FILM Salto rückwärts
Darf man es einem Thriller verübeln, dass sein Plot auf die haarsträubendste Weise an den Haaren herbeigezogen ist? Man darf es (und tut es), wenn man sich durch die Auflösung des Rätsels - die ja, so Raymond Chandler, nur wie die Olive in einem Martini sein soll - für dumm verkauft fühlt; man lässt jedoch, wie bei einem guten Hütchenspieler, fünf gern gerade sein, wenn das Vergnügen an ihrer Virtuosität die Mystifikation wert ist. Für Christopher Nolans »Memento« gilt das sicher, wenn auch sonst nahezu nichts daran wirklich sicher ist.
»Memento« erzählt von einem Mann, ehemals Versicherungsdetektiv, namens Shelby, der in Folge einer Kopfverletzung an einem besonderen (und vielleicht nur für die besonderen Zwecke dieses Films erfundenen) Gedächtnisdefekt leidet: Er vergisst nach zehn oder fünfzehn Minuten immer wieder, was eben passiert ist; der Transfer vom aktuellen Arbeitsspeicher seines Hirns, dem Hippocampus, auf die Festplatte des Gedächtnisses funktioniert nicht mehr, immer wenn er sich das Kommando »Strg+S« gibt, wird alles gelöscht.
Es kann ihm also passieren, dass er einer Freundin ins Gesicht schlägt, worauf sie wegrennt, und sie dann, wenn sie nach ein paar Minuten mit blutender Lippe zurückkommt, sichtlich bestürzt fragt, wer sie denn sei und wer sie so übel zugerichtet habe. Er wäre bereit, diesen brutalen Kerl auf der Stelle zusammenzuschlagen.
Das Letzte, woran Shelby sich exakt zu erinnern meint, bevor ein Schlag über den Schädel sein Hirn für immer beschädigte, ist die Ermordung seiner Frau, und sein einziger, obsessiv verfolgter Lebenszweck ist seither Rache: den Mörder finden und kaltmachen! Ein Mann wie Shelby - bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass er weder Angst noch Schuldgefühl kennt, weder Skrupel noch Beißhemmung - wirkt wegen seiner Gefühlskälte nicht eben sympathisch, ist aber natürlich als Krimi-Kunstfigur ungemein interessant, nämlich unberechenbar und blitzgefährlich: Sein Darsteller Guy Pearce verleiht dem hübschen, harten Kerl einen eisigen Killercharme.
Es wäre natürlich, da Shelbys Erinnerungen bis zu jenem Mordmoment absolut intakt sind, für ihn nahe liegend und geradezu zwingend vernünftig, wenn er in Anbetracht seiner Orientierungsprobleme weiterhin in gewohnter Umgebung und in Kontakt mit vertrauten, vielleicht sogar hilfreichen Freunden bliebe. Aber dann (und das wäre ja auch schade) käme Christopher Nolans Thriller »Memento« gar nicht in Gang, denn der zeigt den Mann ohne Gedächtnis ganz grundlos auf der Flucht, als hielte er sich für Doktor Kimble, und in seinem Racheverlangen geradezu selbstmörderisch blind.
Kein Wunder, dass es tückischen Mitmenschen gelingt, diesen Ex-Detektiv, der sich naturgemäß für besonders schlau hält, durch die Vorspiegelung falscher Tatsachen so für dumm zu verkaufen, dass er, als nützlicher Idiot von ihnen ferngesteuert, im Lauf des Films zwei Morde begeht. Dass das eine oder das andere Opfer der Mörder seiner Frau gewesen sei, glaubt außer ihm niemand, und er selbst wird auch das nach spätestens einer Viertelstunde vergessen haben. Vielleicht hat er den tatsächlichen Mörder längst erwischt, ohne sich noch daran zu erinnern. Vielleicht wird er ihn nie finden. Und vielleicht, wer weiß, hat er seine Frau selbst umgebracht.
So what? Oder anders: Wie kann es denn sein, dass »Memento« der Ruf vorauseilt, ein Thriller von ganz neuartiger Gerissenheit und Bravour zu sein? Und dass der Brite Christopher Nolan, 31, in Los Angeles durch dieses mit sparsamster, bescheidenster Ökonomie konstruierte und inszenierte Kunststück dermaßen Furore gemacht hat, dass in seinem nächsten Film gleich Al Pacino und Robin Williams die Hauptrollen spielen werden?
Ja, das ist ihm gelungen, weil Nolan mit einem ingeniösen Trick Shelbys ganze (eigentlich allzu abgekartete) Geschichte so auf den Kopf gestellt hat, dass sie den Zuschauer selbst - wenn er in diesem Hindernislauf durch Gedächtnislücken nicht den Kopf verlieren will - zu spannender, Schwindel erregender Gedächtnisakrobatik zwingt. Der Trick scheint so einfach, wie es nur ein wirklich guter Trick sein kann: Nolan erzählt, was Shelby erlebt, Szene um Szene chronologisch rückwärts.
Die Wirkung kommt also immer vor der Ursache, und es geht in dieser umgekehrten Springprozession immer einen Schritt vor und zwei zurück. Die Erfahrung, dass wir Zuschauer also, wie Shelby selbst, von Moment zu Moment nicht wissen, was vorher passiert ist, schafft eine erstaunlich produktive Irritation und setzt kurzerhand die Krimi-Erwartung außer Kraft, dass es, wo ein Rätsel ist, auch eine ordentliche Auflösung geben müsse.
Natürlich ist »Memento« nicht im Ernst eine tief gründende Reflexion über Raum und Zeit und Identität und Gedächtnis, vielmehr ein elegantes Gedankenspiel, das bewusst an der Oberfläche der Erscheinungen bleibt. Der Film hat jene KrimiQuiz- oder Puzzle-Qualität, die nach dem Kinobesuch in der Kneipe Diskussionen stimuliert, wie sich alles unstimmig Scheinende doch irgendwie sinnfällig zusammenreime, er hat jedoch den Schönheitsfehler, dass er ziemlich kalt lässt: Ein Held ohne Gedächtnis und ohne Gewissen ist eben auch ein Held ohne Tiefe, und den beiden Gegenspielern, die ihn nur immer belügen und betrügen (Carrie-Anne Moss und Joe Pantoliano), lässt sich noch weniger nachsagen, dass sie nett seien.
Nur ganz am Rand, in ein paar kleinen Schwarzweiß-Szenen, wird eine zutiefst rührende Geschichte erzählt: die Geschichte eines Mannes, der seine Frau umbringt, ohne es selber zu merken, weil er sein Gedächtnis verloren hat. URS JENNY