Zur Ausgabe
Artikel 81 / 85

ARCHÄOLOGIE / ATLANTIS Schatz unter der Asche

aus DER SPIEGEL 46/1969

Das Land des Meeresgottes Poseidon, berichtet der griechische Philosoph Plato, war »reichlich mit allen Gaben der Natur beschenkt": mit Erzen und Gesteinen, zahmen Tieren und Wild, mit Früchten, Blumen und Gewürzen. Hinter seinen mit Kupfer, Zinn und rotem Gold plattierten Mauern standen Tempel und Paläste, waren Kanäle, Häfen und Schiffsarsenale angelegt.

Dann aber, »an einem einzigen Tag und in einer Nacht voller Schrecken«, meldet Plato, »verschwand die Insel Atlantis in der Tiefe des Meeres«.

Den verschollenen Kontinent haben Wissenschaftler und Abenteurer wiederzufinden versucht -- am Grunde des Atlantischen Ozeans und des Schwarzen Meeres, in der Ostsee und bei Helgoland. Etliche Gelehrte hielten das versunkene Reich wiederum für ein Traumland des antiken Philosophen.

Seit Platos Bericht wurde Atlantis in mehr als 2000 Büchern geschildert und lokalisiert, als ein Garten Eden und Nabel der Welt, als Urheimat aller Zivilisation, überall und im Nirgendwo. In zwei weiteren Büchern, die jetzt erschienen, werden erstmals greifbare Spuren verzeichnet: Die Atlantis-Sage hat demnach schemenhaft die Erinnerung an die früheste Hochkultur Europas bewahrt -- an das Insel-Staatswesen, das vor dreieinhalb Jahrtausenden im Mittelmeer unter dem sagenhaften König Minos von Kreta florierte.

Gestützt auf archäologische Grabungsbefunde, hat der Ire J. V. Luce,

* J.V. Luce: »Atlantis«. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach; 344 Seiten; 44 Mark.

** James W. Mavor: »Reise nach Atlantis«. Verlag Fritz Molden, Wien, München, Zürich; 332 selten; 22 Mark.

Professor für klassische Philologie am Trinity College in Dublin, behutsam und akribisch aus Mär und Mythos die Geschichte vom Glanz und Ende des minoischen Reiches rekonstruiert*. Mit dem Übereifer des Außenseiters dagegen prophezeit der an den Grabungen beteiligte Amerikaner James W. Mavor, Ingenieur am Ozeanographie-Institut Woods Hole (US-Staat Massachusetts), auf der Kreta benachbarten Vulkaninsel Thera »würden kostbare Relikte von Atlantis beinahe unversehrt zu finden sein -- gleichsam ein zweites, prächtigeres Pompeji**.

Daß Kreta im Altertum eine Insel des Wohlstands und Kunstsinns war, bezeugen die Funde der Archäologen -- mächtige Palastruinen und zarte Keramiken. Reste von Wandbildern aus der Bronzezeit zeigen lebensgroß streng geordnete Prozessionszüge und Zirkusspiele, bei denen Jünglinge in knappem Schurz und barbrüstige Mädchen .sich von Stieren zum Salto mortale hochschleudern ließen -- zum Ergötzen ebenso barbrüstiger Damen, die langgelockt in Logen saßen.

Weshalb freilich diese sinnenfrohe Kultur plötzlich erlosch, weshalb die Tempel olfenbar wie über Nacht verfielen und die Städte Kretas verlassen wurden, blieb lange Zeit unaufklärbar. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten fanden die Wissenschaftler immer mehr Indizien dafür, daß um 1500 vor Christus eine Naturkatastrophe das Inselreich verwüstet haben mußte.

Der Ausgangspunkt ·dieser Katastrophe aber, so ermittelten Seismologen und Ozeanographen, war das 120 Kilometer nördlich von Kreta gelegene Thera: In einer Serie gewaltiger Eruptionen ist vor 3500 Jahren der Thera-Vulkan explodiert Bis zu 66 Meter hoch bedecken noch immer Bimsstein und Asche, die damals der Kraterschlot ausstieß, die Insel; und Flugasche wurde, wie Bodenproben zeigen, über ein Gebiet von 300 000 Quadratkilometern Im Mittelmeer geschleudert.

Verheerender war womöglich noch, daß der 83 Quadratkilometer umfassende Mittelteil Theras, als der Vulkan erschöpft war, in die leergeblasene Lava-Höhle stürzte; fast senkrecht fällt die Bruchstufe 450 Meter tief ab, bis 200 Meter unter den Wasserspiegel (siehe Graphik). Der Einbruch dieser Landmassen löste ein Seebeben aus, dessen Riesenwogen alle Küstengebiete des östlichen Mittelmeeres hoch überfluteten

In den Schreckensstunden, die Plato in seiner Atlantis-Erzählung beschwor, waren wahrscheinlich Kretas Schiffe gekentert, die Ölbäume und Rebstöcke entlaubt, die Felder verschüttet, die Häuser eingestürzt und Tausende der Bewohner erschlagen, erstickt oder ertrunken. Nur in Kretas Residenz Knossos, geschützt gelegen, fanden die Archäologen aus der Zeit kurz nach dem Desaster Spuren städtischen Lebens Die meisten Relikte auf Kreta sind jedoch von nachfolgenden Siedlern zerstört worden.

Ein umfassendes Bild vom Kulturstand und Alltag des minoischen Volkes hoffen die Forscher erstmals dort zu gewinnen, wo die Verwüstung am heftigsten ·war -- auf Thera. Schon Mitte des vorigen Jahrhunderts kamen auf der Vulkaninsel antike Trümmer zutage, als mächtige Lager von Asche abgebaut und zu Zement verarbeitet wurden; Thera lieferte damals Baustoff für den Suezkanal.

Aber erst 1967 begannen Griechen und Amerikaner auf Thera systematisch zu graben. Als wichtigsten Befund meldete das Team, die Asche habe feuerfeste Materialien aus minoischer Zeit, Mauern und Fresken, Krüge und Mahlsteine, ungewöhnlich gut konserviert.

Vorerst können die Archäologen allerdings nur an solchen Stellen bis auf die 3500 Jahre alte Siedlungsschicht vorstoßen, an denen die Aschendecke von Wind und Regen und von den Zementbrennern schon nahezu abgetragen worden ist Um etwa einen ganzen Stadtbezirk mit Tempeln, Schatz- und Waffenkammern, Bädern, Arenen und Tontafel-Archiven freizulegen, müßten die Forscher Bulldozer und Feldbahnen einsetzen -- oder, wie Ingenieur Mavor vorschlug, die Bims-Berge mit Stollen unterhöhlen.

Solche Aktionen indes können in absehbarer Zeit kaum unternommen werden. Denn Griechenlands nationalistisches Regime treibt, wie jüngst die Schweizer »Tat« konstatierte, »ein permanentes Intrigenspiel gegen die ausländischen Archäologen«. Den für Theras Geschichte begeisterten US-Forscher Mavor etwa schloß Professor Spyridon Marinatos, Chef der Altertümer-Verwaltung in Athen, von weiteren Grabungskampagnen aus; der Amerikaner hatte, um Mäzene »zu interessieren, erste Fundberichte an die internationale Presse gegeben.

Den griechischen Archäologen wiederum fehlen für eine auf Thera notwendige Großgrabung Geld und technisches Gerät. Auf das zweite Pompeji, so scheint es, werden die Touristen noch etwas warten müssen.

Zur Ausgabe
Artikel 81 / 85
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren