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GEHIRNTRAINING Schlag ins Dunkel

Was in den USA seit Jahren ein Schlager ist, etabliert sich jetzt auch hierzulande: Entnervte Zivilisationsopfer erholen sich an Mind-Maschines.
aus DER SPIEGEL 13/1989

Die Lightshow findet in der Skibrille statt. Mal schießen hektische Blitzchen, mal blinken Leuchtdioden wie Grenzlaternen an der Straßenbaustelle, mal schweigt das Licht, um gleich darauf zu gleißen.

Das Konzert dazu kommt aus dem Kopfhörer. Ein Heuschreckenchor zirpt die Ouvertüre, das Stakkato klingt wie vom Specht gehämmert, ein Ozean liefert ein Wellencrescendo, und hinter allem klopft das Herz den menschlichen Zweiertakt: puck-puck, puck-puck.

Mit Kabeln und schwarzen Riesenbrillen wie Außerirdische maskiert, kauern sieben Leute auf japanischen Futonmatratzen am Boden und folgen dem seltsamen Orchester - wort- und regungslos. Jede Bewegung könnte die traumwandlerische Starre stören, in die das Licht- und Tonspiel das Publikum versetzen soll.

»Sie wollen entspannen«, sagt Paul Stoiber, 29, der die Impulse für Ohren und Augen von einem Hi-Fi-Turm aus zentral für alle Kunden steuert. »Und das«, versichert der junge Mann, schaffe jeder, der zu ihm ins »Relax Berlin«-Studio komme, »tief, total und zuverlässig in 40 Minuten«.

Das »Relax Berlin« ist das erste deutsche Fitneß-Zentrum fürs Gehirn. Was in den USA im Zuge der New-Age-Mode unter Bezeichnungen wie »Brain-Tech« oder »Mind-Machine« bereits zu einem Geschäft explodiert ist wie hierzulande die Sonnenstudios, drängt nun mit fast hysterischen Verheißungen an deutsche und europäische Streßbürger.

»Glück aus der Steckdose«, jubelt die österreichische Trend-Illustrierte »Wiener«, »vergessen Sie Yoga, Meditation, autogenes Training«. »Ein Knopfdruck« genüge, meinen deutsche Zeitgeister in »Tempo«, um »von Depression auf Euphorie« umzuschalten. Die »beruhigenden Klänge und entspannenden Lichtsignale«, die seit Dezember in Berlin-Schöneberg und mittlerweile bundesweit in drei weiteren Brainsalons für rund 30 Mark pro Session zu haben sind, könnten »schon bald Beruhigungspillen und Aufputschmittel ersetzen«, prophezeit »Bild«.

Spechtklopfen, Blitze oder Ameisenkribbeln, alles Stimuli, die solche Wunder bewirken sollen, werden von elektronischen Geräten mit mystisch-mathematisch klingenden Namen wie »MC2«, »D.A.V.I.D.1« oder »Alpha Stim« erzeugt. In einem bestimmten Rhythmus ausgesendet, sollen die synthetischen Zaubereien auch entnervteste Zivilisationsopfer minutenschnell in sanftmütige, frohgelaunte Zeitgenossen verwandeln, die so getunt wieder fit sind für neue Herausforderungen.

Tatsächlich fühlen sich die Berliner Relax-Kunden nach ihrer Session »viel besser als vorher«. Die Eindrücke während der Light- und Soundshow sind sehr unterschiedlich: Die Lichtreflexe, die mit geschlossenen Augen wahrgenommen werden, erscheinen manchen als leuchtend bunte Farbspiele, anderen als filmähnliche Bilder oder traumhafte Szenen.

Die Töne, die Brain-Jockey Stoiber in bestimmten Frequenzen aussteuert, wirken eher im Unterbewußtsein. Die Atmung, hat der gelernte Heilpraktiker beobachtet, werde gleichmäßig und ruhig. Arme und Beine, berichten die meisten Teilnehmer, seien ihnen »so schwer« geworden, als könne man »sie nicht mehr anheben«; andere meinten zu schweben. Allen gemeinsam war während der Computer-Meditation ein Bewußtseinszustand ähnlich dem kurz vor dem Einschlafen und der völlige Verlust des Zeitgefühls.

Die Erklärung für die Wirkungsweise der Wundergeräte ist teils wissenschaftlich, teils spekulativ, der Erfolg dementsprechend umstritten. Erwiesen hat sich schon in den fünfziger Jahren, daß die Aktivität der Hirnwellen durch optische und akustische Reize beeinflußbar ist. Auf bestimmte, gleichmäßig vorgegebene Frequenzen kann sich das Gehirn nach einer Weile einschwingen; so läßt es sich vom hellwachen Tageszustand (Beta-Wellen von 12 bis 30 Hertz) runterfahren in die entspannteren Alpha-, Theta- und Delta-Regionen (7 bis 12, 4 bis 8 oder 0,5 bis 4 Hertz).

Überprüfbar ist das Zurückschalten allerdings nur schwer. Lichtblitze allein führten bisher im EEG nur selten zu einer meßbaren Anpassung der Gehirnwellen an die vorgegebene Frequenz. Um wieviel drastischer die Werte ausfallen, wenn die akustische Stimulation hinzukommt, erforschen derzeit Wissenschaftler und Ärzte an der Technischen Universität Wien. Ob die subjektiv empfundene Entspannung also mehr vom Licht- und Tonkonzert oder vom Glauben daran abhängt, läßt sich nicht genau sagen.

Kunden, die nach einem anstrengenden Arbeitstag per Knopfdruck wieder fit werden wollen, ist das allerdings oft egal. Die Musikerin Irina Diebold, 30, hat ihre Schlafstörungen erfolglos mit Meditation und Hypnose bekämpft; nach der Entspannungsübung auf der Relax-Matratze fand sie wieder zur nächtlichen Ruhe. Künftig will sich die nervöse Raucherin zu Hause selber verkabeln, mit einem eigenen »MC2« in Walkman-Größe, in dem sie zwischen zehn programmierten Beruhigungsshows auswählen kann.

Der Informatikstudent Olaf Draeger, 25, fühlt sich mit Hilfe von Flackerlicht und -ton »einfach gut drauf": »Die Hektik fällt ab, und ich bin locker und aufnahmebereit bis in die Nacht.«

Der Effekt des Brainbuilding, meint Christoph Bergmann, 37, Neurologe und Psychiater am Berliner Krankenhaus Moabit, sei dem autogenen Training vergleichbar. Auch Bergmann vermag die exakte Funktionsweise der Mind-Machines nicht zu erklären; anders als bei dem natürlichen Entspannungsverfahren, das der Arzt mit über 3000 Patienten einstudiert hat, stelle sich die Tiefenwirkung, die sonst stark vom Schüler abhänge, durch die Geräte jedenfalls »mit großer Regelmäßigkeit wie von selber ein«.

Der Facharzt, alternativen Heilmethoden durchaus zugetan, arbeitet im Krankenhaus in der Selbstmordintervention. Er würde die Maschinen gern »als Entspannungshilfe vor therapeutischen Gesprächen« einsetzen. Doch arrivierte Kollegen, der Apparatemedizin sonst sehr verhaftet, wagen sich an die weitgehend unbekannten Relaxcomputer nicht heran.

Das Mißtrauen wird gesteigert, weil die Brainstudios es nicht bei der discoähnlichen Light- und Sound-Berieselung belassen. Als Erlösung vom Streß und zur Förderung der Intelligenz bieten die Technikgurus darüber hinaus ein Verfahren an, das bisher nur in der medizinischen Therapie eingesetzt wurde: die Elektrostimulation.

Elektrische Impulse im Mikroamperebereich können über Elektroden direkt ins Hirn gefunkt werden. Am Ohrläppchen angebracht, erzeugen sie äußerlich nur ein sanftes Kribbeln, aber in den grauen Zellen lösen die Stromstöße physikalische Reaktionen aus. Die Produktion körpereigener Stoffe, die etwa bei Schmerz oder Erregung anläuft, kann auf diese Weise künstlich angekurbelt werden.

Seit Jahren experimentieren Schmerz- und Suchttherapeuten wie die britische Ärztin Meg Patterson mit der »neuroelektrischen Therapie«. Beim Drogenentzug erzielte die Medizinerin Erfolge: Durch die Stimulation schmerzhemmender Opiate im Gehirn wurden die Entzugserscheinungen weitgehend reduziert*.

Künftig kann aber nun jeder, den der Schuh oder die Seele drückt, nach »kurzer Einweisung durch medizinisches Fachpersonal« (Werbeprospekt) Elektrostimulationsgeräte wie den »Alpha Stim« erwerben - für 2200 Mark beim Heidelberger »Brain Tech«-Versandhandel. Licht- und Toncomputer sind ohne jede Einführung zu Preisen zwischen 1200 und 20 000 Mark erhältlich.

Was dem Buschmann Rassel und Bambusflöte, meint Rudolf Kapellner, 35, Leiter des Wiener Esoterikzentrums »Focus«, könne dem modernen Menschen künftig sein »Mind-Xpander« sein. Sobald die Stimmung vom Stimulator kommt, erhofft sich der Psychologe und Computertechniker »revolutionierende Veränderungen für unsere gesamte menschliche Kultur«. »Nach Belieben« könne der Mensch dann womöglich »verschiedene Bewußtseinszustände aufsuchen«.

Gerade die freie Verfügbarkeit der neuen Muntermacher - »Alles was Ihr Hirn begehrt« (Brain-Tech-Werbung) - lehrt andererseits das Gruseln. Die einzige Beschränkung, die der kommerziellen Nutzung der Gehirntrainer bislang entgegensteht, ist die freiwillige Selbstkontrolle der Mind-Maschine-Unternehmer. Und die elektronischen Heilsbringer sind verführerisch.

Was mit dem alten Menschheitstraum vom Nürnberger Trichter begann, hört mit dem bereits in Verruf geratenen Superlearning nicht auf. Noch sind Neben- und Langzeitwirkungen nicht erforscht, doch schon kann jeder Geschäftsmann zwischen Reeperbahn und Schönheitsfarm, der sich bisher mit Sonnenstudios eine goldbraune Nase verdiente, auf Brainbuilding-Center umsteigen.

Dabei ist die Arbeit am Hirn weitaus einträglicher als die an der Haut: Der Turbobräuner wirft rund 20 Mark pro halbe Stunde ab, beim Gehirn-Jogging kann von mehreren Kunden auf einmal kassiert werden. Bis zu 32 Entspannungsfreaks gleichzeitig gehen in kalifornischen Zentren auf den Rausch- und Flimmertrip - aufgebahrt auf Liegestühlen wie eine Reisegruppe an der Costa Brava zur Hochsaison.

Nach Fastfood nun Brainfood, nach Bodybuilding jetzt Mind-xpanding - was so fröhlich und harmlos daherkommt, löst apokalyptische Visionen aus.

Einen »Schlag ins Dunkel« vollführen die Hirnartisten nach Ansicht des Hypnosearztes Claus H. Bick, 53, und er fragt, »wer das kontrolliert«. Ähnlich wie bei Patienten in Trance könnten verantwortungslose Betreuer im »Gehirnwaschsalon« ("taz") Manipulationen am schlafenden Objekt vornehmen - von der raschen Zwischendurch-Motivation müder Arbeitskräfte im Betrieb bis zur Anleitung zu kriminellen Handlungen.

Bick, der auch Präsident der »Internationalen Gesellschaft für Cerebrale Dominanzen« ist, befürchtet, daß bei regelmäßiger Anwendung die Brainmaschinen womöglich wie »das große Rauschgift Nr. 2« wirken. Dem allerdings stehen die Erfahrungen der Hirntrainer entgegegen.

Die Geräte, sagt der Wiener Bewußtseinsforscher Kapellner, funktionierten vielmehr »wie Stützräder an einem Kinderfahrrad": »Sie machen sich selbst überflüssig.«

Sobald der Mensch gelernt habe, sich zu entspannen, brauche er »das Pieppiep und das Blink-blink« nicht mehr. Dann, so Kapellners Zukunftsmusik, genüge es, »sich hinzulegen, den Alltag Alltag sein zu lassen und im Kopfhörer einer Mozart-Symphonie zu lauschen«. #

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