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Schattengleich im Swimmingpool

Mit Spezialbrille, sensorbestücktem Overall und glasfaserverkabelten Handschuhen - wie zu einem Mondspaziergang rüstet sich der »Cybernaut« zum Ausflug in eine künstliche Wirklichkeit. US-Wissenschaftler entwickeln Computer-Systeme, für die der Benutzer keinen Monitor und keine Tastatur braucht: Er ist mittendrin.
aus DER SPIEGEL 34/1990

Äußerlich unterscheidet sich Howard Rheingold, 43, Fachbuchautor und Computerfan, in nichts von seinen Nachbarn im kalifornischen Mill Valley, 15 Autominuten nördlich von San Francisco. Am Wochenende widmet er sich als Hobbygärtner, solide und bodenständig, Rasen und Gemüsebeeten.

Wundern würden sich die Nachbarn, wenn sie wüßten, was der nette Mr. Rheingold während der Woche an seinem PC so treibt. Da beschäftigt ihn beispielsweise die Frage, wie es wohl wäre, Sex mit einem Computer zu haben.

Ist Howard ausgeflippt, ein armer Irrer? Keineswegs. 75 000 Dollar Vorschuß zahlte ihm der New Yorker Verlag Simon & Schuster für das Buch, an dem er gerade arbeitet. Es handelt von Menschen, die sich in Software verwandeln.

Als leblose, aber künstlich belebte Datenwesen tauchen sie ein in eine Welt hinter dem Computerbildschirm - in die »Virtual Reality«, eine im Rechner erzeugte, dreidimensionale »künstliche Wirklichkeit«.

Im »Cyberspace«, wie das digitale Universum auch genannt wird, können die Datenreisenden wie mit Geisterhänden an Molekülen herumbiegen oder, schattengleich, einen Spaziergang auf dem Mars unternehmen; sie springen in imaginäre Swimming-pools (ohne sich dabei naß zu machen), oder sie schwirren, Handbewegung genügt, wie Supermann durch einen virtuellen Äther.

Was für Computer-Laien wie reine Science-fiction klingt, ist bereits Wirklichkeit geworden. In amerikanischen High-Tech-Labors ist die synthetische Fabelwelt, wenn auch noch technisch unvollkommen, zu besichtigen. Computer-Autor Rheingold ist überzeugt: »Da kommt was ganz Großes auf uns zu.«

Besonders in den USA begeistern sich immer mehr Wissenschaftler, Manager und Computerfans für die Wunder, welche die »Virtual Reality« ("VR") verspricht. Auch auf dem diesjährigen »Ars Electronica«-Festival im österreichischen _(* Fotomontage. ) Linz im September werden »Virtuelle Welten« zu sehen sein. Das US-Nachrichtenmagazin Newsweek geriet schon ins Schwärmen: Die neue Technologie werde »unseren Begriff von Wirklichkeit verändern«.

Einstweilen ist der Ausflug ins programmierte Paradies noch mit erheblichem technischen Aufwand verbunden. Teure Grafikcomputer auf dem neuesten Stand der Technik gehören zur Grundausstattung.

Vorbereitet wird der »Einstieg« in den Rechner ähnlich umständlich wie ein Spaziergang auf dem Mond, so mancher Trip in die künstliche Wirklichkeit endet vorzeitig im Kabelsalat.

Die Cybernauten müssen schwere Spezialbrillen mit zwei eingebauten Minibildschirmen aufsetzen, sensorbestückte Kunststoffanzüge oder glasfaserverkabelte Handschuhe überziehen, manchmal auch eine Art Tretmühle besteigen; mit den Sensoren an Händen, Armen und Füßen teilt der Cybernaut seine Bewegungen dem Rechner mit.

Die elektronische Gegenwelt ist fürs erste noch grob gerastert - die Hand, die der Cybernaut (dreidimensional) im Schattenreich vor Augen sieht, ist nur ein fühlloses Daten-Abbild seiner lebendfrischen Hand, die im Synthetik-Fingerling schwitzt.

Der Begeisterung über das neuartige Digitalgefühl tut das keinen Abbruch. »Virtual Reality« ist der erfüllte Traum vieler Computerfreaks. Buchstäblich zum Greifen nah erscheint ihnen nun, wofür der amerikanische Science-fiction-Autor William Gibson in seinem 1984 erschienenen Zukunftsroman »Neuromancer« den Begriff »Cyberspace« prägte: die digitale Kunstwelt eines globalen Datennetzes, in dem Computer und Menschengehirne direkt miteinander verbunden sind.

