FALL GÜNTHER 's is Feierobend
Er liebte seine Arbeit, eiskalte Drinks und scharfe Witze. Er war gut zu jedermann und hatte nur im Parlament eine spitze Zunge. Er galt als einer der erfolgreichsten deutschen Mediziner für Alterstherapie. Vorletzte Woche aber gestand Walter Günther, 42, Chefarzt zweier West-Berliner Hospitäler, Beamter auf Lebenszeit und SPD-Abgeordneter in Berlin: »Ich habe nie studiert.«
Damit war die filmträchtige Karriere eines doppelt-beinamputierten Mannes zu Ende, den sein Anwalt Dr. Paul Ronge überschwenglich als »medizinisches Genie« feiert und der flach eigener Bekundung »nicht einmal die rechtliche Möglichkeit hatte, als Krankenpfleger zu arbeiten«. Denn selbst Sanitäter war er nicht.
Was den Erzgebirgler aus Gottesgab bei St. Joachimsthal zu einem selbstberufenen Jünger Äskulaps machte,
wären die Irrungen und Wirrungen des Zweiten Weltkriegs: Im Rußlandwinter von 1942 sammelte der ehemalige Klosterschüler und spätere hauptamtliche HJ-Führer die ersten medizinischen Erfahrungen - am eigenen Leib.
Mit schweren Erfrierungen, die er sich beim ersten Nachteinsatz zuzog, wurde der Waffen-SS-Marin Walter Günther (Panzergrenadier-Regiment IV »Der Führer") ins Lazarett eingeliefert. Amputation: linker Unterschenkel, rechter Fuß.
Als der Kriegskrüppel 1945 in Karlsbad Hitlerjungen an der Panzerfaust unterweisen sollte, kam er in tschechoslowakische Gefangenschaft. Er nutzte seine Lazaretterfahrung, halt verbinden und schienen und lernte - so Anwalt Ronge - »an einem Tag mehr als ein Student in drei Semestern«.
Für die Mitgefangenen war er bald der »Lagerarzt«. Sein Geschick trug ihm die Anrede »Doktor« ein. Er widersprach nicht.
Von nun an ließ Walter Günther nicht mehr von der Medizin. Nach der Entlassung verhalfen ihm Mitgefangene zu einem Posten in einer Privatklinik für Geburtshilfe und Gynäkologie bei Bad Oeynhausen, wo er zunächst unter Anleitung, später selbständig 270 Entbindungen und gynäkologische Operationen vollzog. Nächste Station war das Oldenburgische Landeskrankenhaus, wo er sich als Arzt ohne Papiere präsentierte.
Als er mit der Zeit bedrängt wurde, Ersatz für die angeblich verlorengegangenen Dokumente zu beschaffen, kam ihm der Zufall zu Hilfe. Günther erfuhr, daß ein Namensvetter - Helmut Günther - 1943 in Prag die Arztprüfung bestanden hatte.
Über einen Mittelsmann ("Die Kollegen waren damals untereinander sehr behilflich") kam er zu seiner ersten »Legitimation": Der in der Bundesrepublik lebende Prager Dekan Max Watzka bestätigte, im Jahre 1943 sei ein Günther von ihm, Watzka, persönlich examiniert worden.
Aber Helmut Günther war sieben Jahre älter - und das war Walter Günther von nun an auch. Das Watzka -Zeugnis veranlaßte das Land Niedersachsen 1948 nach seiner Darstellung, eine Ersatzbestallung auszufertigen*.
Dann wechselte der Medizin-Mann in die Sowjetzone. Er trat in die SED ein, wurde Aktivist und avancierte 1949 in Frankfurt an der Oder zum Amtsarzt: Sein Vorgänger war gerade gefeuert worden, weil er sich als simpler Sanitäter entpuppt hatte.
1950 tauchte Günther in West-Berlin auf. Als Assistenzarzt im Krankenhaus Belziger Straße sammelte er seine ersten Meriten. Aufopfernder Einsatz bei einer Scharlach-Epidemie machte ihn in Fachkreisen bekannt.
Professor Fraenkel vom Auguste Viktoria Krankenhaus erblickte in ihm einen begabten Internisten, den er warmherzig als Chefarzt für das Städtische Hospital Neukölln empfahl.
