MUSIK Saitensprünge im Urwald
Der gemeine Geiger hat mit seinem Instrument genug zu tun. Er muß Arpeggien und Flageoletts üben, er probiert Teufelstriller und fliegende Stakkatos, und immer wieder sucht er den noch schöneren, noch volleren Ton.
Auch der Stuttgarter Violinist Michael Jelden, 25, ist auf seiner 100 000 Mark teuren Vuillaume von 1823 voll beschäftigt, auffallend gern allerdings bei extravaganten Saitensprüngen. Während seines Studiums hat er zwei Jahre als Primas einer Zigeunerkapelle gefiedelt; zum Programm seiner ersten CDs wählte er lauter hochvirtuose Stücke des ungarischen Außenseiters Jenö Hubay (1858 bis 1937), und die »üblichen sterilen Sonatenabende« sind ihm bis heute »ein Greuel«.
Derzeit tanzt der selbstbewußte Schwabe ("Ich bin der klassische Virtuosentyp") völlig aus der Reihe gediegener Violinsoireen und riskiert über den halben Erdball den Sprung ins Musikmanagement.
Wenn der Twen am 5. April, bei einer Gala-Eröffnung, als Solist Vivaldis »Jahreszeiten« streicht, wird er damit nicht nur ein neues, sondern sein eigenes Festival begründen. Das findet fast unter dem Äquator statt und soll, so Jelden, »das Salzburg der Tropen« werden. Zwei Wochen lang sollen im brasilianischen Urwald neben Klavier- und Orchesterabenden vor allem »Carmen«, »Traviata« und »Der Barbier von Sevilla« - ein Dreigestirn aus Evergreens - das opernentwöhnte Publikum am Amazonas wieder auf den Geschmack an europäischer Hochkultur bringen. In Lateinamerika hebt Jelden das »1. Festival von Manaus« aus der Taufe.
Dabei ist der aparte Spielplatz zugleich Trumpf und Handicap der Novität. Denn Jeldens neues Festspiel findet in einem notleidenden Land, bei tropischer Hitze und fern aller flotten Kulturtouristik statt, dafür aber unter der Kuppel eines sagenumwobenen Theaters, das viele für das schönste Opernhaus der Welt halten und dessen Pforten fast immer verschlossen sind.
Der Prachtbau mit dem Zuschauerraum in Harfenform entstand Ende des 19. Jahrhunderts, als Brasilien zum führenden Kautschuklieferanten der Welt wurde und Manaus zur Handels- und Genußmetropole des Landes aufstieg. Hier öffneten seinerzeit allein 11 Luxusrestaurants und 24 Nachtbars, hier wurden auch schon mal die Pferde mit Champagner getränkt.
Damals ließen die Kautschukbarone mit den Nutten auch so schöngeistige Lebedamen wie Carmen und Traviata aus Europa importieren und genossen deren Kehlen in erlesenstem Ambiente: Nach Mailänder Vorbild errichteten sie einen Singtempel mit 681 Sitzplätzen - eine Mini-»Scala« mit feinstem Drum und Dran.
Das schmiedeeiserne Gestänge wurde aus Schottland herangeschifft, das Kristall aus Frankreich, der Marmor aus Carrara, das Tuch für die Vorhänge aus Damaskus. Der Parkettboden besteht aus 12 000 Tropenholzplättchen, ohne Leim und Nagel verlegt. 36 000 im Elsaß gebrannte Kacheln in den Farben der brasilianischen Nationalflagge zieren die Kuppel.
Ein paar Jahre lang rauschten hier die Primadonnen über die Bühne mit dem handbemalten Vorhang, die Kautschuk-Kapitalisten räkelten sich genußvoll in den Logen und hielten in dem Kleinod hof. Das Theater von Manaus wurde zur Urwald-Kathedrale aller Fitzcarraldos.
Doch die Kautschukblüte währte nur kurz, Manaus verarmte, sein Opernhaus vergammelte. Zeitweise wurde es als Lagerstätte für Benzinfässer mißbraucht.
