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»Schimpfen ist menschlicher«

aus DER SPIEGEL 30/1975

LINDER: ... nun wird aber auch noch der Trick versucht, Leute, denen man mit sachlichen Argumenten nicht beikommen kann, durch eine dauernde Personalisierung zum Abfall zu erklären ... Ich erinnere Sie an Ihren Prozeß gegen den Journalisten Matthias Walden, wo das Springer-Blatt »Die Welt« in einem Bericht über den Prozeß schrieb, Sie seien in einem schlechtsitzenden Anzug vor Gericht erschienen ... Neulich fiel mir das sogenannte »Deutschland-Magazin« in die Hände, darin macht man sich bereits Gedanken über Ihre Unterwäsche.

BÖLL: Ja, das ist absurd. Das ist absolut irre ... Wo man gar nichts mehr findet, wo man alle Argumente gegen mich schon gebraucht und verbraucht hat -- und ich lebe immer noch

da muß man also anfangen, auf dieser Ebene zu diffamieren; ich röche wahrscheinlich schlecht oder mein Anzug sitze nicht richtig. Ich empfinde das alles wirklich nicht als kränkend, aber als phänomenal: daß man geistige Auseinandersetzungen -- und politische -- an der möglicherweise nicht so ganz korrekten äußeren Erscheinung des Gegners hochzuziehen versucht. Da wird wirklich Abfall produziert. Und ich vermute, daß sehr viele Menschen, die nicht meine Freiheit haben, die das nicht mehr oder weniger souverän über sich ergehen lassen können, regelrecht terrorisiert werden in Büros, großen Betrieben. Das ist eine Perversität und absolut inhuman

LINDER: Diese dauernde Personalisierung wird natürlich weitergehen ...

BÖLL: ... ganz klar, da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Ich will nur noch ein anderes Beispiel nennen: Als Solschenizyn aus der UdSSR ausreiste und zu uns in die Eifel kam, da reiste gleich eine riesige Schar von Journalisten an, und wir mußten die Rolläden runtermachen, weil wir dort in der Eifel keine Gardinen vor dem Fenster haben, das ist dort nicht nötig unter guten Nachbarn. Und die Journalisten kamen nun bis vor die Fenster. irgend etwas mußten sie ja rauskriegen, und deshalb haben wir die Rolläden runtergemacht. und die meisten Journalisten haben das auch verstanden.

Es war nun wieder ausgerechnet »Die Welt«, und nur »Die Welt«. und es war typisch: Diese »Welt«-Leute haben also durch die Rollädenritzen geguckt und dann entdeckt, daß für ihren Geschmack in einem Zimmer die Tapete nicht so gut geklebt war, und das haben sie geschrieben. Verstehen Sie? Ich nenne Ihnen diese Details. um diese Philosophie der Abfälligkeit bildhaft zu machen ...

Da kamen also, nach der Ankunft Solschenizyns, riesige Blumensträuße aus der ganzen Bundesrepublik, ich glaube, es waren siebzig, und meine Frau hat dann später die Blumen in Einmachgläser gestellt -- und das wurde ihr dann auch sofort angekreidet; wobei ich mich dann natürlich frage, ob diese Herren, die so etwas schreiben, siebzig Blumenvasen zu Hause haben. Alle anderen Journalisten haben sich fair und taktvoll verhalten, haben natürlich gewußt. mein Gott, in welcher Situation stecken die Bölis, da kommt Solschenizyn Hals über Kopf aus Rußland in die Eifel und ... verstehen Sie? Ausgerechnet diese Springer-Leute mußten durch die Rollädenritzen linsen und durchs Schlüsselloch. Ich weiß gar nicht, was die alles noch entdeckt haben. Die Beine unserer Sessel gefielen ihnen, glaube ich, nicht, die waren so fünfzehn Jahre alt.

Verstehen Sie? Das nenne ich eine Attitüde der Abfälligkeit. Jetzt stellen Sie sich aber mal Menschen vor, die nicht frei und unabhängig sind wie wir, die ihr Geld nicht frei und unabhängig von gesellschaftlichem Umgang verdienen wie wir -- wie man die fertigmachen könnte! Und zwar mit Lächerlichkeiten. Da fängt die Abfälligkeit an. ich habe die Beispiele genannt, um die Denkweise dieser Leute zu bezeichnen.

LINDER: Da wird, finde ich, auch schon Illegalität kreiert.