Gibsons Vision von »Cyberpunks« mit Chip-Implantaten im Schädel, die auf der Suche nach sinnlichen Sensationen rastlos durch unendliche Softwarelandschaften streifen, inspirierte seither Schriftsteller, Musiker, Designer und Computerkünstler ebenso wie jugendliche Hacker. In den USA hat sich in den letzten Jahren eine regelrechte »Cyberpunk«-Subkultur entwickelt. Als ihr wichtigstes Forum gilt das Hochglanzmagazin Mondo 2000, das im kalifornischen Berkeley erscheint und seinen Lesern verspricht: »Die eigentliche Computer-Revolution steht noch bevor.«

An Verfahren, Computerbenutzer mittels spezieller Ein- und Ausgabegeräte quasi in den Rechner hineinzuversetzen, wird bereits seit über 20 Jahren gearbeitet. Neue Prozessoren und Speicherchips haben jetzt die enormen Fortschritte auf diesem Gebiet ermöglicht. Nutzbringende Anwendungen liegen, so meinen VR-Experten, auf der Hand.

So prophezeit etwa Michael McGreevy, ein Cyber-Pionier, der als Projektmanager seit 1984 das VR-Labor der Nasa in Moffett Field leitet, das Verfahren werde »für die Erkundung ferner Planeten absolut unerläßlich« sein: In den Weltraum entsandte, mit Videoaugen ausgestattete Roboter könnten sich, wie ferngelenkte menschliche Kundschafter, am Millionen Kilometer entfernten Tatort tummeln - »als ob man selbst dort wäre«, erläutert McGreevy, »bloß sicherer«.

»Virtual Reality wird die Welt verändern«, verkündete, gleichfalls enthusiastisch, McGreevys Fachkollege Warren Robinett von der University of North Carolina in Chapel Hill. Dort wird die neue Technologie schon praktisch genutzt - als räumliche Planungshilfe beim Entwurf von Architektur. So konnten die Computerwissenschaftler ihr neu errichtetes Millionen-Gebäude »Sitterman Hall« bereits lange vor Baubeginn gründlich inspizieren: Sie besichtigten ein Cyberspace-Modell - »von innen«.

Ein VR-Programm speziell für Architekten, das im nächsten Jahr vorgestellt werden soll, wird gegenwärtig von dem kalifornischen Softwarehaus Autodesk entwickelt. Die Firma, die in Sausalito über ein eigenes VR-Labor ("Cyberia") verfügt, ist als Anbieter des weitverbreiteten Konstruktionsprogramms »Autocad« bekannt geworden. Firmenchef John Walker gab das Arbeitsmotto aus: »Realität ist nicht mehr genug.«

Viele Computerfreaks finden das schon lange. Scharenweise rennen Neugierige den VR-Projekten die Türen ein. »Vor lauter Vorführungen«, klagt Frederick P. Brooks, Computerwissenschaftler in Chapel Hill, »kommen wir hier kaum noch zum Arbeiten.«

Schon die - noch provisorisch anmutende - Laborausführung der Cyberspace-Technologie macht auf die meisten Besucher starken Eindruck. »Selbst mit der groben Grafik sehr einfacher Systeme«, so VR-Pionier Thomas Furness von der University of Washington in Seattle, »werden die Leute richtig angeturnt.«

Der Wissenschaftler, er leitet das neue VR-Labor in Seattle, entwickelte bis vor kurzem noch Flugsimulatoren für die U.S. Air Force. Bereits 1981 hatte Furness einen Pilotenhelm derart zum tragbaren 3-D-Datensichtgerät umgebaut, daß dem Träger darin ein ganzes Jet-Cockpit vorgegaukelt wurde.

Für Furness liegt in Cyberspace »die Zukunft der elektronischen Datenverarbeitung«. Mit seinem neuen Team arbeitet der Wissenschaftler jetzt am kommerziellen Prototyp eines Cyberspace-Sets, das mit »hoher Leistung und niedrigem Preis« den herkömmlichen Computermonitor ablösen soll.

In der Tat galt die Schnittstelle ("interface") zwischen Computer und Benutzer bislang als »last frontier« (so das US-Wissenschaftsmagazin Scientific American) in der Computerentwicklung. Die »letzte Grenze« bestimmt, wieweit die Möglichkeiten der Datentechnik wirklich genutzt werden können.

