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NEW YORK Schau und Geschäft

aus DER SPIEGEL 14/1964

Neunundneunzig Jahre nach seinem Tod, am 22. April 1964 um zehn Uhr morgens, wird, sich Abraham Lincoln den Amerikanern wieder präsentieren, als sei er auferstanden:

Der Bürgerkriegs-Präsident, lebensgroß aus Plastik modelliert, wird »sitzen, stehen, seine Zunge und seine Lippen bewegen, sich räuspern, die Stirn runzeln, lächeln, skeptisch, traurig oder glücklich dreinblicken, eine oder beide Augenbrauen hochziehen«, so jedenfalls versichern seine Konstrukteure. Beliebig oft, jeweils sechs Minuten lang, wird er seine historische Gettysburg -Ansprache an das amerikanische Volk richten und dann »zu seinem Stuhl zurückschreiten... von einem Kontrollraum her gesteuert wie eine Rakete«. Wenn er sich wieder hinsetzt, »brechen Chöre in Gesang aus«.

Der Plastik-Lincoln ist eine der Attraktionen der New Yorker Weltausstellung 1964/65, die in drei Wochen auf einer tausend Morgen großen Riesenwiese, knapp 15 Kilometer östlich von Manhattan, eröffnet werden soll - mit vielfarbig schillernden Wasserfontänen; ihre Bewegungen sollen einer Leitmelodie folgen, die von den 610 Glocken des Glockenspiels am Coca-Cola-Turm intoniert wird: »There is no Business like Show Business.«

Schau und Geschäft sind in der Tat Leitmotiv der »New York World's Fair 1964/65«. Noch tickt im Hauptquartier der Ausstellungsleitung die elektronische Startuhr, die wie in einem Befehlsbunker auf Cape Kennedy Stunden, Minuten und Sekunden des organisatorischen Countdown zählt. Noch ist keiner der Ausstellungspavillons fertig.

Aber schon jetzt beginnt die Welt -Schau - laut Prospekt »Sinnbild... einer denkwürdigen Synthese von Freundschaft, Menschlichkeit und Hoffnung« - mit einer denkwürdigen Rendite die Hoffnungen ihrer Veranstalter zu erfüllen: Bereits zwei Monate vor ihrer Eröffnung war die New Yorker Weltausstellung, wie die »New York Times« notierte, »der größte Kassenschlager der Geschichte«.

Im Vorverkauf wurden bereits mehr als 28 Millionen Eintrittskarten abgesetzt - so viele, als wäre das halbe deutsche Bundesvolk zur Kasse geströmt. Erlös: rund 140 Millionen Mark.

Allein der Subskriptionsverkauf garantierte mithin schon dreimal so viele Zuschauer (und brachte dreimal so viele Dollars ein), wie zur Weltausstellung in Seattle 1962 insgesamt registriert werden konnten.

Dabei ist die New Yorker Welt-Schau ebensowenig Schau-Spiegel der Welt, wie etwa die alljährliche Baseball-Weltmeisterschaft eine internationale Konkurrenz darstellt: Wie sich bei den Baseball-»World Series« seit nunmehr 60 Jahren - mangels auswärtigen Interesses an dem US-Volkssport - nur amerikanische Mannschaften messen, so gleicht auch das vorgeblich weltweite Ausstellungs-Spektakel in New York, dessen Gesamtkosten- auf vier Milliarden Mark geschätzt werden, eher einem gigantischen inneramerikanischen Werbezirkus.

Mehr als zwei Drittel der hufeisenförmigen Ausstellungsfläche sind chrom - und farbenfreudigem Reklame-Schaugepränge vorbehalten: US-Konzerne, amerikanische Bundesstaaten und amerikanische Kirchen teilen sich 138 von insgesamt 175 Pavillons. 375 amerikanische Aussteller wetteifern mit nur 51 Schau-Teilnehmern aus der übrigen Welt. »Was die Internationalität anlangt«, schrieb das US-Nachrichtenmagazin »Newsweek«, »so ist der Name Weltausstellung Euphemismus.«

Schuld an dieser mangelhaften Welt -Beteiligung ist nicht zuletzt das Verdikt des offiziellen »Internationalen Ausstellungsbüros« (BIE) in Paris, dem es obliegt, über die 1912 beschlossene Weltausstellungs-Konvention zu wachen. Danach

- darf eine Weltausstellung nicht, länger als ein Jahr dauern - New Yorks »World's Fair« wird zwei Sommer lang geöffnet bleiben;

- darf innerhalb eines Jahrzehnts in einem Land nur eine Weltausstellung stattfinden - nach der (offiziell anerkannten) Ausstellung in Seattle von 1962 mithin in Amerika erst wieder von 1970 an;

- dürfen die Veranstalter den ausländischen Teilnehmern keine Standmiete abverlangen - »World's Fair« -Präsident Robert Moses aber forderte 240 Mark Miete je Quadratmeter Ausstellungsfläche.

Da die BIE-Zentrale in Paris die New Yorker Messe als »wilde Ausstellung« abqualifizierte, verzichteten die meisten Länder - so auch die Bundesrepublik - auf einen offiziellen Beitrag. Allenfalls einige Firmen oder die Handelsorganisationen verschiedener Länder steuerten Schaustücke bei: Die Jordanier beispielsweise präsentieren die Schriftrollen vom Toten Meer, die Belgier einige Gassen Alt-Belgiens aus Gips und Pappe, die Franzosen Kunstschätze aus Versailles, ein Duplikat von Maxims Restaurant und eine textilfreudigere Export-Fassung der Pariser Nachtrevue »Folies-Bergère«.

Der einzige deutsche Beitrag stammt aus Westberlin: In einem sparsamen Betonrundzelt von 20 Metern Durchmesser sind Gipsmodelle der Berliner Philharmonie und des Europa-Centers (SPIEGEL 39/1963), Berliner Mode, Berliner Porzellan und Großphotos vom »Leben in Berlin« zur Schau gestellt.

Doch selbst der umfänglichste außeramerikanische Pavillon, Spaniens 850 -Personen-Theatersaal für die Vorführung von Zigeunertänzen, Segovia-Konzerten und »stundenlangen Spanienfilmen (Eintritt frei)« - so die Ankündigung -, ist ein bescheidenes und karg koloriertes Bauwerk im Vergleich zu den Monumental - Schaubuden amerikanischer Firmen.

Einem gewaltigen chromstarrenden Autokühlergrill etwa ähnelt die, zehnstöckige Fassade vor dem 200-Millionen -Mark-Palast der US-Autofirma General Motors. Einer mit 64 Fangarmen himmelwärts greifenden Beton-Krake gleicht der Ford-Pavillon. Und die Büromaschinen-Firma IBM wird werbefilmlustige Besucher bankreihenweise in ein riesiges flachgedrücktes Stahlbeton-Ei hinaufhieven, das auf drei Stahl-Pylonen ruht und an den überdimensionalen Typenkopf einer modernen IBM -Schreibmaschine erinnern soll. Resümierte die amerikanische Fachzeitschrift »Progressive Architecture": »Das schrecklichste Sammelsurium von Musikbox-Architektur, das je an einem Ort errichtet wurde.«

»Marktschreierisches Gehabe eines Straßenhändlers« nannten amerikanische Kritiker die Art, in der die US -Industrie vor amerikanischen Käufern und der Welt posiert. Rar sind, im Vergleich zu früheren Ausstellungen, Darbietungen zukunftsweisenden technischen Fortschritts:

- Der US-Konzern General Electric führt seinen Besuchern die aussichtsreichste Energiequelle der Zukunft vor: eine kontrollierte Kernverschmelzung von Wasserstoff-Atomen bei Temperaturen von einigen Millionen Grad Celsius, wie sie im Innern der Sonne herrschen.

- Die US-Weltraum-Industrie demonstriert - in einem Pavillon der amerikanischen Regierung - mit dem originalgroßen Modell einer Raumstation und zwei Raumfahrtkapseln des Typs »Gemini« den Ablauf eines Rendezvous im All.

- Am IBM-Ei können die Besucher Elektronenrechner bestaunen, die beispielsweise russische Texte fast mit Lichtgeschwindigkeit ins Englische übersetzen.

Zwar soll die Schau - laut Motto - die »Errungenschaften der Menschheit in einem sich ausweitenden Universum«

repräsentieren. Aber Chefmanager Moses schienen moderne technische Apparaturen, wie sie in Brüssel 1958 »mehr als genug« gezeigt worden seien, wenig attraktiv: »Bei uns wissen die Aussteller, daß die Besucher kommen, um sich zu amüsieren.«

In der Tat ist, was im Ausstellungsprospekt als »Olympiade des Fortschritts« avisiert wird, zu einem von Traumregisseuren wie Walt Disney inszenierten Jahrmarkt der Nichtigkeiten geraten.

Von einem 200 Kilometer weit sichtbaren, senkrecht in den Himmel strahlenden Riesenscheinwerfer geleitet, werden die Besucher an »wetterfesten lebensgroßen Dinosauriern aus Plastik« vorbeiflanieren. Sie werden einer Gruppe von mechanischen Küken lauschen, die »mit krächzenden Stimmen singen: 'Wir Küken alle jubilieren, wenn Farmer die Ställe elektrifizieren'«. Und eine mechanische Kuh wird mit melodischer Tonband-Stimme unablässig davon Kunde geben, wie beglückend es sei, »an einem kalten Morgen von einer elektrischen Melkmaschine statt von den kalten Händen des Farmers« gemolken zu werden.

Der US-Staat Wisconsin wird mit der Welt größtem Käse (zwei Meter hoch, drei Meter Durchmesser; Wert: 400 000 Mark) vertreten sein, die Hollywood -Filmindustrie mit den Kulissen zum »Cleopatra«-Filmwerk, vor denen sich jeder Besucher in »filmechten« Kostümen photographieren lassen kann.

Die amerikanische Regierung wirbt um die Gunst des Publikums mit einem Pavillon, in dem dreißig synchronisierte Projektoren auf 132 Bildwänden im Cinerama-Verfahren die amerikanische Historie nacherzählen: In offenen Omnibussen durchfahren die Zuschauer ein Leinwand-Labyrinth und »begleiten Kolumbus, die ersten Siedler, die Pioniere des Wilden Westens und die Einwanderer«, während die Projektionsflächen zur Seite weichen, nach oben oder unten verschwinden oder sich vor den Film-Fahrgästen zu einem Tunnel öffnen.

Noch weiter zurück in die Geschichte wollen die,Ford-Schausteller ihre Besucher führen: In chromblitzenden Kabrioletts durchfahren sie - den von Walt Disney ersonnenen »Tunnel der Zeit«. Urzeittiere, von eingebauten Magnetbändern und Luftpumpen gesteuert, werden vor ihren Augen »grunzen, kämpfen und fressen«. Und plastikhäutige Höhlenmenschen mit Eingeweiden aus Transistoren und Ventilen werden zum Ruhme Fords Felswände bemalen, Tiere jagen und das Rad erfinden.

Noch nie zuvor empfanden sich so viele religiöse Vereinigungen als weltausstellungswürdig: Billy Graham (mit seinem simultan in sechs Sprachen aufführbaren Todd-AO-Film »Der Mensch in der fünften Dimension") ist ebenso vertreten wie die Mormonen ("Der große Tabernakelchor aus Salt Lake City"), die Christliche Wissenschaft ("Stiller Französischer Park zum Lesen und Ausruhen") und der Vatikan mit hauseigenen Münzen, Briefmarken und Michelangelos Pietà. Erläuterte der »Reader's Digest": »Die Pietà wird von vier Standorten aus zu betrachten sein. Die drei unteren Plattformen bewegen sich und nehmen die Besucher auf, die langsam an der Plastik vorbeigeführt werden wollen. Die oberste Fläche bewegt sich nicht. Sie ist für jene bestimmt, die das ergreifende Kunstwerk länger zu betrachten wünschen.«

Nicht nur die Pietà werden die Schaulustigen im Vorbeigleiten betrachten. Im Innern der großen Pavillons sind fast durchweg fahrbare Lehnstühle installiert, und auch auf den Zufahrts - und Verbindungswegen brauchen die Ausstellungsbesucher nicht zu laufen. Eine Armada von glasgedeckten Omnibussen, halboffenen schienenlosen Ausstellungszügen und viersitzigen Mietwagen verbindet das Zentrum der Anlage, das 45 Meter hohe Erdkugelmodell »Unisphere« - in 162 Tagen von schwindelfreien Mohawk-Indianern aufgerichtet -, mit jedem Winkel der rittergutsgroßen »Quadratmeile des Schaugeschäfts« (so der amerikanische TV-Kommentator Chet Huntley).

Gleichwohl müßte, wie ein Elektronengehirn errechnete, auch der vollmotorisierte Messebesucher, wollte er alles sehen, mindestens zwölf Tage lang von frühmorgens bis spätabends unterwegs sein.

Aber die amerikanische Elektronik -Firma RCA offeriert ihren Pavillon -Besuchern ein abermals vereinfachtes Verfahren der Schau-Lust. Des augenzwinkernden Abraham Lincoln am Messestand des US-Staates Illinois oder der glücklichen Kühe und Küken der allamerikanischen Firma Electric Power and Light ansichtig zu werden, genügt es, sich bei RCA in einem Lehnstuhl einzurichten.

Auf riesigen Bildschirmen wird dort zu betrachten sein, was ein Farb-Televisionsnetz mit 200 Kameras auf dem Gelände der World's Fair pausenlos einfangen wird.

Weltausstellungs-Bauten in New York »Grunzen, kämpfen, fressen«

IBM-Pavillon

Kodak-Pavillon

General Motors-Pavillon

Ford Pavillon

Berlin-Pavillon

»Unisphere«, Volkstanzgruppe: Von schwindelfreien Indianern montiert

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