ÄRZTE Sache des Ethos
Was«, so will das »Deutsche Ärzteblatt« in seiner vorletzten Ausgabe wissen, »bewegt eigentlich oder erregt gar Teile der Ärzteschaft am Thema Katastrophenmedizin so sehr?«
Eine »Minderheit« der westdeutschen Doktoren, so das ärztliche Standesorgan, weigere sich demonstrativ, an Fortbildungsveranstaltungen auf dem Gebiet der Katastrophenmedizin teilzunehmen - und verstoße damit gegen die besondere »ethische Verpflichtung« des ärztlichen Berufsstandes.
Die Minderheit, deren »extreme Haltung« das »Deutsche Ärzteblatt« beklagt, läßt sich beziffern: Mehr als 6000 Mediziner - fast fünf Prozent aller berufstätigen bundesdeutschen Ärzte - haben sich einer Vereinigung angeschlossen, die in der neuerdings vieldiskutierten Katastrophenmedizin vor allem einen »Flankenschutz« für die geplante Nato-Nachrüstung sieht.
Für die IPPNW ("International Physicians for the Prevention of Nuclear War"), eine Ärzte-Initiative, der weltweit rund 60 000 Heilberufler angehören, ist jede planvolle medizinische Vorsorge gegen einen Atomkrieg gleichsam Beihilfe zum Massenmord: Nicht einmal am Rande eines nuklearen Schlachtfelds, so die Sprecher der Ärzte-Bewegung, könne die strahlenverseuchte Bevölkerung mit medizinischer Hilfe rechnen.
Wer darüber Illusionen aufkommen lasse, reiße Hemmschwellen ein und mache das drohende Unheil nur wahrscheinlicher - so die Kernaussage einer für letztes Wochenende anberaumten Protestversammlung der deutschen Sektion der Ärzte-Internationale in der Stadthalle zu Bad Godesberg. Mehr als 5000 Mediziner planten, in weißen Kitteln zum Bonner Gesundheitsministerium zu marschieren und dort eine Resolution zu überreichen - Protest gegen Pläne der Bundesregierung, die Ärzteschaft durch ein Zivilschutzgesetz für den atomaren Katastrophenfall in die Pflicht zu nehmen.
Daß die ärztliche Friedensbewegung mittlerweile »quer durch den ganzen Berufsstand geht« (so ein IPPNW-Sprecher), dokumentierte vorletzte Woche auch das »Deutsche Ärzteblatt«. Eine Umfrage der Zeitschrift kam zu dem Ergebnis, daß 47 Prozent der deutschen Ärzte eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik auch für den Fall ablehnen, daß die Genfer Abrüstungsverhandlungen bis zum Herbst 1983 erfolglos bleiben.
In einem Sammelband mit dem Titel »Wir werden euch nicht helfen können«,
soeben erschienen im Frankfurter Robinson Verlag, haben die Wortführer der ärztlichen Widerstandsfront ihre Bedenken gegen die amtlich verordnete Katastrophenmedizin ausführlich dargelegt (siehe Auszug). _(Till Bastian (Hrsg.): »Wir werden euch ) _(nicht helfen können«. Robinson Verlag, ) _(Frankfurt; 192 Seiten; 19,80 Mark. )
Plastisch schildern die Autoren das Chaos, das nach einem Atomschlag in der Bundesrepublik herrschen und alle Versuche zur Rettung ziviler Kriegsopfer vereiteln würde. Darüber hinaus wird der Verdacht formuliert, das aktuelle Interesse an der Katastrophenmedizin stehe in direktem Zusammenhang mit den Gedankenspielen von US-Strategen, die einen begrenzten Atomkrieg in Mitteleuropa ins Kalkül ziehen.
Daß sich deutsche Mediziner so zahlreich und lautstark zur Friedensliebe bekennen, ist neu: Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg waren die Ärzte willig, viele sogar begeistert mitmarschiert.
Geschlossen wie kein anderer Berufsstand stützte die deutsche Ärzteschaft den NS-Staat: Etwa jeder zweite Mediziner trat in die NSDAP ein, mehr als sieben Prozent versahen ihren Dienst in SS-Uniform.
Dennoch zeigten sie bei der Vergangenheitsbewältigung nach 1945 nur mäßige Reue. Frühere Nazis rückten in hohe Standesfunktionen auf. Erst in den letzten Jahren regte sich in der Ärzteschaft ein Gesinnungswandel.
Dramatisch beschleunigt wurde er durch einen Gesetzentwurf, den die SPD-Ministerin Antje Huber im Mai 1980 vorgelegt hatte, ein halbes Jahr nach dem Nato-Nachrüstungsbeschluß: Das sogenannte Gesundheitssicherstellungsgesetz sah vor, alle im Gesundheitsdienst tätigen Personen behördlich zu
erfassen und in Schulungskursen, womöglich zwangsweise, für den Katastropheneinsatz ausbilden zu lassen.
Dabei habe der Gesetzgeber, so argwöhnten die von Zwangsrekrutierung bedrohten Mediziner, wohl vor allem an den Atomkriegsfall gedacht. Die Vermutung wurde verstärkt, als bald darauf die Bundesärztekammer einen »Beirat« für Katastrophenmedizin etablierte und den pensionierten Bundeswehr-Generaloberstabsarzt Ernst Rebentisch zum Vorsitzenden ernannte.
Obwohl die Bundesregierung den Huber-Gesetzentwurf im Mai 1982 wieder zurückzog, rumorte das einmal geweckte Mißtrauen in der Ärzteschaft weiter.
Zum Sammelbecken für die ärztlichen Kriegsdienstgegner entwickelte sich die deutsche Sektion der IPPNW, gegründet im Februar 1982 von dem Gießener Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, einem engagierten Pazifisten, und dem konservativen Frankfurter Internisten Professor Ulrich Gottstein.
In einer von der IPPNW formulierten »Frankfurter Erklärung«, die inzwischen von fast 6300 Medizinern unterschrieben wurde, verpflichten sich die Unterzeichner, »jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin« abzulehnen und statt dessen aktiv für die Verhütung eines Atomkrieges einzutreten.
Politische Positionen, meint IPPNW-Mitgründer Richter, seien für Ärzte in Friedensfragen nebensächlich; was sie, sozusagen professionell, zu Pazifisten mache, sei ihr »Berufsethos«, das in Ost und West gleichermaßen verbindlich sei.
In der IPPNW sieht Richter die »erste blockübergreifende Friedensinitiative« - immerhin: In den Vorsitz der Ärzte-Internationale teilen sich Vertreter der beiden Supermächte, Bernard Lown aus den USA und der Russe Jewgenij Tschasow, Kardiologe und ehemals Leibarzt des verstorbenen sowjetischen Partei- und Staatschefs Leonid Breschnew.
Till Bastian (Hrsg.): »Wir werden euch nicht helfen können«.Robinson Verlag, Frankfurt; 192 Seiten; 19,80 Mark.