Mit Tastatur und Monitor allein ist es längst nicht mehr getan. Wenn heute beispielsweise immense Datenmengen blitzschnell zu räumlichen Farbbildern »verrechnet« werden, wie etwa beim computerunterstützten Design, so ist der Anwender dabei mit den gewöhnlichen Ein- und Ausgabegeräten meist schlecht bedient.

Über die Tasten muß er sich mühsam an bestimmte Bildstellen und Felder des Befehlsmenüs auf dem Monitor »herantippen« - etwa um den Blickwinkel zu ändern, aus dem ein Objekt betrachtet werden soll. Der herkömmliche Bildschirm wiederum vermittelt auch bei 3-D-Grafiken nur einen schwachen räumlichen Eindruck.

Die Eingabe klappt schon besser, seit es die sogenannte Maus gibt. Indem der Anwender das kleine Gerät mit der Abrollkugel an der Unterseite auf dem Schreibtisch hin- und herschiebt, kann er einen kleinen Pfeil, als »verlängerten Zeigefinger«, an jeden beliebigen Punkt auf dem Monitor lenken. Seine Anweisungen gibt er dabei per »Maustaste«. Ein kurzes »Anklicken« reicht, um etwa ein Objekt auf dem Bildschirm zu drehen.

Zukünftige Benutzer könnten ganz ohne Schiebetier und Tasten auskommen. Wie das geht, demonstriert erfolgreich die Firma VPL Research im kalifornischen Redwood City.

Als exklusiver Ausrüster für gehobenes Datenreisen macht VPL-Chef Jaron Lanier, 30, unter dem Motto »Virtual Reality kommt!« bereits reelle Millionen. Sein EyePhone (9400 Dollar), das erste Cyberspace-Sichtgerät auf dem Markt, und der VPL-Datenhandschuh Data-Glove (8800 Dollar) gehören zur Grundausstattung fast aller VR-Labors. Die »Welt ohne Grenzen« (Lanier) ist bei VPL im Paket zu haben, die Komplettlösung (Preis: 225 000 Dollar) kombiniert modernste Komponenten aus der militärischen und zivilen Computerentwicklung: *___Zwei leistungsstarke Iris-Arbeitsplatzrechner ____(sogenannte Workstations) von Silicon Graphics ____übernehmen die Bildverarbeitung in Echtzeit, also ohne ____wahrnehmbare Verzögerung. Ein Personalcomputer vom Typ ____Apple Mac II dient als »Kontrollzentrum«. *___Das schwere EyePhone, das wie eine Taucherbrille ____getragen wird, ist mit dem System über eine eigene ____Steuereinheit verbunden. Eingebaut sind zwei kleine ____Sony-Flüssigkristall-Monitore (je 86 000 Bildpunkte), ____für jedes Auge einer, ergänzt durch eine spezielle ____Weitwinkeloptik. *___Der Datenhandschuh DataGlove ist ebenfalls an eine ____eigene Kontrolleinheit angeschlossen und mit dem ____Eye-Phone synchronisiert. An jedem Finger läuft ein ____Glasfaserkabel entlang. Es verbindet eine Leuchtdiode ____und einen Phototransistor, der Licht in elektrische ____Signale für den Computer umwandelt. An den Gelenken ist ____das Kabel so präpariert, daß Licht entweicht, wenn der ____Finger gekrümmt wird; die übrigbleibende Lichtmenge ____dient als Signal für den Grad der Krümmung. Nach ____demselben Prinzip funktioniert auch der bei VPL ____entwickelte Cyberspace-Taucheranzug DataSuit. *___Im EyePhone und am Datenhandschuh ist jeweils ein ____elektromagnetischer Polhemus-Positionssensor ____angebracht. Der kleine Würfel, hergestellt von einer ____Tochterfirma des US-Konzerns McDonnell Douglas, meldet ____dem Computer, wo sich Kopf und Hand des Benutzers ____gerade befinden.

Mit diesem Equipment muß sich der Cyberspacer nicht mehr mühsam über eine flache Bildschirm-»Benutzeroberfläche« tippen oder klicken. Statt dessen wird er vom EyePhone buchstäblich ins Bild gesetzt - dreidimensional: Die Iris-Grafikrechner spielen auf die beiden Mini-Bildschirme zwei Ansichten derselben Szene ein, für das linke Auge etwas mehr von links gesehen, für das rechte Auge mehr von rechts.

Statt Abrollkugel und Maustaste sind es nun Kopf und Hand des Anwenders, deren Bewegungen vom Rechner als _(* Mit einem Datensichtgerät, das wie ein ) _(Motorradhelm getragen wird. ) Befehle interpretiert werden - der Benutzer selber spielt Mäuschen im Cyberspace. Wird der Kopf gedreht, verschiebt sich das Blickfeld des Benutzers. Wer sich im virtuellen Raum einem digitalen Objekt nähern will, braucht nur die Finger danach auszustrecken. Der Computer wird quasi von innen bedient, eine einfache Handbewegung genügt, um Datengebilde zu verschieben oder zu verändern.

Ein Demo-Programm von VPL verdeutlicht die Gestaltungsmacht des Cyberspacers: Ballt der Benutzer seine Faust in einem imaginären schwarzen Zylinderhut, der vor ihm durch die computergenerierte Phantasiewelt schwebt, so verwandelt sich die altmodische Röhre, simsalabim, in eine blühende rote Rose. Bei anderen Programmen lassen sich Kopf, Hand oder Körper des Cybernauten beliebig abbilden - mal als Kaninchen, dann wieder als Teekanne oder als Marilyn Monroe.

Mit derlei High-Tech-Hokuspokus beeindruckt VPL-Chef Lanier gern seine Besucher. Gelegentlich lädt er auch zu Computer-Partys mit der 450 000 Dollar teuren RB2-(Reality Built for 2-)Anlage. Auf den vier Iris-Rechnern, an die sich zwei Benutzer gleichzeitig anstöpseln können, geht es dann heiß her. Besonders beliebt ist das High-Tech-Haschmich im Datenspeicher. Den Trick verrät ein Teilnehmer: »Man muß sich im Kopf des Mitspielers verstecken.«

Seit mit VPL-Produkten wie dem Eye-Phone und dem DataGlove die ersten VR-Anwendungen auch für kleinere Forschungsinstitute und Firmen erschwinglich sind, sieht Cyberspace-Pionier McGreevy von der Nasa ein »unglaublich dynamisches Wachstum« seines Fachgebiets. »In zwei Jahren wird schon viel von dieser Technologie draußen zu haben sein«, schätzt Autodesk-Projektleiter Randal Walser. »15 Jahre mehr, und Cyberspace ist so verbreitet wie der Personalcomputer.«

Ein Anfang ist gemacht. Für 89 Dollar (Materialwert: weniger als 30 Dollar) bietet der Spielzeughersteller Mattel jetzt eine abgespeckte Lizenzversion des VPL-Datenhandschuhs an, als Joystick-Ersatz für den Heimrechner: Statt mit dem »Lustknüppel« können bestimmte Computerspiele nun mit Mattels Power Glove gesteuert werden.

Vielen Wissenschaftlern ist nicht ganz wohl bei dem Rummel um die »Virtual Reality«. Sie sprechen von einer »VR-Manie« und übersteigerten Erwartungen. Noch ist beispielsweise ungeklärt, mit welchen Mitteln etwa Gehör und Tastsinn im Cyberspace angesprochen werden könnten - von Geruchs- und Geschmackssinn ganz zu schweigen.

Manchen genügt schon die Vorfreude. So konnten amerikanische Fernsehzuschauer kürzlich miterleben, wie im Cyberspace eine Legende wiederbelebt wurde. Angetan mit EyePhone und Data-Glove, paddelte da Timothy Leary, 69, Drogenpapst und LSD-Prophet der 60er Generation, aufgeregt plappernd über die TV-Bühne. Ekstatisch bejubelte der ehemalige Szene-Guru »ein neues wunderbares Kapitel in der Menschheitsgeschichte«.

Seitdem tourt er in Sachen »digitale Bewußtseinserweiterung« wieder durch die Weltgeschichte. Mitte September will der angejahrte Trendsetter auch in Heidelberg, Hamburg und Ost-Berlin auftreten, um sein Cyberspace-Evangelium zu verkünden.

Die Zeit ist reif, Leary trifft auf ein erwartungsvolles Publikum. Nasa-Projektleiter Michael McGreevy kennt die Klientel, der die digitale Flucht aus der Realität gar nicht schnell genug gehen kann. »Da draußen sind Leute«, sagt er, »die würden am liebsten sofort in ihren Computer hüpfen.«

* Fotomontage.* Mit einem Datensichtgerät, das wie ein Motorradhelm getragen wird.

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