Berlins Antisemitismusbeauftragter »Es werden keine Freiheiten eingeschränkt«

Samuel Salzborn, Ansprechpartner zu Antisemitismus des Landes Berlin
Foto: Britta Pedersen / picture alliance / dpaSamuel Salzborn, 43, ist Politikwissenschaftler und war Professor an der Georg-August-Universität Göttingen und am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Seit dem August 2020 ist er der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin.
SPIEGEL: Herr Salzborn, gestern haben die Leiter von neun großen Kulturinstitutionen der Bundesrepublik gemeinsam eine Initiative vorgestellt. »Weltoffenheit GG 5.3« heißt sie, nach dem Artikel 5.3 des Grundgesetzes, der die Meinungsfreiheit garantiert. Die sei gefährdet, glauben die Leiter des Goethe-Instituts, des Humboldt-Forums und diverser Theater und Forschungsinstitute. Und zwar durch eine Resolution des Bundestages, die vor einem Jahr bestimmte Formen der Kritik am Staat Israel als antisemitisch bezeichnet hat. Stimmt das? Wie beurteilen Sie das als Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin?
Salzborn: Mich hat dieser Aufruf irritiert und verstört. Gerade sind die Plädoyers des Prozesses gegen den Attentäter von Halle gehalten worden, das Chanukkafest beginnt, und es lässt sich über die vergangenen Monate ein massiver Anstieg antisemitischer Vorfälle feststellen. Da lässt es mich ratlos zurück, wie man einen so selbstbezogenen Aufruf platzieren kann, der die schreckliche Entwicklung des Antisemitismus in der Bundesrepublik ausblendet.
SPIEGEL: Die Verfasser des Aufrufs sagen das Gegenteil: Die Resolution des Bundestages lenke vom Kampf gegen wirklichen Antisemitismus ab.
Salzborn: Was soll der echte Antisemitismus sein? Wir wissen aus der Forschung, dass es verschiedene Formen des Antisemitismus gibt. Da ist der rechtsextreme Antisemitismus, der Antisemitismus, der aus einem islamischen Kontext kommt – und eben auch ein linker Antisemitismus und ein Antisemitismus der Mitte. Es gibt Judenhass in allen Teilen der Bevölkerung, und ich kann nur davor warnen, mit dem Finger auf andere zu zeigen und ihn immer bei denen zu verorten. Der gegen Israel gewendete Antisemitismus ist zu einer globalen Integrationsideologie geworden, die politische Milieus miteinander verbindet. Aus meiner Sicht gibt es nach Jahren der Ignoranz in der Politik nun zum ersten Mal den Wunsch, es nicht bei Sonntagsreden zu belassen, sondern den Kampf gegen Antisemitismus wirklich aufzunehmen. Und dazu gehört eben auch das Feld von Kunst und Kultur.
SPIEGEL: Aber kann es die Aufgabe des Staates sein, in die inhaltliche Hoheit der Kulturinstitutionen einzugreifen? Die Leiter beklagen, die offene Debatte werde durch die Bundestagsresolution eingeschränkt.
Salzborn: Die Grundannahme ist falsch. Es werden keine Freiheiten eingeschränkt, nicht in der Wissenschaft und nicht in der Kunst. Was sich verändert hat, ist die Wahrnehmung. Es gibt eine größere Sensibilität als früher. Die Klage über die Gefährdung der offenen Debatte hängt schief: In Wirklichkeit soll so die Diskussion über antisemitische Positionen abgewürgt werden. Wer solche vertritt, oder mit ihnen kokettiert, muss eben damit rechnen, dass er oder sie auch dafür kritisiert wird. Wer darauf reagiert, indem er sich auf die Freiheit der Kunst beruft, weicht aus.
SPIEGEL: Aber es gibt ein Recht auf freie Meinungsäußerung.
Salzborn: Richtig. Es gibt aber auch den Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt und den Artikel 3, der Diskriminierung verbietet. Ich halte es für gefährlich, wenn mit der Berufung auf Artikel 5 versucht wird, eine Beliebigkeit herzustellen, in der alle Meinungsäußerungen möglich sein sollen – auch antisemitische. Darin liegt auch eine große Ignoranz all den Jüdinnen und Juden gegenüber, die antisemitisch beleidigt und angegriffen werden. Oder, wenn sie Künstler sind, von Boykottaktionen betroffen sind.
