KINO Schlaflos in Tokio
In einer Hotelsuite über den Dächern von Tokio verbringen zwei Amerikaner zusammen die Nacht: die junge Philosophiestudentin Charlotte und der alternde Filmstar Bob. Sie liegen nebeneinander auf dem Bett, sehen sich an und versuchen, sich gegenseitig in den Schlaf zu reden. Draußen dämmert es. Das ist in diesem Film die blaue Stunde der Romantik.
Die Regisseurin Sofia Coppola zeigt in »Lost in Translation« eine Welt, in der es zwischen zwei Menschen nichts Kostbareres gibt, als den Schlaf zu teilen. Charlotte und Bob leiden an Jetlag, taumeln seit ihrer Ankunft in Tokio durch die Tage, die keinen Anfang und kein Ende haben. Nun, während die Stadt unter ihnen erwacht, schlafen sie ein. Das ist der stille, zarte, gänzlich körperlose erotische Höhepunkt dieses Films.
»Lost in Translation« ist nicht der erste Film über Schlaflosigkeit, wohl aber der erste, der die Melancholie und die depressiven Stimmungen, die die Schlaflosigkeit erzeugt, als Leitgefühl einer neuen Zeit deutet, in der Menschen um den Globus fliegen, aber ihr Körper und ihr Geist nicht mehr mitkommen. »Lost in Translation« erzählt davon, wie wir verlorengehen in dieser globalisierten Welt.
Bob, gespielt von Bill Murray, hat seine besten Zeiten als Schauspieler hinter sich und macht seinen verblassenden Ruhm noch einmal zu Geld, indem er für japanischen Whisky wirbt. Charlotte, gespielt von Scarlett Johansson, ist unglücklich mit einem erfolgreichen Fotografen verheiratet, sie hat ihr Leben noch vor sich, aber sie weiß nicht, was sie daraus machen soll.
Die beiden begegnen sich im überfüllten Aufzug des Hotels. Er fällt ihr auf, weil er größer ist als alle anderen. Sie fällt ihm auf, weil sie blonder ist als alle anderen. Sie sehen sich kurz an. Das Gefühl der Fremdheit macht sie auf den ersten Blick zu Vertrauten. Nichts, so schrieb Ernst Bloch, sei in der Fremde so exotisch wie der Fremde selbst. Coppola erzählt von der Liebe zweier Exoten.
Stundenlang, so scheint es, reden sie in der Sky-Bar des Hotels miteinander, einem Reich zwischen Himmel und Erde, Tag und Nacht. Hinter ihnen, durch ein Panoramafenster, leuchten und funkeln die Lichter der nächtlichen Stadt - voller Verheißung. Dann wagen sich Bob und Charlotte hinaus in die Stadt, sie trinken, tanzen, singen Karaoke, lassen sich von Party zu Party treiben, bis zum Morgengrauen.
Und doch kommt es nie zu einer wirklichen Berührung mit der fremden Welt. Coppola inszeniert Tokio als Stadt des Lichts, die immateriell wirkt, als könnte sie jede Sekunde aufhören zu existieren. Eine Welt des Overkill, der Werbespots auf Häuserwänden, der stets laufenden Fernseher in Hotelzimmern, der allgegenwärtigen Videomonitore in Karaoke-Bars oder Spielhallen. Man kann unendlich viel sehen - aber nichts davon festhalten.
Die ratternde Faxmaschine, über die Bob mitten in der Nacht Nachrichten von seiner Frau erhält, wirkt wie das Relikt aus einer lange vergangenen Zeit. Und wenn Bob ein Paket von FedEx bekommt, es aufreißt und jede Menge Teppichproben auf den Boden purzeln sieht, die ihm seine Frau aus den USA geschickt hat, dann wirkt das wie ein seltener Kontakt mit der physischen Wirklichkeit.
In keinem anderen Jahrzehnt hat sich Hollywood so sehr darum bemüht, andere Völker und Sitten zu verstehen und Bilder für die zunehmende Globalisierung zu finden wie in den vergangenen nuller Jahren. Alejandro González Iñárritus Episodenfilm »Babel«, in dem Brad Pitt einen amerikanischen Touristen in Marokko spielt, erzählt eine weltumspannende Geschichte, in der Afrikaner, Amerikaner und Asiaten am Ende eine große Schicksalsgemeinschaft bilden. »Lost in Translation« aber räumt auf mit der großen Illusion des globalen Dorfes, in dem alle Menschen mehr und mehr zusammenrücken.
Der Mexikaner Iñárritu will erzählen, was im Kopf eines marokkanischen Ziegenhirten vor sich geht, was eine Anmaßung ist. Coppola will keine Völkerverständigung, sie erzählt die Geschichte einer Liebe, die nur möglich ist, weil es keinem von beiden gelingt, Halt zu finden in dieser Fremde, dieser tagelangen Trance zwischen Wachen und Schlafen, zwischen der Sehnsucht nach Heimat und der Neugier auf das Exotische.
Wenn Bob und Charlotte auf dem Bett liegen, blickt die Kamera zunächst von der Decke, mit den Augen Gottes, auf die beiden hinab. Dann begibt sie sich mitten zwischen sie, auf die Höhe des Bettlakens, blickt mit Bobs Augen auf Charlotte und mit Charlottes Augen auf Bob. Der Zuschauer wird zum unsichtbaren Dritten dieser ganz besonderen Liebe.
Der Film selbst wirkt dabei zunehmend wie ein Schlafloser. Mal irrt die Kamera nervös und erlebnishungrig durch das nächtliche Tokio, dann wieder versinkt das Bild in Unschärfe, als würde es wegdämmern.
Und auch das war »Lost in Translation": die Geburt einer Hollywood-Sexgöttin, die dieses Jahrzehnt verdiente - die aufregend schläfrige Scarlett Johansson.
LARS-OLAV BEIER