwätz über die Enttäuschung ihrer vortrefflichen Gutherzigkeit behelligen. Wer sicher ist, versagt zu haben, mache den Platz frei!

Allerdings scheint mir die Frage noch nicht ernsthaft beantwortet, ob 50 Jahre Frieden in Mitteleuropa als »Versagen« durchgehen können. Dass Richter, die eine Strafe oder Maßregel zur Bewährung aussetzten, »versagt« haben, wenn der Betroffene nach 40 Jahren eine neue Tat begeht, kann man bezweifeln. Dass alles auf der Welt einen Grund hat, ist davon unberührt, und dass man Gründe erkennt, nachdem ein Unheil eintrat, ist geschenkt. Die Frage nach der Resozialisierungsprognose für Herrn Steinmeier und »uns« ist keineswegs geklärt. Es ist jedenfalls keine zwingende Idee, zur Strafe für sich selbst andere in den Krieg zu schicken, bei dessen Verhinderung man versagt hat.

Prognose

Man müsste das zukünftige Gelingen definieren. Sollen »wir« anfangen, einen Krieg gegen Ungarn (Orbán!), USA (Trump!) oder Frankreich (Le Pen!) vorzubereiten? Welchen Botschaftern und Außenministern ist ab sofort zu misstrauen? Welche Lieferketten werden sich in 20 Jahren als Versagen erweisen? Auf welchen Konzerten, Jachten, Vorstandssitzungen darf man keinesfalls fotografiert werden?

Ausnahmslos alle, die bekennen, bei der Aufgabe des Russen-Durchschauens versagt zu haben, halten sich für besonders geeignet, dieselbe Aufgabe zukünftig vorbildlich zu erfüllen. Diese Selbstprognose entspricht dem Üblichen. Das Versagen soll die Überraschtheit vom Bösen sein. »Wir haben versagt« ist das Gejammer unbeirrbar tugendhafter Eltern über das missratene Kind, oder die Selbstanklage des herzensguten Seelenhirten, nicht hart genug gegen die Sünder gewesen zu sein. Das Jammern und gegenseitige Anklagen ist eine Ausdünstung der larmoyanten Heuchelei, die dem deutschen Welterklärungswesen eigen ist. Es ist beliebig, willkürlich und dient der Dämonisierung des Feindes. Es stillt das Bedürfnis der Masse nach schlichten Ursachen und führt sie in blinde Rache, die eine Frucht von Angst ist.

Je schlimmer das Verbrechen, so mag man denken, desto näher liegend die Schuld der Versager. So möchten die Russlandversager ihre Verantwortung aber nicht verstehen. Sie meinen es, mit Blick auf die Autobiographie, eher philosophisch. Sonst müssten sie ja gleich morgen mit dem Versagen aufhören.

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