SPIEGEL: Es gibt aber eine ganze Reihe jüdischer und israelischer Stimmen, die sagen, dieser Umgang mit dem Begriff des Antisemitismus verwässere die Probleme. Den Staat Israel und seine Politik müsse man kritisieren können. Machen Sie es sich nicht zu einfach?
Salzborn: Nein. Es ist sehr einfach, die Linie zwischen der Kritik am Staat Israel und seiner Politik zu ziehen – und Antisemitismus. Ersteres gibt es überall in Deutschland, in jeder Zeitung wird die Politik Israels kommentiert, wie die vieler anderer Staaten auch. Antisemitisch wird sie in dem Augenblick, wo der jüdische Staat als solcher infrage gestellt wird. Wenn doppelte Standards angelegt werden.
SPIEGEL: Warum ist das antisemitisch?
Salzborn: Doppelte Standards meint: Israel wird komplett anders bewertet, als andere Staaten. Man misst mit zweierlei Maß, weil man Israel delegitimieren will. Was doppelt fatal ist, weil es die einzige Demokratie im Nahen Osten ist, die sich fortwährend gegen Terrorismus wehren muss.
SPIEGEL: Die Stadt München hat sich geweigert, für eine Veranstaltung Räume zu vermieten, bei der sie davon ausging, dass die Israel-Boykott-Bewegung BDS dahinterstecke. Ein Gericht hat das zurückgewiesen und entschieden, die Meinungsfreiheit werde so eingeschränkt. Wie ist es hier in Berlin? Nehmen Sie auf diese Art Einfluss?
Salzborn: Es gibt eine klare Position des Senats und des Abgeordnetenhauses gegen jede Form des Antisemitismus. Auch gegen den, der sich gegen den Staat Israel richtet.
SPIEGEL: Haben Sie schon einmal einer Veranstaltung Räume verweigert?
Salzborn: Das liegt nicht in meiner Kompetenz. Das liegt bei den Institutionen. Was ich machen kann, ist, mich im Gespräch mit Institutionen auszutauschen. Was diese machen, liegt in deren Verantwortung.
SPIEGEL: Thomas Krüger, der Leiter der Bundeszentrale für Politische Bildung, sagt, er beobachte bei seinen Mitarbeitern »Selbstzensur«. Das kann doch nicht im Interesse des Staates oder der Öffentlichkeit liegen?
Salzborn: Wenn ich mir das Programm der Bundeszentrale anschaue, sehe ich ein sehr breites Spektrum an Positionen und Meinungen, die dort möglich sind. Wenn es Selbstzensur gibt, spiegelt sich das nicht in der sichtbaren Arbeit. Selbstverständlich ist es eine Herausforderung, sich Rassismus und Antisemitismus zu stellen, wenn man in so einer Institution arbeitet. Ich würde das eher als Gewinn sehen, diese Auseinandersetzung zu suchen.
SPIEGEL: Berlin lebt davon, dass kluge Köpfe aus aller Welt herkommen. Ist es nicht gefährlich, wenn wichtige Institutionen sagen, dass der BDS-Beschluss des Bundestages es erschwere, Gäste aus dem sogenannten Globalen Süden zu holen?
Salzborn: Ich finde, dass das ein trauriges Bild des Globalen Südens und der Kulturszene zeichnet. Ich glaube nicht, dass es die Realität der globalen Kulturszene abbildet. So zu tun, als hätte man es bei allen Künstlerinnen und Künstlern aus Afrika oder dem arabischen Raum mit Menschen zu tun, die ein Problem mit dem Staat Israel haben, scheint mir holzschnittartig. Die globale, postkoloniale Debatte ist berechtigt und ausdifferenziert und so zu tun, als gebe es dort nur antisemitische Positionen und man könne sonst niemand einladen, nur weil es einzelne Positionen gibt, die tatsächlich fragwürdig sind, halte ich für oberflächlich. Aber wir brauchen die Diskussionen über Antisemitismus auch im postkolonialen Kontext. Denn wir können nicht die eine Form der Diskriminierung in Kauf nehmen, um die andere zu bekämpfen.