Zur Ausgabe
Artikel 61 / 86

KUNST Sag eins, denk zwei

Der Japaner Arakawa malt an einer gewaltigen Bild-Enzyklopädie mit dem Titel »Mechanismus der Bedeutung«. Der Frankfurter Kunstverein gibt einen Einblick in das Werk.
aus DER SPIEGEL 4/1972

Zur bloßen Augenfreude ist dem japanischen Maler Shusaku Arakawa die Kunst zu schade; Aufklärung soll ihr Ziel sein. Denn »die Verwirrung dieser blinden Zeiten zu entwirren«. scheint dem Künstler »verzweifelt notig«. Wer will ihm widersprechen?

Für seinen Teil und auf seine Weise ist Arakawa, 35, längst am Werk, um die Verwirrung zu beheben -- an einem wahrhaft enzyklopädischen Werk. Seit 1963 hat der in New York tätige Emigrant eine Art von anschaulichem Forschungs- und Lehrsystem in Arbeit, und mit jedem seiner (seither rund 100) Bilder baut er daran weiter.

Thema des weitverzweigten Projekts ist der von Arakawa so genannte »Mechanismus der Bedeutung«, das heißt: das Funktionieren von Verständigung. von Wort- und Zeichensprachen, die Beziehung von Wirklichkeit und Abbild.

Als Fundamente dieses Ideengebäudes hatte der Maler schon 1970 bei der Biennale in Venedig 17 Schau-Tafeln vorgezeigt und war damit nach fast einstimmigern Kritikerurteil zum »ungekrönten Sieger« des Festivals geworden. Ein größerer Komplex seines anspruchsvollen Unternehmens kann nun erstmals beim Frankfurter Kunstverein besichtigt werden: Zur bislang umfangreichsten Arakawa-Ausstellung wurden 53 »Mechanismus«-Bilder nach Deutschland eingeflogen.

Die großen, grau grundierten Tafeln weisen in malerischen Partien delikate Farbreize auf, nach Pop Art aufmontierte Eimer oder Oberhemden erzeugen Verblüffungseffekte. Ausgiebig eingefügte Textpartien jedoch sind nicht allein als Graphik-Elemente zu genießen; original oder in beigegebener Übersetzung erfordern sie so angestrengte Lektüre, daß ein ermüdeter Ausstellungsbesucher dem Kunstverein an die Beschwerdetafel schrieb: »Das ganze in Buchform wäre gut.«

Dem Mann kann geholfen werden. Pünktlich zur Ausstellung hat Arakawa seinen »Mechanismus der Bedeutung« (Untertitel: »Werk im Entstehen") auch gedruckt vorgelegt*: ein Kunstbuch, das -- typischer Arakawa-Gag -- in zwei auswechselbaren Schutzumschlägen geliefert wird. Der eine zeigt, silhouettenhaft, einen buddhistischen Mönch im Lotossitz, der andere ein Motiv Leonardo da Vincis.

Der so veranschaulichte Ost-West-Kontrast kennzeichnet Bildung und Lebensweg eines Künstlers, der auf die eigene heimische Tradition wehmütig distanziert zurückblickt. »Vor 400 Jahren«, sagt Arakawa »gab es noch japanische Kunst. Heute ist alles Imitation -- außer mir.«

Er selbst studierte -in seiner Geburtsstadt Tokio zunächst Medizin und Mathematik, war aber auch Mitglied einer Neo-Dadaisten-Gruppe. bastelte Abfall-Kunst und legte zementierte Wattemumien in Pappsärge. 1960 zog er dann nach New York um, und mittlerweile ist er, nach eigener Schätzung, schon »mehr als zur Hälfte westlich« geworden.

Dazu hat sicher die New Yorkerin Madeline Gins, 30, beigetragen. Die seit 1963 mit Arakawa bekannte, seit neue-

* Verlag Bruckmann. München; 126 Seiten mit 83 Tafeln; 35 Mark.

stem mit ihm verheiratete Autorin eines Romans »Word Ram« (Wortregen), die

unter anderem -- Philosophie studiert hat, plant auch so eifrig am »Mechanismus der Bedeutung« mit, daß die Eheleute ihre Werk-Anteile nicht mehr zu trennen wissen. Die Ausführung der Gemälde allerdings bleibt Arakawa vorbehalten.