Wohl gab es damals mitunter Getuschel und Gerüchte, und die Gesundheitsbehörde untersagte Günther das Führen des Doktortitels, da er keine Promotionsurkunde vorweisen konnte. Günther motivierte: Er habe seine Prüfung »in Form österreichischer Ordnung« bestanden, die nicht zwischen Staatsexamen und Promotion unterscheide, sondern gleich den Doktorgrad zubillige.
Als »Dr. med. Günther« unterzeichnete er denn auch 1951 einen Antrag auf Schwerstbeschädigtengrundrente - eine Eingabe: die sich später als fatal erwies. Damals aber wuchs sich Günthers rasch aufblühendes Renommee zu einer Art Schutzwall aus.
Das Neuköllner Krankenhaus, das er Ende 1951 als Chefarzt übernahm, war nach seinen Worten ein »Siechenhaus«
- ein Spital für chronisch Kranke.
Instrumenten-Ausstattung: ein einziges Thermometer, ein einziger Blutdruckmesser, ein einziges Stethoskop. Zum Gros seiner Schutzbefohlenen gehörten Krebskranke, Hirngeschädigte, Kreislaufkranke, Rheumatiker und Querschnittgelähmte.
Aus diesem »Haus der ewigen Lieger« (Günther) machte der falsche Doktor ein angesehenes Rehabilitationszentrum. Er organisierte Gruppengymnastik, bildete das Pflegepersonal von 1952 an in Beschäftigungshilfe für Alte aus, übernahm mit Erfolg die Unterwasserbehandlung aus der Kriegsversehrtenmedizin. Die Sterbeziffern gingen merklich zurück.
Diese eher fürsorgerische Medizin, für die sich nach seiner Ansicht nur wenig Ärzte interessieren, schirmte den lateinkundigen Autodidakten weitgehend ab. Spannungen mit seinen Ärzten kamen nicht auf - er hieß ihre Maßnahmen stets gut und war voll des Lobes. Und da er sich ausschließlich auf die Rehabilitierung chronisch Kranker konzentrierte, blieb ihm auch erspart, häufig selber komplizierte Diagnosen stellen zu müssen.
Denn jeder dieser Kranken wurde mit kompletten Befunden eingeliefert. Ex-Gesundheitssenator Dr. Hans Jürgen Behrendt: »Beim ersten komplizierten Appendix hätte er eigentlich platzen müssen.«
Aber Günther, mittlerweile als Facharzt für innere Krankheiten anerkannt, operierte nicht und platzte nicht. Er wurde Beamter, SPD-Mitglied und zum dritten Male Ehemann. Seine erste Frau war Hausfrau, seine zweite Krankenschwester, seine dritte die Schlagersängerin Erika Brüning. Er lernte sie 1956 kennen, als sie ohne Gage in seinem Spital sang.
Frau Erika wußte nichts über die Vergangenheit ihres Mannes. Günther bezog ein gutbürgerlich eingerichtetes Haus in Berlin-Zehlendorf, betätigte sich als ehrenamtlicher Sportarzt für den Fußballklub »Tasmania« und legte sich mit Spirituosen-Herstellern an: Der »Arzt aus Leidenschaft« (Ronge), der klaren Schnaps bevorzugt, war der Meinung, daß der deutschem Kognak zur schnelleren Alterung beigegebene Ester den menschlichen Herzkranzgefäßen schade.
In seiner Freizeit studierte Günther in Heimarbeit fleißig weiter; die Werke des Gerontologen Max Bürger fesselten ihn. Bald galt er selber als Experte für die Alterstherapie, und die Fachwelt publizierte seine Erfahrungen. Europas Universitäten, so Kopenhagen, ersuchten um Vorträge. Für die Fernseh-Altershilfe »Miteinander füreinander« sprach er im weißen Kittel Werbespots.