BÖLL: ... natürlich. Es gibt ja kein Gesetz, das mir vorschreibt, wie mein Anzug sitzen muß oder wie meine Schuhe geputzt sein müssen. Das Modell der Verächtlichmachung oder Abfälligmachung waren erst die Jugendlichen mit langen Haaren; dann wurden lange Haare modern, es galt als schick ... verstehen Sie? Aber Feindseligkeiten wegen ihrer Haare haben Hunderttausende junger Leute in kleinen und großen und mittleren Städten, in Dörfern, an Schulen, in Lehrwerkstätten zu spüren bekommen. Da wird am Modell äußerer, modischer, künstlicher Standards Kriminalität geschaffen oder Kriminalisierung praktiziert.

LINDER: Daß Sie nun auch Opfer dieser Kriminalisierungsversuche geworden sind, hängt vielleicht damit zusammen, daß alles, was Sie geschrieben haben, diese Abfälligkeit und Asozialität ausströmt oder verteidigt oder zum Gegenstand gemacht hat.

BÖLL: Na ja, es gibt diesen Vorwurf, ich und auch andere Autoren hätten die große, weite Welt nicht in ihre Arbeit mit einbezogen. Das ist einer der lächerlichsten Vorwürfe. Denn die große, weite Welt ist überall gleich und überall gleich langweilig.

Ich vermute, daß die Wut dieser Kriminalisierer, was meine Person betrifft, darauf zurückzuführen ist, daß ich statistisch gesehen natürlich ein wohlhabender Mensch bin und viel Geld verdiene, gelegentlich, und berühmt bin, aber mich der Pflicht, mich picobello anzuziehen und so rumzulaufen, wie das kleine Fritzchen sich einen Erfolgsschriftsteller vorstellt, entziehe. Es ist für die wahrscheinlich viel provozierender, wenn jemand, der es sich leisten könnte, einen schlechtsitzenden Anzug trägt -- was übrigens nicht einmal stimmt.

LINDER: Übrigens, fällt mir gerade ein, betrifft das auch schon das Vokabular, zum Beispiel Ihres: daß Sie also das Wort »beschissen« gebrauchen, als Schriftsteller, gar als Nobelpreisträger ...

BÖLL: ... ja, Sie meinen diese Rede in Berlin ... Es war eine improvisierte Rede, in der ich einmal das Wort »beschissen« gebraucht habe -- und das hat die Leute irrsinnig aufgeregt. Das finde ich auch wiederum phänomenologisch hochinteressant, wie ich auch die Auffassung des CDU-Mannes Carstens über parlamentarische Gewohnheiten vergleichbar interessant finde. Herr Carstens findet ja Schimpfen und grobe Ausdrücke schlecht, nur: Er denunziert und diffamiert in einem nasalen Herrenton permanent. Während etwa Wehner das Gegenteil tut. Er schimpft und sagt etwa: Sie Schwein oder irgend so etwas.

Ich finde das Schimpfen und auch das Gebrauchen eines Kraftausdrucks viel menschlicher, viel direkter, und keineswegs denunzierend. Eine Beschimpfung, eine Beleidigung ist eine relativ klare Sache, dagegen kann man sich wehren und vor Gericht gehen. Aber: Dieses nasal vorgetragene, herrentonhafte Denunzieren ... finde ich viel schlimmer, und da kommen wir wieder auf Stil und Abfälligkeit: Das eine kann man dann als sehr gepflegte und elegante Sprache binstellen, während der gute Wehner, den ich für einen ungeheuren Rhetor halte, dann hin und wieder ausfällig wird -- was ich viel menschlicher finde und wohltuender.

LINDER: Hängt das nicht wiederum auch zusammen mit einer falschen Vorstellung von Emotionalität«? Emotion zu haben, das ist ja nichts Negatives an sich.

BÖLL: ... da kommen wir auf einen wichtigen Punkt. Emotional zu sein gilt ja fast schon als Kranksein, und wenn Sie mal analysieren, in welchen Zusammenhängen den. Menschen Emotionalität vorgeworfen wird, dann kommen Sie auf die wahnsinnigsten Dinge.

Ich erinnere mich an eine Fernseh-Diskussion von Herstatt-Gläubigern, also von Menschen, die man um erspartes Vermögen betrogen hatte ... Und diese Menschen waren natürlich erregt, verständlicherweise. Was wurde Ihnen aber jetzt gesagt? Sie sollten die Emotionen weglassen. Verstehen Sie? Wenn ich Sie jetzt mit einem Messer in den Arm steche, dann dürfen Sie alles. nur nicht emotionell werden.