Erst 1967, nach der Einrichtung einer Freihandelszone am Amazonas, kam wieder Leben in die Region und Manaus zu Geld. Innerhalb von drei Jahren wurde das durch Milliarden Termiten bedrohte Institut für acht Millionen Dollar wieder auf den Hochglanz der Belle Epoque gebracht - alles nur Tünche, der gründliche Hausputz war vertan.
1990, im Jahr der pompös ausgerufenen Wiedereröffnung, sollten gleich 13 Opern en suite aufgeführt werden - nichts. Sechs Jahre später, zur Zentenarfeier des Juwels, war für jeden Monat der Auftritt eines Kehlen-Promis angekündigt worden - leere Versprechungen. Außer ein paar lumpigen Gastspielen tat sich nichts. Das Dornröschen döste weiter.
Von Manaus und dessen verwunschenem Opernhaus hatte der Jung-Virtuose Jelden bis vor zwei Jahren nur einen blassen Schimmer. Doch auf einer Grillparty daheim, wo er mit Kollegen mal wieder über die Tristesse des philharmonischen Tagesgeschäfts tratschte, kam plötzlich die »Schnapsidee« (Jelden) auf, im brasilianischen Abseits durchzustarten: »Mensch, mach da doch ein Festival!«
Gedacht, geplant, getan. Innerhalb von nur zwei Wochen stellte der polyglotte Jelden (acht Sprachen) einen populären Spielplan zusammen, gründete »aus steuerlichen Gründen« die vornehm verklausulierte Agentur F.A.I.M. (Fine Artists International Management) und trieb dann über Fax und Handy Künstler und Kulissen auf.
Die wichtigsten Gesangssolisten verpflichtete er am angesehenen Teatro Colón in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires.
Den »dicksten Brocken«, das bei Oper und Konzert aufspielende Orchester, holt sich Jelden aus dem weißrussischen Minsk. Die 100 Musiker des dortigen Bolschoi-Theaters und deren Instrumente werden mit Bussen und Lastern zum Frankfurter Rhein-Main-Flughafen geschafft; den weiteren Transport, auch den der für einen Pauschalpreis gemieteten Komplett-Inszenierungen der drei Opern, übernimmt die brasilianische Varig-Gesellschaft zum Freundschaftspreis.
Die Übernachtung in den Hotels von Manaus hat der clevere Streicher auf 22 Dollar pro Nacht und Person heruntergehandelt; die Musiker bescheiden sich mit Mini-Gagen. Jelden: »Die werden zu Hause so miese bezahlt, daß sie fast alle tagsüber noch in der Fabrik arbeiten müssen.«
Die möglichen Sponsoren vor Ort - immerhin hat Jelden dort Sony, BASF, Lego, Philips und Honda entdeckt - haben dem schwäbischen Festivalier bislang nichts zugesagt: »In Manaus sind in den letzten Jahren immer wieder dubiose Agenten aufgetaucht, die haben das Blaue vom Himmel versprochen und nichts gehalten«; nun sei die Industrie »genervt« und »frustriert«.
Das Opernhaus allerdings steht Jelden gratis offen; die Kosten für Bühnenarbeiter, Reinigungspersonal und den Druck der Programmhefte übernehmen Regierungsstellen.
Immerhin: Rund 350 000 Mark Kosten hat Jelden hochgerechnet. Aber er ist guter Dinge, sogar kunstbeflissene Kleinverdiener durch seine Sozialtarife ködern zu können. Bei den Premieren sind die Billetts um die 30 bis 55 Dollar, in den Normalvorstellungen um die 20 bis 45 Dollar gestaffelt. Das einzige Klavierrecital - rund zehn Dollar Einheitstarif - ist fast geschenkt.
Optimistisch hat der schwäbische Fitzcarraldo schon jetzt für 1998 die New York City Opera mit Puccinis »Bohème« in den Urwald getrommelt. Dann muß die arme Mimi ihr eiskaltes Händchen unter tropischer Sonne besingen lassen.