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FILM / NEU IN DEUTSCHLAND Satte Scheusale

aus DER SPIEGEL 32/1968

Ich bin zwanzig Jahre alt (Sowjet-Union). Fünfzig Jahre nach dem großen Roten Oktober ist das junge Rußland der etablierten Sowjetgesellschaft überdrüssig. Die Enkel der Revolution verspotten ihre Armee, ihre Kunst und ihre Funktionäre, diese »satten Scheusale mit den ehrlichen Augen«; der Tag der Arbeit ist ihnen nur noch »ein Anlaß zum Saufen«.

Auf Blues und Jzz tanzen die Sowjet-Twens vor Lenins Grabmal, sie gammeln am Moskwa-Ufer und steigen jedem schnieken Mädchen hinterher -- denn sie wissen nicht, was sie sonst tun sollen. Enttäuscht vom Salbadern der obersten Sowjets und unzufrieden mit sich selbst, suchen die skeptischen Komsomolzen nach nowy Mir, nach neuem Leben.

Das drei Stunden dauernde Kino-Melodram hat der Regisseur Marlen Chuzjew 1962 mit irrlichternder Kamera, polemischen Bildern vom sozialistischen Aufbau und von jugendlichen Grüblern inszeniert und dabei Moskau so schön aufgenommen, daß dem russischen Kulturkritiker Viktor Nekrassow »zuweilen Tränen des Glücks« in die Augen stiegen. Den damaligen Sowjet-Premier Nikita Chruschtschow jedoch packte der Zorn über die halbwüchsigen »Lumpen und Mißgeburten«. Er gab den Film erst beschnitten frei.

Der so bearbeitete »Meilenstein unserer Filmkunst« (Nekrassow) wird am Dienstag im Ersten Deutschen Fernsehen gezeigt -- deutsche Film-Verleiher waren an dem anspruchsvollen Lichtspiel, das unterdessen rund zwölf Millionen Russen betrachtet haben, nicht interessiert.

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