Das gehört eigentlich in den Zusammenhang Gewalt -- noch nicht definiert -, die darin besteht, Sie ganz simpel hereinzulegen, die darf keine Emotionen hei Ihnen hervorrufen Jetzt versuchen Sie es mal umgekehrt: Versuchen Sie eine Bank hereinzulegen. und wären es nur 35 Prozent von 2000 Mark -- man wird Ihnen von drei Lampen zwei wegpfänden; eine wird man Ihnen lassen, weil Sie arbeiten müssen und dürfen; und natürlich, wenn der Gerichtsvollzieher dann kommt und holt die beiden Lampen -- in den meisten Fällen tut er es sehr ungern -, so kann man das auch als Gewalt bezeichnen, aber Sie dürfen gegenüber der Bank nicht nur keine Gewalt anwenden, nicht einmal Emotionen dürfen Sie haben. Man beraubt Sie nicht nur Ihres Vermögens, auch Ihrer Gefühle.

Diese Anti-Emotionalitäts-Philosophie hängt wiederum zusammen mit der Geruchlosigkeit, mit der Fertigkeit und so weiter ... Eigentlich ist es eine Todesanzeige. Jemand, der keine Emotionen mehr hat, ist tot. Denn Emotion haben heißt ja wohl: bewegbar sein, bewegt sein, erregt sein, und das alles gilt schon als Krankheit. In diesem Zusammenhang ist natürlich ein emotioneller Mensch oder einer, der Emotionen hat. auch äußerst abfällig

LINDER: In diesen ganzen Problemkreis gehört nun natürlich auch die Moral. Wir haben schon darüber gesprochen, daß Schriftsteller hierzulande als moralische Instanzen angesehen werden. Im Augenblick gibt es aber, wenn ich das richtig beobachte, einen Umschwung, daß den Schriftstellern gerade dies vorgeworfen wird. Helmut Schelsky hat Sie soeben als »Kardinal und Märtyrer« bezeichnet .

BÖLL: ... lassen Sie mich gleich etwas sagen: Kardinäle werden ja ernannt; und außerdem hat jeder Kardinal einen Apparat, einen regelrechten Machtapparat, während ein Schriftsteller, mag er noch so bekannt sein, nicht einmal Ministranten hat; Herr Strauß zum Beispiel hat hauseigene Publikationsinstrumente, in denen seine Ministranten und Prälaten kräftig wirken und denunzieren. Es gibt keine selbsternannten Kardinäle; und ich glaube nicht, daß ich mich auch jemals dazu ernannt habe. Daß eine Öffentlichkeit, eine Gesellschaft, auch ein Staat keine moralische Instanz mehr hervorbringt, die sensibel funktioniert ... das finde ich sehr viel beunruhigender.

Es gibt ja dieses Wort vom Gewissen der Nation, das Graß und ich und andere sein sollten -- das halte ich für lebensgefährlichen Wahnsinn; das Gewissen der Nation ist eigentlich ihr Parlament, ihr Gesetzbuch, ihre Gesetzgebung und ihre Rechtsprechung. das können wir nicht ersetzen und das maßen wir uns auch gar nicht an. Insofern ist das zwar etwas witzig formuliert, »Kardinal und Märtyrer«, und zum Teil zutreffend, was eine Rolle betrifft, in die man mich und andere gedrängt hat; aber das ist eine zutiefst undemokratische Entwicklung, an der ich mich unschuldig fühle, so wie die anderen Autoren keine Schuld daran haben.

Insofern bin ich Herrn Schelsky regelrecht dankbar, daß er dieses Image zerstört. Aber er sollte sich gleichzeitig überlegen, wie solche Bilder entstehen; wie ein Mensch, der eigentlich nur ein Schriftsteller ist, in eine solche Rolle gedrängt werden kann, und warum er immer wieder von allen Seiten aufgefordert worden ist, diese Rolle zu übernehmen. Ich habe sie nicht übernehmen wollen. Mein Fehler mag sein, daß ich mich zwar nicht in die Rolle eines Kardinals und Märtyrers habe drängen lassen, wohl aber in die Rolle desjenigen, der hin und wieder Zeitgeschehen kommentiert, und zwar auf seine Weise -- dann entstehen solche Instanzen.

Ich bin froh, wenn ich diese Instanz nicht mehr darstellen muß. Und was den Märtyrer betrifft: Als solchen fühle ich mich nicht; nur ist es so, daß, wenn man sich ein solches Bild oder Bildchen gemacht hat, man es natürlich andauernd beschießen muß.

Was einen Soziologen von der Intelligenz und dem Range Schelskys beunruhigen müßte, ist nicht meine Person, sondern die Tatsache, daß es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Es ist ja nicht so, daß irgendein Schriftsteller oder zwei oder drei sich diese Autorität einfach genommen haben. Da ist also etwas leer. Da wird Autorität oder Einfluß von anderen nicht ausgeübt. Und diese Autorität wird dann einfach fast automatisch auf diese paar Leute übertragen, die sich hin und wieder zu Problemen äußern. Das finde ich viel beunruhigender. Und das beunruhigt mich mit Herrn Schelsky gemeinsam, daß die Autorität sich selbst zerstört hat und daß relativ unzuverlässige Kräfte wie Schriftsteller, wie Intellektuelle überhaupt an die Stelle moralischer Autoritäten gelangt sind. Das ist doch das Interessante.

LINDER: Man könnte sagen -- so verstehe ich Sie jetzt -: Es ist ein Verfall der öffentlichen Meinung?

BÖLL: Ja. Ich sehe mich wirklich nicht als Autorität.

LINDER: Aber Schriftsteller sind doch natürlich immer auch Moralisten. Aber nicht diese Tatsache finde ich schlimm, schlimm finde ich vielmehr, wenn Moralismus zur Herrschaftsform wird, und wer sich moralisch äußert, will, glaube ich, immer auch Herrschaft ausüben. Die Herrschaft der Schwachen, hätte Nietzsche jetzt gesagt. Moral ist nämlich auch immer ein Urteil, beinhaltet es.

BÖLL: Moralismus verstehe ich eigentlich nicht als Herrschafts-, sondern als Ausdrucksform. Die Frage ist nur: Wie gelangen die Schriftsteller an diese ihnen unterstellte Herrschaft

LINDER: ... ist sie wirklich so völlig unterstellt?

BÖLL: Da bleibe ich bei: Sie ist in dieser Totalität unterstellt. Sicher ist ein Anspruch dabei, aber kein Herrschaftsanspruch.

Der Verfall der öffentlichen Meinung, um auf diesen Begriff zurückzukommen, und der Verfall der öffentlichen Kontrollen ist die Ursache dafür, daß Intellektuelle und Schriftsteller und ähnliche Figuren eine Bedeutung bekommen haben, der ihre reale Macht nie entsprochen hat ...

Ich nenne Ihnen ein Beispiel: den Freispruch für den Euthanasiearzt Dr. Bonn. Das war wirklich eine fast unglaubliche Sache. in diesem Augenblick hätten alle moralischen Autoritäten aufschreien müssen, nicht um Herrn Bonn ins Kittchen zu bringen, es ist ja kein Rachegedanke dabei, sondern ... also sagen wir mal: wenn die katholische Bischofskonferenz über den Schutz des Lebens redet und Euthanasie verwirft, hätte sie und hätten auch die evangelischen Instanzen in diesem Augenblick Alarm schlagen müssen

In dem Fall habe ich also gemeinsam mit Freunden eine Anzeige in verschiedenen Zeitungen aufgegeben, die wir selber finanziert haben. Wir haben also eine moralische Instanz gebildet. Verstehen Sie? Es funktioniert eben nicht. Es funktioniert noch nicht einmal die dauernd proklamierte moralische Autorität der Kirchen in einem solchen Fall. Dann kommen eben diese komischen Intellektuellen und denken, mein Gott, das kann doch nicht so einfach lautlos geschehen ...

Da entsteht nun wirklich Autorität und Anspruch, den wir gar nicht wollen. Wenn die staatlichen Instanzen nicht mehr genug Sensibilität haben, um zu sehen, wie schlimm ein solcher Freispruch ist, und keine Kirche und keine Partei, weder SPD noch CDU noch FDP, den Mut haben zu sagen: nein, das geht nicht, und Verfassungsbeschwerde einlegen und was weiß ich, dann entsteht so eine Leere, die völlige Entleerung der öffentlichen Moral, und es entstehen natürlich Kompetenzen, Instanzen, wie die von Herrn Schelsky geschilderten; aber er sollte nicht die Leute anklagen, die möglicherweise ohne ihren Willen in eine solche Rolle kommen, sondern die Gesellschaft und die Öffentlichkeit analysieren, die diese Instanz nicht mehr haben ...

Ich akzeptiere seine Unruhe über eine Entwicklung, die mich genauso beunruhigt, und ich bin froh, wenn er diese Images zerstört.

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