Schließlich zog ihn die Berliner Arbeiterwohlfahrt bei der Planung eines zweiten Neuköllner Krankenhauses zu Rate. Walter Günther wurde Chefarzt, Wilhelmine Lübke weihte im Februar 1965 das neue Haus »des verehrten Doktor Günther« ein. Günther privat bei der Einweihungsfeler: »Ich fühle einen
Hauch von Schmerz, wenn ich die alten Leute leiden sehe. Aber nur einen Hauch, denn Schmerz ist der schlechteste Berater für den Helfer.«
Es war der Höhepunkt seiner Karriere. Der Doppel-Chefarzt gebot über sechs Ärzte, 170 Pfleger und Schwestern. Er beurteilte die Leistungen angehender Fachärzte. In den Häusern waren ihm insgesamt 550 Patienten anvertraut. Lobeshymnen rehabilitierter Siecher füllten seine Personalakte.
Und doch erwiesen sich die Gerüchte, Günther sei ein Schwindler, als resistent. Die Wehrmachtsauskunftsstelle (Wast) war schon 1958, als Günther einen Antrag auf Rentenkapitalisierung stellte, bei der Überprüfung der Güntherschen Rentenakte auf Widersprüche gestoßen: Die Geburtsdaten der Renten -Papiere und der Wast-Unterlagen stimmten nicht überein.
Die Berliner Sozialbehörde aber meinte, es müsse ein Aktenirrtum vorliegen. Wieder schienen die Zweifel ausgeräumt - aber nur, bis vor zwei Jahren ein Facharzt der Berliner Ärztekammer Qualifikationsbedenken meldete: Günther hatte sich bei einem neurologischen Gutachten verhaspelt.
So sprach denn der Berliner Gesundheitssenator Dr. Habenicht den »verehrten Herrn Kollegen«, der nun auch SPD -Abgeordneter im Berliner Parlament geworden war, in der Wandelhalle des Abgeordnetenhauses an. Es sei wohl in beiderseitigem Interesse, meinte der Medizinalverwalter vor einem Jahr, in der Tschechoslowakei - an der Stätte von Günthers vermeintlicher akademischer Ausbildung - Nachforschungen zu halten.
Noch ehe die Standeskollegen in der Ärztekammer ein Urteil reifen ließen, war der doppelt-beinamputierte Versehrtenrentner entlarvt. Auskünfte vom Geburtenregister Joachimsthal und aus Prag erhärteten den alten Wast-Verdacht und schafften im September dieses Jahres endgültig Klarheit: Günther war nicht identisch mit seinem sieben Jahre älteren - bislang unauffindbaren - Namensvetter, der 1943 an der Prager Karls-Universität die Approbationsurkunde erhalten hatte.
Seine Vorgesetzte Leonore Lipschitz, Leiterin der Arbeiterwohlfahrt: »Mir ist das Gewissen dieses Mannes schleierhaft. Unsereins läßt doch schon die Ohren hängen, wenn die Polizei ans falsch geparkte Auto einen Zettel steckt.«
Mitte vergangenen Monats wurde Günther dem Untersuchungsergebnis konfrontiert. Vorletzte Woche legte er sein Abgeordneten-Mandat nieder und erklärte seinen Rücktritt als Chefarzt - - »ohne Schuld-Anerkenntnis«. Letzte Woche gestand sein Anwalt Zeitungsleuten die Wahrheit.
Die Patienten schickten ihm Blumen ins Haus, die Gesundheitsbehörde den Staatsanwalt. In seinem Krankenhaus verabschiedete sich Günther mit Worten; die der entfernt mit ihm verwandte erzgebirgische Heimatdichter Anton Günther einem Volkslied geliehen hat: »'s is Feierobend«.
* Nach amtlichen Berliner Auskünften lag
den niedersächsischen Behörden damals auch die Abschrift einer vom Reichsinnenminister auf den Namen Walter Günther ausgestellten Bestallungsurkunde vor, deren Echtheit von Sachverständigen nicht angezweifelt wurde. Das Schriftstück, das heute bei den Günther -Akten in Berlin liegt, trägt einen Bestätigungsvermerk der tschechoslowakischen Repatriierungskommission. Die Herkunft dieser Abschrift ist bis heute ungeklärt.
Falscher Doktor Günther
14 Jahre als Chefarzt amtiert
Günther-Krankenhaus in Berlin-Neukölln
»Haus der ewigen Lieger«
Wilhelmine Lübke, Günther (r.)*: »Ein Hauch von Schmerz«
* Bei der Einweihung des Neuköllner Krankenhauses, Februar 1965; 3. V. l. der Berliner
Gesundheitssenator Dr. Habenicht.