Teamwork, gewissermaßen, verlangt der Künstler auch noch vom Leser und Betrachter seiner Bilder, den er mit knappen Anweisungen in eine Mitarbeiter-Rolle drängt und zur Lösung von Denksportaufgaben. zu psychologischen Tests und Meditationsübungen auffordert. »Bewegen Sie die Augen hin und her!«, so etwa wird der Kunstfreund instruiert, »Fixieren Sie die Spiegelung!«. »Riechen Sie dies!« oder auch: »Sag eins, denk zwei!«

Nicht jede dieser Losungen ist wörtlich zu nehmen. Als ihm ein Bild mit der Inschrift »Wenn möglich, stehlen Sie eine dieser Zeichnungen mitsamt diesem Satz!« tatsächlich von einer Künstler-Gang entwendet wurde, nahm Arakawa den Raub als »interessantes Mißverständnis« auf. In Wahrheit hatte er Unmögliches verlangt: den Text und nicht die Leinwand fortzutragen.

So simpel nämlich, wie Arakawas Appell zur Entwirrung der Verwirrung sich anhört, funktioniert der »Mechanismus« keineswegs. Der Sprachlogik auf der Spur, deckt Arakawa Unlogik« Willkür und Paradoxien auf -- so, wenn er »Ein weißes Hemd« aus der Sprache gleichsam in optische Vokabeln rückübersetzt: in eine weiße Fläche und ein kariertes Hemd.

Übertragungen von einem Medium ins andere, von einer Form in eine entgegengesetzte. bilden ein Lieblingsthema Arakawas. In der Spezialmethode ironischer »Kartographie«, mit bunten Schnüren als Projektionslinien« wird ein Eimer als Knoten abgebildet; die Chiffre »Fünf Meilen« könnte »Kopfweh«, köstlich« oder »Farbe« bedeuten; ein nur aus Wörtern aufgebautes Bild zeigt ("Im Begriff, sich zu spalten") zugleich eine menschliche Figur und eine Landschaft.

»Alles ist doppeldeutig«. teilt Arakawa mit. »auch die Feststellung, daß etwas doppeldeutig ist.« Probe aufs Exempel: Wenn eine Fläche schlicht als »doppeldeutig« gilt, so ist die nächste, gleich große« »doppelt so doppeldeutig«.

In solch radikalem Spiel bildnerischer Reflexion wird jede Obereinkunft angezweifelt, geht keine Gleichung mehr auf. Das »Porträt der Mona Lisa« zeigt nicht die Mona Lisa, angeblich übereinstimmende Quadrate sind offensichtlich verschieden. Dafür bleibt auf der Leinwand viel »Platz für Korrekturen«, es werden »Fehler« angestrichen oder »mindestens zehn Mutmaßungen« empfohlen. Statt gesicherter Einsichten lehrt Arakawa den Zweifel als Methode.

So wird auch der Beschauer von den nach erstem Anschein so präzisen Kommandos eher irritiert als gemaßregelt -- von der Anweisung etwa, eine gerade Linie »abstrakter« zu machen, »von außen nach innen« zu sprechen, oder (beinahe so schwer zu übersetzen wie zu tun) von der Parole: »Fuck intercourse!«

Der vertrackte Sprachwitz einer solchen Formulierung hat literarische Vorbilder bei Lewis Carroll und Christian Morgenstern; mit der Austauschbarkeit von Bild und Wort experimentierte der Maler René Magritte; der Philosoph Ludwig Wittgenstein analysierte die Unzuverlässigkeit der Sprache: Dieser geistige Ahnenkreis umschreibt (zusammen mit Einflüssen des Zen-Buddhismus) Arakawas Standort zwischen den Künsten und Wissenschaften.

Keine Frage dennoch, daß Arakawas geistvolles« auch ästhetisch inhaltsreiches Werk vor allem als Bildkunst zählt. Die allerdings ist (so der amerikanische Kritiker Lawrence Alloway in der Einführung zum »Mechanismus«-Buch) nur ein »Spezialfall der Funktion des Geistes«.

Denn Arakawa und Frau Madeline haben längst den Blick auf eine »allgemeinere Ordnung« (Alloway) gerichtet -- eine Utopie mit einem Einschlag von Größen-Wahn: Schon der »Mechanismus der Bedeutung« ist in zunächst 19 Abschnitten (wie »Stufen der Bedeutung«, »Aufspaltung der Bedeutung«. »Neuzusammensetzung") konzipiert, deren »volle Ausarbeitung« jeweils eine »lebenslange Aufgabe darstellen« würde. Das ganze Malwerk jedoch soll nur »Übergangsstudie« für eine künstlerische und wissenschaftliche »Untersuchung des Erkenntnis- und Wahrnehmungsvermögens« sein.

Inzwischen treibt der Maler seine Forschungen noch in anderen Kunstgattungen voran: Soeben hat er seinen zweiten Film vollendet, und ein »Mechanismus«-Bild möchte er auch in einer Bronze- und Marmor-Version als Obelisken aufführen. In der Straßenkunststadt Hannover steht das Denk-Mal derzeit zur Diskussion.

Zur Ausgabe
Artikel 61 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren